Leseprobe - Thienemann

SUSANNE GLANZNER
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Kä pt ' Pi l w
Geschichten vom fliegenden Piratenschiff
Mit Illustrationen von
Eleni Livanios
Thienemann
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Susanne (Sue) Glanzner wurde in Unterfranken geboren. Als Tochter eines Künstlers
und einer Goldschmiedin war gleich klar, dass sie keinen spießigen, sondern lieber einen spaßigen Beruf wählen würde. In der Schule war sie, wie zu erwarten, super in Kunst
und Musik, hat aber – bis heute – nie Zugang zu Mathe oder Chemie gefunden. Nach
erfolgreichem Modedesignstudium und vielen Irrwegen durch ihr ulkiges Leben, lebt sie
heute in Stuttgart als Inhaberin des Kindermodelabels punKiz, schreibt Kinderbücher
und lustige Bücher für Erwachsene, isst am liebsten Pizza und Kinderschokolade und
regt sich jedes Jahr fürchterlich auf, wenn ihr mal wieder niemand einen Adventskalender geschenkt hat.
Weiterer Titel von Susanne Glanzner:
Anna Apfelkuchen – Geschichten aus dem Ganzanderswald
Mehr über unsere Bücher, Autoren und Illustratoren auf: www.thienemann.de
Glanzner, Susanne:
Käpt’n Pillow – Geschichten vom fliegenden Piratenschiff
ISBN 978 3 522 18379 6
Gesamtausstattung: Eleni Livanios
Umschlagtypografie: Doris Grüniger, Buch und Grafik, Zürich
Innentypografie: Bettina Wahl
Reproduktion: Digitalprint GmbH, Stefan Kessler, Stuttgart (Umschlag)
HKS-Artmedia GmbH, Dieter Fröschle, Leinfelden-Echterdingen (Inhalt)
Druck und Bindung: Livonia Print, Riga
© 2015 Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart
Printed in Latvia. Alle Rechte vorbehalten.
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Inhalt
Die Crew der Pusteblume 5
Kapitel 1: Karl Klawukkel und die Sombrerofarm 9
Kapitel 2:Mission Bullauge und Herr Kleiner Zitronenfalter 32
Kapitel 3:Der Poesiedreikampf 48
Kapitel 4:Eine Rettung und die Geschichte vom Traumbaum 70
Kapitel 5:Klara Glockenblumes Windtuchmanufaktur 99
Kapitel 6:Der verlorene Gewitterstab 120
Kapitel 7: Hugo Holle aus der Schweiz 139
Kapitel 8:Nocturna und das Fräulein Angst 159
Kapitel 9:Akiak, Betsie, das Halbtagsschaf, und
eine Einladung 183
Nachtrag
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Für Peter und sein Sofakissen,
die beide maßgeblich an
Käpt’n Pillows Geburt beteiligt waren.
Außerdem für Sven, Michael Ende,
Otfried Preußler und Udo Jürgens,
die ganz bestimmt schon die ein oder
andere Fahrt an Bord der Pusteblume
mitgemacht haben. ♥
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Die Crew der Pusteblume:
Käpt’n Pillow:
Mit vollem Namen Käpt’n Pillow Jan Karel Beatrix der Achte von
Holland. Seines Zeichens Kapitän der Pusteblume, eines fliegenden Piratenschiffes. Außerdem stolzer Besitzer und Träger eines Kapitänshutes in Form eines Kissens, welcher Rückschlüsse auf den
Nachnamen des Kapitäns zulässt: »Pillow« ist englisch und bedeutet
»Kissen« (ausgesprochen wird es P-I-L-O-U).
Käpt’n Pillow ist ein außerordentlich höflicher und manchmal etwas altmodischer Zeitgenosse, was man unschwer an seiner vornehmen, aber auch etwas verstaubten Ausdrucksweise erkennen kann.
Doch gerade das macht ihn so liebenswert und zu einem ganz besonderen Kapitän, dem der Respekt seiner Crew und seines Schiffes
gewiss ist.
