Seite 64: Schach-Fragen Ulrich Stock Der Reporter der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT schreibt über Alltagskultur und Musik, aber seit nunmehr elf Jahren auch über Schach. Seine lebendigen Vor-Ort-Reportagen von den Weltmeisterschaften in Brissago, Bonn, Sofia, Moskau, Chennai und Sotschi brachten das Schach einem breiten Publikum näher. Stock lernte das Spiel von seinem Vater und trat als Jugendlicher der Schachgesellschaft Neumünster bei. Inzwischen schiebt der 56-Jährige in der Schachabteilung des FC St. Pauli die Klötzchen. Der Zwei-MeterMann hat zwei Töchter, die allenfalls im Räuberschach gegen ihn antreten wollen. 1. Wo möchten Sie im Moment gerne sein? Ja, ich möchte die Schachpublizisten loben, die den Blick auf das richten, was über die Notation hinausAn der frischen Luft, an der Nordsee. Oder in Kopengeht. Das Team Ihrer Zeitschrift; Harry Schaack und hagen, der zur Zeit vielleicht interessantesten GroßJohannes Fischer vom Schachkulturmagazin KARL; stadt Europas, so unkonventionell, so lebendig, so Arno Nickel vom Schachkalender aus Berlin; Matsozial. Hamburg ist aber auch gut. thias Thanisch und Thorsten Kittler vom BASS, dem 2. Was würden Sie tun, wenn es ab morgen absolut wunderbarsten Schachzeitschriftchen Schleswigkein Schach mehr in Ihrem Leben geben würde? Holsteins; Matthias Wüllenweber und seine ChessIch würde zu keiner Schach-Weltmeisterschaft mehr Base-Kollegen, die in drei Sprachen senden; Jan fahren. Ich müsste Ihre Zeitschrift nicht mehr kaufen. Gustafsson mit seinen launigen Online-KommentaIch würde an den Brettern im Stadtpark vorbeiradeln. ren auf chess24; Stefan Löffler, der in der FrankfurMein ständiger Sparringspartner Meister Plack, der ter Allgemeinen auch mal Unbequemes vermeldet. Schrecken von Lurup, wäre auf sich allein gestellt. Oder jemand wie Achim Kaliski vom Hamburger Also, das wären erhebliche Einschnitte. Ich hätte Betriebsschachverband, der nicht schreibt, aber unmehr Zeit für sinnvolle Dinge und könnte über das ermüdlich organisiert und dabei nie das Gesellige vergisst. Adjektiv »sinnvoll« zunächst einmal nachdenken. Auf internationaler Ebene gibt es den Niederländer 3. Was halten Sie a) für die schädlichste und b) für Dirk Jan ten Geuzendam von New In Chess, ein die beste Entwicklung im modernen Schach? fabelhafter Journalist. Oder seinen Landsmann Peter a) Was mir missfällt, ist der Ton vieler Leser-Kom- Doggers, der mit chessvibes.com ein neues Genre mentare auf den Seiten der Schachserver. So viel erfunden hat: die Videoreportage vom Schachturnier. Oder den Prager Veranstalter Pavel Matocha, Arroganz, gepaart mit Einfalt. b) Gut finde ich den durch Magnus Carlsen be- der im Chess Train ein internationales Schachturnier wirkten Aufschwung im Schach. Der junge Held aus durch Osteuropa rollen lässt. Das sind meine Helden Norwegen schafft im Alleingang, was die gesamte abseits des Brettes. Überschätzt, von sich selbst, werden möglicherFührung der FIDE nicht hinbekommt: neue Begeiweise die Spitzen des Deutschen Schachbundes. Ich sterung für dieses uralte Spiel zu wecken. kenne dort persönlich niemanden. Wenn ich bei 4. Wer ist Ihrer Meinung nach die a) am meisten Weltmeisterschaften war, ließ sich am Spielort kaum über- und die b) am meisten unterbewertete