1592 FMH Recht Monique Gauthey, Fachärztin, Mitglied des Zentralvorstandes der FMH, Departementsverantwortliche Spitalärztinnen und ärzte - Das Arztgeheimnis ist wie eine Uhr mit Komplikationen: Die Komplexität steigert zwar den Wert, erschwert aber auch die Anwendung. Die besorgten Äusserungen über die Gefährlichkeit bestimmter Häftlinge und die angeb liche Blindheit der Ärzte haben die forensischen Psychiater unter Druck gesetzt. Die zutage getretenen Divergen zen haben allerdings nichts mit dem Röstigraben zu tun, wie der untenstehende Artikel zeigt. Die Rechtslage ist nämlich eindeutig; bloss trauen die Ärzte sich nicht, das Potential des Arztgeheimnisses – letztendlich auch zum Vorteil der Gesellschaft – voll auszuschöpfen. Forensische Psychiatrie und Arztgeheimnis – zum Artikel von Lau und Sachs in der SÄZ 37/2015 [1] Das Arztgeheimnis im Gefängnis: eine falsche Polemik Dominique Sprumont a , Philippe Ducor b Prof. Dr. iur., Stv. Direktor des Instituts für Gesundheitsrecht, Vize-Direktor SSPH+ / ERSP, Universität Neuenburg Prof. Dr. iur. et med., Rechtsanwalt, Genf a b Unter dem Titel Mythen und Realitäten haben Steffen Lau und Josef Sachs die Frage des Arztgeheimnisses bei der Behandlung gefährlicher Häftlinge neu aufgeworfen [1]. Ihre Absicht war, als Antwort auf die nach ihrer Meinung in der Westschweiz vorherrschende «emotionale» Tonalität, die Diskussion auf die wirklichen Gegebenheiten der forensischen Psychiatrie zurückzuführen. Leider wirkt ihr Artikel der Mythenbildung nicht entgegen, sondern verstärkt diese sogar, indem er den rechtlichen Rahmen der ärztlichen Tätigkeit im Gefängnis eher frei auslegt. innert werden, nach dem in Ermangelung einer spezifi- Rechtsvorschriften im Gesundheitswesen, welche Ärz- schen Rechtsvorschrift die allgemeinen Vorschriften tinnen und Ärzte zur Einhaltung der Patientenrechte anwendbar sind. Konkret bedeutet dies, dass Ärztinnen im öffentlichen genauso wie im privaten Bereich ver- und Ärzte, die im Gefängnis oder im Auftrag der Justiz- pflichten. Der Arzt bleibt jederzeit Arzt. Dieser Grund- behörden tätig sind, auf inhaftierte Patienten dieselben satz wird im Übrigen durch kantonale Ausführungs Grundregeln anzuwenden haben wie auf nicht inhaf- gesetze zum Strafgesetzbuch bestätigt, die anerkennen, tierte, sofern keine gesetzlichen Bestimmungen existie- dass in Bezug auf die Gesundheit Häftlinge dieselben ren, die ihre Rechte und Pflichten anderweitig regeln. Rechte besitzen wie alle anderen Personen. Die FMH hat Lau und Sachs vertreten die Auffassung, das spezielle von daher stets den Grundsatz der Gleichwertigkeit der Rechtsverhältnis zwischen dem gefährlichen Häftling Behandlung in der Gefängnismedizin oder auch, wie und der Vollzugs- und Justizbehörde liefere einen aus- erst jüngst wieder, im Rahmen der zwangsweisen Rück- reichenden Rechtfertigungsgrund. Da die Beziehung führungen verteidigt. zwischen Patient und Arzt im Gefängnis nicht unter das Lau und Sachs kommen ausserdem zu dem Schluss, Privatrecht falle, unterlägen Patientenrechte und beruf- dass nicht nur das Recht der Häftlinge auf Schutz ihrer liche Pflichten vollkommen anderen Regeln. Dieses Privatsphäre zähle, sondern auch dasjenige der Bevölke- Argument stimmt nachdenklich: Wörtlich genommen rung auf Sicherheit. Dieses Argument erinnert an den würde es bedeuten, dass in öffentlichen Einrichtungen Slogan «Im Zweifel für die Gesellschaft», den gewisse Literatur hospitalisierte und somit nicht dem Privatrecht unter- Politikerinnen und Politiker in Mordfällen vertraten. 