Die Pusteblume:
Fliegendes Piraten- und Flaggschiff. Vielleicht fragt ihr euch, wie
viele Schiffe Käpt’n Pillows Luftflotte wohl hat? Denn wenn die
Pusteblume das Flaggschiff (also das Hauptschiff) ist, muss es ja
noch mehr geben. Nun, Käpt’n Pillow sieht das ein wenig anders: Er
findet, als einziges Schiff einer Flotte ist die Pusteblume viel außergewöhnlicher und auffallender als zwischen vielen weiteren Schif-
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fen. Deshalb darf sie die Bezeichnung »Flaggschiff« auch viel eher
tragen, als alle anderen Flaggschiffe. Allerdings ist sich der Kapitän
nicht sicher, wie viele Luftschiffflotten es eigentlich gibt. Oder ob es
überhaupt eine gibt. Aber welche Rolle spielt das schon? Viel wichtiger ist doch, dass die Pusteblume ein ganz besonderes Schiff ist.
Wahrscheinlich sogar das besonderste, das es gibt: Nicht nur, dass
sie durch die Wolken segelt, sehr genau weiß, wo der Weg sie hinführt und wann es angebracht ist, auch einmal außer der Reihe zu
landen, weil sich unter ihr etwas Ungewöhnliches tut ... Nein, die
Pusteblume ist auch noch alles in einem: Zuhause, Transportmittel
und für ihre Crew der schönste Ort der Welt. Wenn ihr im Buch
genau aufpasst, könnt ihr sogar erkennen, dass die Pusteblume es
nicht so genau nimmt mit Raum und Zeit. Wie sie es schafft, von einer Zeit in die nächste zu fliegen, heute durch moderne Städte und
morgen durch Orte, in denen noch nicht mal das Telefon erfunden
ist, weiß keiner so genau. Man muss an dieser Stelle vielleicht erwähnen, dass auch ihrem Kapitän die Zeit gar nicht so wichtig ist. Er
braucht schließlich keine Uhr, um über die Wolken zu segeln.
Tandenstoker:
Arbeitsloses Holzbein, das bereits für Ururgroßvater Käpt’n Pillow
Jan Karel Mathijs den Vierten von Holland angefertigt wurde und
danach zum zweiten Bein von Urgroßvater Käpt’n Pillow Jan Karel
Peer dem Fünften von Holland wurde. Danach machte es Karriere als rechtes Bein von Großvater Käpt’n Pillow Jan Karel Petronella dem Sechsten von Holland und ging hernach in den Besitz von
Käpt’n Pillows Vater, Käpt’n Pillow Jan Karel Claas den Siebten von
Holland, über. Das Wort »Tandenstoker« ist holländisch und bedeutet Zahnstocher. Natürlich ist unser Holzbein viel dicker als ein
Zahnstocher und keiner weiß so genau, wer ihm diesen Namen gegeben hat. Ausgesprochen wird er T-A-N-D-E-N-S-T-O-U-K-R.
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Die rostige Laterne und das quietschende Klappfahrrad:
Wann und wie genau die beiden an Bord kamen, vermag auch
Käpt’n Pillow nicht mehr zu sagen. Vielleicht waren sie schon immer da. Oder vielleicht haben sie sich heimlich an Bord geschlichen, als die Pusteblume auf dem Sperrmüll zwischengelandet ist.
Keiner weiß das so genau. Irgendwann waren sie da, haben miteinander gestritten und nie wieder damit aufgehört. Aber nicht dass
ihr denkt, sie könnten sich nicht leiden. So ist das ganz und gar
nicht. Sie streiten ausschließlich miteinander und können auf keinen Fall getrennt voneinander schlafen. Das ähnelt doch auf eine
gewisse Art einer dicken Freundschaft, findet ihr nicht? Vielleicht ist
es auch ein bisschen so wie bei euren Eltern, vorausgesetzt sie sind
schon mindestens zwanzig Jahre verheiratet.
Herr Kleiner Zitronenfalter, Cup’o’tea und Eloise:
Diese drei stoßen erst im Laufe unserer Geschichten zwischen diesen beiden Buchdeckeln zur Crew der Pusteblume, weshalb man
noch nicht sehr viel über sie sagen kann. Außer, dass Cup’o’tea ein
englischer Name ist, K-A-P-O-F-T-I-I ausgesprochen wird und so
viel heißt wie »eine Tasse voll Tee«. Lasst euch einfach überraschen,
wann und wie sie auftauchen.