Persön- je einer unserer Offiziellen blicken. Was ich über die lichkeit der Schachgeschichte? Querelen im Präsidium lese, stimmt mich traurig. Ich Eine große Frage. Ich versuche eine kleine Antwort. verstehe nicht, warum ein so schachbegeistertes Zur Schachgeschichte zählen nicht nur die Meister, Land wie Deutschland eine so miserable Organisatisondern auch die Enthusiasten, die den Spielbetrieb on hat. Es wäre höchste Zeit für einen Neuanfang. und das Drumherum erst möglich machen. Auch die 5. Mit welchen Klischees über Schachspieler sehen Vermittler. Helmut Pfleger hat zur Popularisierung Sie sich konfrontiert und wie kommentieren Sie diese? des Schachs in Deutschland möglicherweise mehr beigetragen als unser ewig Bester, Robert Hübner, Och, Gott. Von den uns zugeschriebenen Schrullen den ich sehr verehre. lebt ja ein Teil der Berichterstattung. Mir persönlich 64 Schach 7/15 Seite 64: Schach-Fragen sind faire und balancierte Spieler lieber als fiese Typen. Viele Schachspieler sind nicht solche Geistesgrößen, wie viele Nichtschachspieler glauben. Viele Schachspieler sind auch weder einseitig noch autistisch, sondern rundum interessiert. 6. Mit welchen Vorurteilen über Ihr Schach oder Ihre Person würden Sie gerne aufräumen? Die Vorurteile über mein Schach entsprechen leider den Tatsachen. Bei der Person sieht es ganz anders aus! 7. Welche Themen möchten Sie in der Schachöffentlichkeit/Schachpresse stärker behandelt wissen? Die Frage, wie wir Schachspieler uns die Schachwelt wünschen und was wir dafür tun können. ● Möchte ich einen so verschnarchten Verband? Nein. ● Möchte ich deutsche Spieler auf höchstem Niveau mitspielen sehen? Ja. ● Möchte ich Schach nur noch im Internet haben? Nein. ● Gibt es ein Schach jenseits der Elozahl? Ja. Schachkultur ist ein großes Thema. 8. Was möchten Sie in Ihrem Leben unbedingt noch erlernen bzw. bedauern, es nie erlernt zu haben? Ein Musikinstrument wäre schön gewesen. Der Klang der Bassklarinette gefällt mir, Posaune, Trompete, Kontrabass, Vibraphon, Schlagzeug, Hammondorgel, E-Piano ... Es braucht allerdings nicht nur Musiker, sondern auch Hörer, von daher bin ich ganz zufrieden. 9. Was ist Ihnen peinlich? Zeitüberschreitung. 10. Was gefällt Ihnen an sich, und was missfällt Ihnen an sich? An guten Tagen fällt mir ’was ein. An schlechten nörgle ich an mir und anderen herum. 11. Welchen Missstand würden Sie in Ihrem Land beseitigen, wenn es in Ihrer Macht stünde? Die schwärende Unzufriedenheit mit dem Ist-Zustand. Auch mir gefällt vieles nicht. Man braucht ja aber nur ein wenig in der Welt herumzuschauen, um zu sehen, dass die Zustände anderswo wesentlich schlechter sind, was die Ernährung, das Wohnen oder die persönliche Entfaltung angeht. Mir kommen die Deutschen manchmal wie die Bewohner einer Wohlstandsinsel vor, die auf höchstem Niveau klagen und jede Störung von außen missbilligen, weil sie das reibungslose Funktionieren beeinträchtigt. Schach 7/15 Neulich schrieb meine Kollegin Elisabeth von Thadden in der ZEIT, dass unsere Gesellschaft die Flüchtlinge in ihrer Mitte brauche, weil sie eine Welt, in der über 50 Millionen Menschen auf der Flucht sind, sonst gar nicht mehr verstehen könne. Da ist etwas dran. 12. Wer sind Ihre Helden in der Gegenwart? Da ich schon beim politisch Unkorrekten bin: Ich bewundere Angela Merkel für ihre Energie und Ausdauer in einer schwierigen Lage. Ob Griechenland, die Ukraine oder Russland, ob Syrien oder der Irak, ob die britischen EU-Gegner oder die amerikanischen Abhörfreunde – furchtbar alles, unübersichtlich dazu, und sie bleibt cool. Wer würde es besser machen? Bitte melden. Wir werden irgendwann jemanden brauchen, der sie ablöst, weil das kein Mensch ewig durchhalten kann. Dass sie kaum etwas bewege, wie viele ihr vorwerfen, stimmt im Übrigen nicht. Man nehme nur die Energiewende. Wenn Ende der achtziger Jahre jemand prophezeit hätte, eine ostdeutsche CDU-Frau werde die erste Bundeskanzlerin sein und aus der Atomkraft aussteigen – man hätte ihn für komplett verrückt gehalten. 13. Welche Frage würden Sie gerne gestellt bekommen, und wie lautet die Antwort darauf? Wollen Sie die Deutsche Bahn reformieren? Lieber heute als morgen! Die Bahn zählt zum Besten, was wir an Infrastruktur haben. Ihr Image aber könnte schlechter nicht sein. Ich würde ein paar Apple-Manager einstellen, um die Nutzerfreundlichkeit dramatisch zu erhöhen. Bald wären die Züge pünktlicher, die Speisewagen besser, das Tarifsystem einfacher. Ein iTrain, das wär’s! 14. Welche drei Bücher können Sie empfehlen? Dürfen es auch Platten sein? Musik hat viel mit Schach zu tun. Man kann herrlich Schachspielen bei lauter Musik, nur so zum Vergnügen. Chick Corea fällt mir ein, zu dessen What Game Shall We Play Today? von 1973 wir früher nächtelang geblitzt haben. Richtig hart ist das Cecil Taylor Trio. Wer die 10-CD-Box 2 Ts For A Lovely T aus dem Jahre 2003 hören kann, ohne durchzudrehen oder abzustellen, findet hinterher vieles andere fad. Am liebsten höre ich Musik, die ich noch nie gehört habe. Gehen Sie in den nächsten Plattenladen und lassen Sie sich etwas empfehlen, das Sie nicht kennen. Das Neue öffnet die Ohren. 15. Welches ist die interessanteste Schachpartie, die Sie je gespielt haben? 65 Seite 64: Schach-Fragen War es die letzte? Bezirksliga am Millerntor. Mein Gegner hieß Fischer, wenn auch nicht Bobby. Ich hätte gewinnen müssen. Verdammter Mist. 16. Welche Spieler würden Sie zu einem Turnier einladen und nach welchem Modus würde dieses ausgerichtet werden, wenn ein Sponsor Sie mit der Ausrichtung eines Turniers beauftragen würde? Mich fasziniert die Idee eines Turnieres ohne Zeitbegrenzung. Vielleicht in einem Grandhotel wie Brenners Park in Baden-Baden. Ohrensessel, Kaminfeuer, Earl Grey, ein Gläschen Sherry, Zigarre. Die Partien könnten morgens nach einem späten Frühstück beginnen, werden zur Mittagszeit unterbrochen, lecker essen, Spaziergang, nachmittags geht es weiter. Das Fehlen der Schachuhren würde kompensiert durch eine veritable Zeitmaschine, mit der Teilnehmer aus der Vergangenheit anreisen könnten. Der Amerikaner John Cage wäre dabei, der Franzose Marcel Duchamp, der Pole Akiba Rubinstein, Aaron Nimzowitsch aus Kopenhagen. Aus dem Hier und Jetzt der ungarische Romantiker Richard Rapport, der durchgeknallte Georgier Baadur Jobava, der englische Grobianer Michael Basman und aus Israel Boris Gelfand, damit diese einmalige Veranstaltung auch einen würdigen Sieger findet. 