1 stehende Patienten ebenfalls einem speziellen Rechts- Einer so allgemein gefassten Aussage lässt sich schwer system unterworfen sind. Dies ist jedoch weit gefehlt. Es widersprechen. Die Realität ist jedoch komplexer. Die genügt, Art. 40 des Medizinalberufegesetzes (MedBG) Frage dreht sich weniger um die Rechte der gefährlichen Ärztezeitung: 2015;96(37):1331–3. SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG – BULLETIN DES MÉDECINS SUISSES – BOLLETTINO DEI MEDICI SVIZZERI und Realitäten. Schweiz Lau S, Sachs J, Mythen zu konsultieren sowie die zahlreichen kantonalen Zunächst soll an den wesentlichen Rechtsgrundsatz er- 2015;96(44):1592–1593 1593 sein kann und umgekehrt [4]. Dieser allgemeine Rechts- (StGB) erteilt. Zur Erinnerung: Gerade weil Straftäterin- grundsatz findet sich auch in den entsprechenden Aus- nen und Straftäter gefährlich sind, ordnen die Richter standsregeln der Zivilprozessordnung [5] und im Ver- therapeutische Massnahmen an [2], um ihre Gefährlich- waltungsverfahrensgesetz [6]. Der Grund liegt auf der keit zu verringern. Der Richter kann sich dieser Pflicht Hand. Der Therapeut steht in enger Beziehung zu sei- nicht entziehen. Forensische Psychiater, die im Auftrag nem Patienten, was seine Einschätzungen beeinflussen der Justiz tätig werden, sind somit unter Berücksichti- kann und Quelle eines Interessenkonflikts ist. Zum gung ihrer ärztlichen Pflichten von Rechts wegen der Schutz der Gesellschaft wurden daher im Strafgesetz- Gesellschaft verpflichtet. Genau aufgrund dieses Auf- buch spezielle Verfahren zur Beurteilung der Gefähr- trags haben zahlreiche Gefängnisärztinnen und -ärzte, lichkeit von Straftätern mit besonders hohem Risiko die kantonalen Ärztegesellschaften, die FMH und die festgelegt [7]. Diese Beurteilung erfolgt unter richter Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissen- licher Aufsicht und unter Beteiligung mehrerer Exper- schaften das Arztgeheimnis im Gefängnis stets ver tinnen und Experten, meistens in einem interdiszipli- nären Rahmen. In Bezug auf die ärztliche Weitergabe forensische Psychiater kann seine Mission ohne das von Informationen an die Justiz im Rahmen eines Arztgeheimnis nicht erfüllen. Strafverfahrens wird auf Artikel 171 Absatz 3 StPO hin- Die Wirksamkeit einer Behandlung ist in hohem Grad gewiesen, der das Arztgeheimnis ausdrücklich schützt. abhängig vom Vertrauensverhältnis, das zwischen Arzt Das Bundesgericht hat deshalb das Basler Gesundheits- und Patient entsteht. Das Arztgeheimnis [3] ist der Eck- gesetz, das eine allgemeine Informationspflicht für sol- pfeiler dieses Vertrauensverhältnisses. Dieses zu ge- che Sachverhalte schaffen wollte, als dieser Bestim- fährden würde bedeuten, den Therapeuten in seinen mung zuwiderlaufend beurteilt [8]. teidigt und werden dies auch weiterhin tun. Der Behandlungsmöglichkeiten einzuschränken und damit Es ist bedauerlich, dass Lau und Sachs diesen Unter- Art. 56 ff. des Schweize- dem im Strafgesetzbuch vorgesehenen therapeutischen schied zwischen der Therapeuten- und der Experten- rischen Strafgesetz- Auftrag seinen Sinn zu nehmen. Dies heisst nicht, dass rolle nicht stärker berücksichtigen. Ihr Artikel vermittelt Ärztinnen und Ärzte sich nicht mit den Vollzugs- und den Eindruck, dass die Ärzte, die ihrer Therapeutenrolle 2 dass ein Experte nicht gleichzeitig als Therapeut tätig den Ärzten kraft des Schweizerischen Strafgesetzbuchs Häftlinge als vielmehr um den Auftrag, den die Justiz FMH Recht buchs vom 21. Dezember 1937 (StGB). Art. 321 StGB. Justizbehörden austauschen dürfen. Im Gegenteil: Wie gewissenhaft nachkommen, ihre Pflicht der Gesell- 4 Art. 56–60, 183 Abs. 3 der schaft