Und jetzt los, sonst verpasst ihr die erste Reise ...
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Kapitel 1:
Karl Klawukkel und die Sombrerofarm
»Was für ein herrlicher Morgen!« Der Kapitän des Piratenschiffes,
der kurz nach Sonnenaufgang an Deck kletterte, gähnte. Er reckte
sich in alle vier Himmelsrichtungen, beugte sich dreimal vornüber,
sodass er durch seine eigenen Beine gucken konnte, und wackelte
zum Schluss erst rechts und dann links mit den Zehen in seinen
löchrigen Strümpfen. Das tat er jeden Morgen. Man könnte denken,
es war eine Art Frühsport, doch es steckte viel mehr dahinter: Der
Kapitän war ein klein wenig abergläubisch. Er war sich ganz sicher,
dass der Tag nicht perfekt werden würde, wenn er nicht mindestens
dreimal durch seine eigenen Beine geguckt, oder beim Zehenwackeln mit dem rechten Fuß angefangen hatte. Ob das nun wirklich
seinen Tag veränderte, vermochte niemand zu sagen, denn er hatte sein Ritual noch nie vergessen, ausgelassen oder die Reihenfolge
geändert. Jedoch wollte er das auch gar nicht versuchen, denn so
ist das nun mal mit dem Aberglauben: Wer möchte schon wissen,
ob wirklich etwas Schreckliches passiert, wenn man zuerst mit den
linken Zehen wackelt? Also fängt man lieber gleich mit den rechten
an, so wie man es immer getan hat.
»Zeit für eine Tasse Tee und einen Vanillepudding, würde ich
sagen.«
Der Kapitän sprach mit sich selbst, als er das Zehenwackeln und
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Durch-die-Beine-gucken beendet hatte, und holte ein Tablett mit
seinem Frühstück aus der Kombüse1, das er dort direkt nach dem
Aufstehen vorbereitet hatte. Wieder an Deck stellte er das Tablett
ganz vorne am Bug des Schiffes auf einem kleinen Holztischchen
ab. Das war sein Lieblingsplatz, denn hier war er der Erste, der sah,
wohin das Schiff ihn brachte.
Er holte tief Luft, als wollte er eine Rede halten, doch plötzlich
hielt er inne und schien angestrengt nachzudenken.
»Irgendetwas fehlt doch hier ...«, murmelte er. »Ach herrje ... natürlich ... ich muss mich noch anziehen.« Der Kapitän kicherte ein
wenig über sich selbst, als er an sich heruntersah: Da stand er tatsächlich noch immer in löchrigen Strümpfen, einer langen Unterhose, seinem ausgebeulten Nachthemd und mit langen, weißen,
zerzausten Haaren am Bug seines Schiffes. Sein langer, ebenfalls
weißer Bart stand in alle Richtungen von seinem Gesicht ab und
kitzelte ihn in der Nase, sodass er plötzlich genau siebenundvierzig
Mal niesen musste. Die siebenundvierzigste Nasenexplosion war so
stark, dass sie ihn in hohem Bogen von den Füßen riss und auf seinen Hintern beförderte.
»Heissa Hoppsa ... jetzt bin ich aber wirklich wach. Potzdonner,
Kabeljau und Wurstsalat ...«, schniefte er, während er sich wieder
aufrappelte und die Treppe zu seiner Kajüte hinunterstieg.
Dort tauschte er die lange Unterhose gegen seine dunkelblaue
Kapitänshose. Das ausgebeulte Nachthemd wich einem eleganten,
roten Frack, der an einigen Stellen ein bisschen abgewetzt war und
alles in allem schon bessere Tage gesehen hatte. Danach schlüpfte
er in glänzende, schwarze Lederstiefel, die ihm bis zu den Knien
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Natürlich wisst ihr das längst, aber zur Sicherheit erwähne ich lieber,
dass die Kombüse die Küche eines Schiffes ist. Und dass die Kombüsentüre der Pusteblume dringend geölt werden müsste.
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reichten und eine große, goldene Schnalle am Aufschlag hatten.