17. Auf welche eigene Leistung sind Sie besonders stolz und warum? Für die ZEIT hat Wolfram Runkel jahrzehntelang über Schach berichtet. Er war 1995 im 107. Stock im Südturm des World Trade Centers in New York, als Viswanathan Anand Garri Kasparow zu bezwingen versuchte. Nachdem Wolfram in den Ruhestand ging, habe ich mir gedacht: Wäre doch schade, wenn diese Tradition abrisse. Anfangs schrieb ich nur kleine Schachsachen in der Zeitung. Über die Weltmeisterschaft 2004 in Brissago zwischen Kramnik und Leko, über den Sieg Anands gegen Kramnik in Bonn 2008, über die Olympiade in Dresden wenig später. Ich hielt Schach für ein Partikularinteresse, das man nicht überbewerten sollte. Dann kam Sofia 2010, Topalow gegen Anand, und ich schlug der Sportredaktion von ZEIT ONLINE vor, ich könnte doch – da ich eh für die Zeitung hinfahre – jeden Tag einen Bericht für das Netz schreiben. Die fußballaffinen Kollegen fanden die Idee so plemplem, dass sie gleich ja sagten. Vom ersten Tag an zählten die Schachberichte zu den meistgelesenen Texten auf ZEIT ONLINE. So ist es bis heute. Wir haben zu unserer großen Überra- 66 schung festgestellt, dass wir schachverrückte Leser haben. Inzwischen folgen andere Online-Medien unserem Beispiel, was mich freut. Bin ich stolz darauf? Wenn ich mir dabei groß was gedacht hätte – es war aber reiner Zufall. Ich frage mich, warum wir nicht früher auf die Idee gekommen sind. Offenbar hatte uns der medienübergreifende Konsens, was interessant sei und was nicht, auch schon ergriffen. Ich glaube inzwischen, dass Schach – journalistisch betrachtet – nur ein verkanntes Thema unter mehreren ist. Wer eines entdeckt, sage mir bitte rasch Bescheid. 18. Mit wem würden Sie gerne einen Tag lang tauschen und warum? Ich würde gerne mal mit meinem Freund Christoph Brumby tauschen, den ich vor Jahrzehnten beim Schach kennengelernt habe. Er ist Anästhesist im friesischen Varel und geht jeden Donnerstag in seinen Schachverein, wo er alle besiegt, jedenfalls ab und zu. Wir teilen die Liebe zum Spiel, zur Musik, zum Meer und zu den Bergen und sind ansonsten völlig verschieden. Ich habe keine Ahnung, wie man Leute so betäubt, dass sie nichts mehr merken, hinterher aber wieder werden wie vorher. Auf seine Zeitungsartikel wäre ich gespannt. Ob man da auch einschläft. Er müsste dann mühsam schreiben, während ich, für einen Tag durchtrainiert wie er, federnd um den Jadebusen liefe. 19. Wann haben Sie zum letzten Mal etwas zum ersten Mal getan und was? Zu Beginn der Bundesligasaison 2014/15 schrieb ich zum ersten Mal über Fußball, über den Aufstieg des SC Paderborn. Zum Ende der Saison schrieb ich meine erste Abstiegsreportage, auch über den SC Paderborn. 20. Aktuelle Frage: Auch wenn Sie persönlich und das Medium DIE ZEIT eine rühmliche Ausnahme bilden, möchten wir Sie doch fragen: Warum ist das Schach in Deutschland so wenig in den Medien vertreten? Weil bei uns der Mainstream regiert. Alle Medien wollen das machen, was alle Medien machen. Kaum jemand traut sich etwas Eigenes. Für Schach interessieren sich andere Online-Medien erst, seit sie gesehen haben, wie gut das bei uns läuft. Radio und Fernsehen haben es immer noch nicht bemerkt. Ich würde mir von uns allen wünschen: weniger Einschaltquotendenken, mehr Aufmerksamkeit für das Unbeachtete. Die Welt ist vielfältig, auch die Medien sollten es sein. Schach 7/15
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