gegenüber vernachlässigen. Die Autoren scheinen sche Massnahme durch die zuständige Strafvollzugs die Auffassung zu vertreten, dass die Gefängnisärztin- 5. Oktober 2007 (StPO). behörde überwacht. Der zwischen dem inhaftierten nen und -ärzte zuerst als Hilfskräfte der Justiz und erst Patienten, dem Arzt und der Justiz festgelegte «Behand- in zweiter Linie als Therapeuten fungieren sollen. Dies lungsauftrag» präzisiert – in voller Kenntnis und mit ist eine beunruhigende Vorstellung, die den Zielen der Für die Verwahrung siehe Art. 56 Abs. 4bis StGB. 5 Art. 47–51, 183 Abs. 2 der Lau und Sachs zu Recht feststellen, wird jede therapeuti- prozessordnung vom Schweizerischen Straf- 3 Justiz stattfindet, wie beispielsweise die Einhaltung der Gefängnisärzte, die auf die Wahrung des Arztgeheim- zes über das Verwal- ärztlichen Verordnungen, die Teilnahme an den Sitzun- nisses bedacht sind und ihren Patienten vorgeblich zu tungsverfahren vom 20. gen, der Behandlungsfortschritt gemäss den Zielen zur nahe stehen, vergessen Lau und Sachs zu erwähnen, Verringerung der Gefährlichkeit usw. Die entsprechen- dass sich in der Praxis genau diese Ärztinnen und Ärzte den Berichte werden regelmässig aufgrund eines zuvor auf Basis ihres Behandlungsauftrags regelmässig mit erstellten Zeitplans erstellt. Diese Aspekte sind unbe- der Justiz und den Vollzugsbehörden austauschen. sprechende stritten und integraler Bestandteil der ärztlichen Tätig- Ebenso scheinen sie zu ignorieren, dass ebendiese Ärzte Kommission vor. keit in Schweizer Gefängnissen. laut Artikel 17 StGB im Falle einer unmittelbaren Gefahr gerichts 1B_96/2013 Die durch die Änderung verschiedener Ausführungs die Behörden unverzüglich in Kenntnis zu setzen haben. vom 20. August 2013. gesetze des Strafgesetzbuchs in der Westschweiz aufge- In der Medizin gibt es keine alleinige Wahrheit. Es ist worfene Frage ist eine andere. Sie betrifft die Fakten wichtig, dass die praktizierenden Ärztinnen und Ärzte Korrespondenz: und Vorkommnisse ausserhalb des Behandlungsauf- unterschiedliche Ansätze verteidigen können. Aller- Prof. Dr. iur. trags, die einen Einfluss auf die Einschätzung der Ge- dings gilt für alle derselbe rechtliche Rahmen, und es ist fährlichkeit des Häftlings haben könnten. Diesbezüg- sinnvoll, sich mitunter an seine Inhalte zu erinnern. Die lich sei an den grundlegenden Unterschied zwischen FMH und die Konferenz Schweizerischer Gefängnis Avenue du 1 Mars 26 der Therapeuten- und der Expertenrolle erinnert, die ärzte (KSG) sind die richtigen Institutionen für diese CH-2000 Neuenburg forensische Psychiaterinnen und Psychiater überneh- Aufgabe! Auf dieser Grundlage können die Fachleute sich men müssen. Die Strafprozessordnung (StPO) unter- positionieren, indem sie geeignete Praktiken beschrei- scheidet ganz klar zwischen beiden Rollen und legt fest, ben, statt sich in irreführende Polemik zu verlieren. Dezember 1968 (VwVG). 7 Art. 62d, 64b und 75a StGB schreiben die Beurteilung der Gefährlichkeit durch eine ent- 8 Entscheid des Bundes- Institut für Gesund Dominique Sprumont heitsrecht Universität Neuenburg er Tel. 032 718 21 96 dominique.sprumont[at] unine.ch SCHWEIZERISCHE ÄRZTEZEITUNG – BULLETIN DES MÉDECINS SUISSES – BOLLETTINO DEI MEDICI SVIZZERI 2015;96(44):1592–1593 Art. 10 des Bundesgeset- 6 zuwiderläuft. In ihrer karikierenden Darstellung der (ZPO). Strafprozessordnung und der Strafverfolgungspolitik über die ein Informationsaustausch zwischen Arzt und vollem Einverständnis des Häftlings – die Elemente, vom 19. Dezember 2008 Zivilprozessordnung
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