Er kämmte sich die langen, weißen Haare, flocht sie zu drei Zöpfen, wusch sich das Gesicht und putzte die Zähne. Danach flocht
er auch seinen langen, weißen Bart zu einem Zopf und verschloss
diesen ganz unten mit einer Art winziger Haarspange, die die Form
eines goldenen, vierblättrigen Kleeblatts hatte. Ganz zum Schluss
setzte er seinen Kapitänshut auf. Zugegeben, der Hut war nicht das,
was man sich im Allgemeinen unter einem Kapitänshut vorstellt. Er
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hatte zwar die breite Krempe eines Piratenhutes, war jedoch in der
Mitte geformt wie ein Kissen und genauso weich ausgestopft, was
ihn viel höher werden ließ, als es ein normaler Hut sonst ist. Dieser
etwas merkwürdige Hut war aber nicht nur ein Zeichen seines etwas schrulligen Modegeschmacks, sondern auch sehr zweckmäßig.
Denn sein Piratenschiff war ja kein gewöhnliches Schiff, wie man
es sonst auf den Weltmeeren herumfahren sieht, sondern ein fliegendes Piratenschiff, das genauso aussah wie ein Wasserschiff, aber
eben hoch oben durch die Luft segelte. Zwar war es noch nie vorgekommen, dass der Kapitän über Bord ging, aber für den Fall einer
solchen Notsituation war er gut vorbereitet, indem er – wie bereits
sieben Generationen Kapitäne vor ihm – den weichen Hut mit der
Form eines Kissens trug. So tat er sich nicht weh, falls er vom Schiff
fiel und auf dem Kopf landete.
Natürlich besaß die Pusteblume auch ein Steuerrad, jedoch ließ
sie sich nicht sehr gerne in ihren Kurs reden und flog da hin, wo
sie gerade wollte. Der Kapitän wusste deshalb auch nie, wo sie als
Nächstes landen würden und ob es dort weich oder steinhart war.
Nachdem er also vollständig angezogen war, blickte er prüfend
in den Spiegel. Zufrieden mit seinem Äußeren zupfte er ein letztes
Mal seinen Frack zurecht und stieg wieder an Deck, wo an seinem
Lieblingsplatz am Bug noch immer sein Frühstück wartete.
Bevor er sich setzte, holte er tief Luft, um mit seinem zweiten Ritual zu beginnen, das er täglich aufs Neue praktizierte.
Er salutierte mit der Hand am Hut und rief, weit oben, über den
Wolken, in den beginnenden Tag hinein: »Ich bin Käpt’n Pillow Jan
Karel Beatrix der Achte von Holland und Kommandeur der Pusteblume. Ich grüße die Sonne, die Wolken und den neuen Tag in
alle vier Himmelsrichtungen, wünsche uns allen spannende Abenteuer, sowie dem Mond, den Sternen und Nachtschattengewächsen
angenehme Träume.«
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Nach seiner kleinen Ansprache setzte er sich an das Holztischchen, trank genüsslich seinen Tee und löffelte Vanillepudding mit
Birnenkompott aus einem hellblauen Blechtöpfchen. Bereits sein
Großvater und danach sein Vater hatten aus diesem Töpfchen jeden
Morgen Pudding mit Kompott gelöffelt. Und auch sie saßen an jenem kleinen Holztisch vorne am Schiffsbug.
Als sein Frühstück beendet war und er das Geschirr abgespült und
aufgeräumt hatte, überlegte Käpt’n Pillow, womit er den Morgen am
liebsten einläuten wollte. Da die Pusteblume nicht den Anschein
machte, als würde sie in nächster Zeit landen oder für eine Pause rechts heran fliegen wollen, beschloss der Kapitän, den jungen
Tag in aller Gemütlichkeit zu beginnen und tat das, was er vor und
nach spannenden Abenteuern am liebsten hatte: Er hängte vorne
am Schiffsbug, direkt über dem Holztischchen, an dem er gefrühstückt hatte, seine große Hängematte von links nach rechts über
die Planken. Hinein legte er sein dickes, weiches Lieblingskissen,
ein Fernrohr, seine Sonnenbrille nebst Sonnencreme, sowie sein
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Lieblingsbuch Hühnergeschichten von Lady Gacker. Er hängte seinen
Kapitänshut an einen Haken neben dem Steuerrad und schwang
sich in sein schaukelndes Lager. Als er eine bequeme Position gefunden hatte, genoss er eine Weile die Aussicht über den Wolken,
die wie eine Schneedecke vor ihm lagen und wunderschöne, watteweiße Gebilde formten. So sah er einen Wolkenschwan vor der
Pusteblume herschwimmen, der sich durch einen Windstoß in ein
Flugzeug verwandelte, schließlich an eine Feder erinnerte und sich
zum Schluss in Luft auflöste. Oder einen Pudel, der plötzlich aussah wie ein Ameisenbär und vor seinem gänzlichen Verblassen noch
schnell zu einer Rose wurde.
Auf diese Weise konnte der Kapitän Stunde um Stunde verbringen, ohne dass ihm langweilig wurde. Heute jedoch war ihm nach
Hühnergeschichten. Obwohl er sein Lieblingsbuch von Lady Gacker
bereits mehr als fünfhundertmal gelesen hatte, musste er jedes Mal
aufs Neue so sehr lachen, dass er davon meistens Schluckauf bekam. Natürlich auch diesmal: Bereits bei der dritten Geschichte der
Hühnerdame hatte er Lachtränen in den Augen und als er begann,
die fünfte Geschichte zu lesen, musste er schon wieder laut hicksen.
»Meine Güte, ist das warm heute hier oben ... hicks ... Pusteblume,
wo fliegen wir denn hin? ... hicks … In die Wüste? … hicks … Am
besten creme ich mir mal die Nase ein, nicht dass ich noch einen
Sonnenbrand bekomme ... hicks ...«
Der Kapitän legte sein Buch zur Seite und rieb sich Sonnencreme
ins Gesicht. Natürlich vergaß er nicht, eine extra Portion auf die
Nase zu rubbeln, sodass er danach aussah wie ein Gespenst, weil er
ganz weiß im Gesicht war. Dann setzte er die Sonnenbrille auf, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf der Haut.
In die angenehme Stille hinein hörte der Kapitän plötzlich ein
gleichmäßig lauter und leiser werdendes Quietschen, ein metal-
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lisches Klappern und ein rhythmisches Klopfen auf den Holzplanken.
»Guten Morgen, Freunde, habt ihr gut geschlafen?«, rief der Kapitän und lugte zuerst über den Rand seiner Sonnenbrille und danach
über den der Hängematte.
Dort erblickte er ein quietschendes Klappfahrrad, eine rostige Laterne und ein altes Holzbein, die der Reihe nach das Oberdeck der
Pusteblume betraten. Ob in diesem Fall »betreten« das richtige Wort
ist, weiß ich nicht genau. Der Kapitän wusste es selbst nicht, aber
ihm fiel auch kein besseres ein, also lassen wir es so stehen. Oder
ich beschreibe das Bild etwas genauer: Das quietschende Klappfahrrad fuhr die Treppe nach oben an Deck, während sich die rostige Laterne und das alte Holzbein hüpfend fortbewegten und die Stufen
auf das Oberdeck eine nach der anderen hinaufsprangen.
Das Holzbein hörte auf den Namen Tandenstoker, wie ihr ja
bereits in der Einleitung lesen konntet. Es war über die Jahre und
Jahrzehnte im Besitz vieler würdiger Kapitäne gewesen, doch Käpt’n
Pillows Vater, also Käpt’n Pillow Jan Karel Claas der Siebte von Holland, konnte bereits nicht mehr viel mit ihm anfangen. Schon zu
seinen Lebzeiten pflegten Piraten nicht mehr sich gegenseitig die
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Gliedmaßen abzusäbeln. Stattdessen spielten sie eine ordentliche
Runde Poker um ihre Beute, oder sie veranstalteten eine Tanzgala,
drehten das Glücksrad und organisierten Bingoabende. So kam es,
dass bereits Käpt’n Pillow Jan Karel Claas der Siebte von Holland
das Holzbein nur noch gelegentlich zum Bingo oder zum Pokern
trug. Immer dann, wenn es von Vorteil war, neben einem As im Ärmel auch noch ein drittes Bein zu haben. Aber wirklich gebraucht
hätte er es eigentlich nicht.
Seit nun unser Käpt’n Pillow Jan Karel Beatrix der Achte von
Holland der Kommandeur der Pusteblume war, war Tandenstoker
gänzlich arbeitslos und ziemlich gelangweilt. Das hatte zur Folge,
dass das Holzbein den ganzen Tag an Deck hin- und herhüpfte und
jeder, der es nicht kannte, beinahe verrückt wurde von dem dauernden Geklopfe auf den Holzplanken. Gott sei Dank hatte sich
der Rest der Crew bereits vor Jahren daran gewöhnt und nahm das
dauernde Pock-Pock-Pock gar nicht mehr wahr.
Natürlich wäre es auch möglich, dass das quietschende Klappfahrrad und die rostige Laterne das nervige Klopfen nur deshalb
nicht wahrnahmen, weil sie immer viel zu sehr in ihre Streitereien
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vertieft waren, als dass sie außerhalb dessen noch irgendetwas anderes mitbekommen hätten. Worüber ein Klappfahrrad und eine
Laterne streiten können, wollt ihr wissen? Das kann ich euch leider
ebenfalls nicht beantworten, denn es verblüfft mich selbst. Immerhin haben die beiden ja keinerlei gemeinsame Interessen, über die
es sich lohnen würde zu streiten. Andererseits ... vielleicht liegt es
auch genau daran.
»Ist das nicht ein herrlicher Tag, Freunde?« Käpt’n Pillow streckte sich. »Die Wärme der Sonne dringt durch alle Poren und seht
nur: Beinahe alle Wolken haben sich aufgelöst und man kann sogar
Land unter uns erkennen. Potzdonner, ich glaube, die Pusteblume
hat uns tatsächlich in die Wüste geflogen. Alles braun da unten.
Deshalb ist es auch so heiß. Wo sind wir wohl? Moment, fragen wir
den Kompass ...«
Der Kapitän sprang aus der Hängematte und schob das Holztischchen am Bug zur Seite. Dahinter kam eine große Kurbel zum
Vorschein, die mit einem Seil in ihrer Position gehalten wurde. Er
holte seinen Hut vom Haken und setzte ihn auf den Kopf. Danach
löste er das Seil und kurbelte mit beiden Händen, bis vor dem
Schiffsbug etwas nach oben trat, das aussah wie eine riesengroße
Lupe. Mitten auf die Lupe war eine Weltkarte gezeichnet. Rechts
und links befanden sich unzählige kleine Rädchen, an denen
Käpt’n Pillow sich jetzt zu schaffen machte. Es ächzte, quietschte
und hupte. Als der Kapitän die Lupe so eingestellt hatte, dass das
Land unter ihnen direkt in ihrem Zentrum lag, erschienen an ihrem oberen Rand die Buchstaben, auf die er gewartet hatte: »M – E –
X – I – K – O. Mexiko. Wir sind in Mexiko. Großartig. Hier waren wir nicht mehr, seit Karl Klawukkel, der alte Haudegen, seine
Plantage für Sombreros eröffnet hat. Das muss mindestens zehn
Jahre her sein. Vielleicht auch zweiundvierzig Monate ... so genau
weiß ich das nicht mehr. Aber wenn wir schon mal da sind, sollten
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wir ihn besuchen und nachsehen, ob seine Hüte gut wachsen. Pusteblume, wir machen einen kleinen Zwischenstopp.«
Kaum hatte der Kapitän seinen Befehl ausgesprochen und kurbelte den Kompass wieder ein, drehte sich das Steuerrad und die
Pusteblume sank langsam durch die lichte Wolkendecke nach unten Richtung Erde. Denn auch wenn es sich nicht gerne in den Kurs
reden ließ, so wusste das Schiff doch, wer das Sagen an Bord hatte,
und nahm die Befehle seines Kapitäns sehr ernst.
So kam es, dass Käpt’n Pillow Jan Karel Beatrix der Achte von
Holland neben einem quietschenden Klappfahrrad, einer rostigen
Laterne und einem alten Holzbein an der Reling stand und sich im
Sinkflug seines Piratenschiffes den warmen Wind um die Nase wehen ließ.
Währenddessen kletterte unten ein kleines Mädchen über mexikanische Dächer und versteckte sich vor kläffenden Hunden, die nach
ihm suchten. Aber ich will der Reihe nach erzählen und bei dieser
Geschichte sind wir noch lange nicht.
Kurz bevor die Pusteblume also den mexikanischen Boden erreichte, ermahnte Käpt’n Pillow seine Crew, die Sicherheitsvorschriften
einzuhalten. Denn so ruhig die Pusteblume sonst in der Luft liegen
mochte, mit dem Landen hatte sie so ihre Schwierigkeiten. Das ein
oder andere Mal waren sie bereits auf Kirchturmspitzen oder Dachfirsten gelandet, sowie an Fahnenmasten, Schornsteinen, Gipfelkreuzen und Fernsehantennen hängen geblieben. Meistens konnte
der Kapitän durch geschickte Navigation und lautes Zurufen von
Richtungsanweisungen das Schlimmste verhindern. Nur dagegen,
dass die Pusteblume nie ausreichend bremste, bevor sie landete,
war er machtlos. Und so holperte und polterte das Luftschiff auf
seinen verschiedenen Landebahnen dermaßen auf den Boden, dass
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in manchen Regionen die Seismografen2 bereits Erdbebenwarnung
verkündeten.
Aber wofür hatte man schließlich einen Kapitän an Bord? Kurz
bevor die Pusteblume zu ihrer Landung ansetzte (man könnte es
eigentlich auch Absturz nennen), salutierte der Kapitän und rief seiner Mannschaft zu, was zu tun war: »Tandenstoker, bitte in deine
befestigte Holzkiste und nicht vergessen, den Deckel zu schließen!
Laterne und Klappfahrrad bitte zügig, und ohne Umweg, aufs Unterdeck in die Kombüse unter den Kompottschrank. Dort bitte auch
gleich nachsehen, ob ich die Schranktüren fest geschlossen habe.
Nicht auszudenken, wenn die Gläser mit dem Birnenkompott herauspurzeln. Wir bekommen erst im Frühjahr Nachschub. Käpt’n
Pillow, auf den Kapitänssessel hinter dem Steuerrad und anschnallen. Ach so ... das bin ich ja selbst. Die Notausgänge befinden sich
rechts und links neben den Segeln, am Bug und am Heck. Die Wege
dorthin sind mit signalroten Pfeilen gekennzeichnet und die Rutschen pusten sich von selbst auf, falls sie nötig sein sollten.«
Der Kapitän deutete in die Richtungen, in denen die Wege mit roten Pfeilen auf dem Boden markiert waren. Dabei sah er ein wenig
aus, wie die Stewardessen in den Flugzeugen, die vor dem Start erklären, was die Passagiere in einem Notfall zu tun haben. Vielleicht
kennt ihr das schon von Ferienreisen mit euren Eltern oder aus dem
Fernsehen.
Bevor Käpt’n Pillow sich in seinen Kapitänssessel setzte und anschnallte, beendete er seine Anweisungen mit der ihm anerzogenen
Höflichkeit. Er verbeugte sich, schlug die Fersen zusammen, sodass
es laut knallte, und rief: »Viel Glück und vergnügsame Landung
Seismografen sind Geräte, die Bewegungen und Erschütterungen des
Erdbodens erkennen, uns damit vor Erdbeben warnen und die Stärke
eines Erdbebens messen können.
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wünschen Käpt’n Pillow Jan Karel Beatrix der Achte von Holland
und das Flaggschiff seiner Luftflotte, die Pusteblume.«
Dann spurtete er über das Oberdeck und sprang in seinen Kapitänssessel, der eigentlich aussah wie ein Ohrensessel. So einer, wie
er bei Großvätern steht, die darin sitzen und Pfeife rauchen. Käpt’n
Pillows Sessel allerdings hatte eine Besonderheit: Er war fest mit
dem Boden des Schiffes verschraubt und hatte einen Anschnallgurt,
den der Kapitän jetzt über seinen Bauch spannte und zuschnappen
ließ. Außerdem zog er aus einem Fach seitlich am Sessel eine Taucherbrille, die er sich über die Augen zog. Wie immer war er keine
Sekunde zu früh. Genau in dem Moment, als der Gurt einrastete
und die Brille saß, polterte es laut und das ganze Schiff schien zu
beben. Dann krachte es und der Kapitän konnte vor dem Bug der
Pusteblume eine dicke Staubwolke aufwirbeln sehen, die ihm direkt
den Sand in die Augen gepustet hätte, wenn diese nicht durch die
Taucherbrille geschützt gewesen wären.
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