Die Kuh brüllt unhörbar vor Schmerz

Tier
■ BAUERNBLATT l 18. Juli 2015
Erfolgreich füttern: Schmerzmanagement bei Rindern
Die Kuh brüllt unhörbar vor Schmerz
Und das ist nur von Vorteil: Denn
um zu überleben, sind Wiederkäuer in freier Wildbahn darauf ausgerichtet, ihren Feinden niemals eine
Schwäche zu zeigen. So versuchen
sie als Fluchttiere möglichst vor ihren Jägern zu verbergen, dass sie
verletzt oder erschöpft sind. Laute
Schmerzäußerungen würden nur
die Aufmerksamkeit auf sie selbst,
die Beute, lenken. Bei Hausrindern
ist es ähnlich: Auch sie zeigen nur
undeutliche, vage Schmerzäußerungen, was aber nicht bedeutet,
dass Rinder keine Schmerzen empfinden. Leider führt dies oft dazu,
dass ihre Leidensfähigkeit überstrapaziert wird.
Die Internationale Gesellschaft
für Schmerzforschung definiert
den Schmerz als ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis,
das mit tatsächlicher oder drohender Gewebeschädigung einhergeht oder mit ihr im Zusammenhang steht.
Was ist
Schmerz?
Schmerz zu definieren oder zu
objektivieren ist sehr schwierig, da
er eine individuelle Erfahrung darstellt. Auch wenn Tiere sich nicht direkt in unserer Sprache mitteilen
können, so steht fest, dass auch sie
Schmerzen empfinden können und
eine Schmerztherapie sinnvoll ist.
Über aufsteigende Nervenbahnen
werden schmerzhafte Reize im
Großhirn „gemeldet“ und dort als
Schmerz wahrgenommen, durch
absteigende Nervenbahnen werden dann entsprechende Reaktionen, wie zum Beispiel das Zurückziehen eines Beines, ausgelöst. Es
wird als Fortschritt in der Evolution
angesehen, Schmerzen empfinden
zu können, da sie eine wichtige
Schutz- und Warnfunktion ausüben. Dieses „Schadenfrühwarnsystem“ kann lebensrettend sein.
Schmerz kann anhand von verschiedenen Parametern unterschieden werden. Zum einen nach dem
Entstehungsort: Als somatischer
Schmerz werden der Oberflächenschmerz (zum Beispiel auf der Haut)
und der Tiefenschmerz (zum Beispiel in Muskeln, Knochen und Gelenken) bezeichnet. Von Menschen
wird der Oberflächenschmerz häufig als stechend oder brennend, der
Einsetzen des postoperativen Wundschmerzes nach Bauchhöhlenoperationen, wenn die örtliche Betäubung abklingt
● bei starken Schmerzen: Zähneknirschen und Stöhnen, Blick ins
Leere („Schmerzgesicht“: leicht gerunzelte Augenlider, Ohren zurückgestellt, weite Nasenöffnungen),
sehr selten: Schmerzbrüllen
Letztendlich führen Schmerzen
immer zu einer Beeinträchtigung
des Wohlbefindens. Eine hohe Leistung kann aber nur erbracht werden, wenn sich die Tiere wohlfühlen.
Wachstumsverzögerungen,
verringerte Fruchtbarkeit und sinkende Milchleistung können folglich also auch Anzeichen von
Schmerzen sein.
Auch bei der Behandlung von Euterentzündungen, allen voran Coli-Mastitiden, ist die Schmerzmittelverabreichung sinnvoll.
Tiefenschmerz als dumpf bohrend
beschrieben. Der Eingeweideschmerz (viszeraler Schmerz) wird
bei starker Dehnung von Hohlorganen empfunden und verläuft oft
krampfartig. Zum anderen kann
der Schmerz in leicht, mittelgradig
und stark eingeteilt werden. Plötzlich auftretender Schmerz wird als
akut bezeichnet und verschwindet
wieder, wenn die Schädigung behoben ist. Chronische Schmerzen dagegen bestehen über einen längeren Zeitraum (im Allgemeinen über
ein halbes Jahr), sie stellen ein eigenes Krankheitsbild dar und besitzen
keine Schutz- und Warnfunktion
mehr.
Wie zeigen
Rinder Schmerzen?
Das Schmerzempfinden ist bei allen höheren Wirbeltieren ähnlich.
Der Unterschied von Rindern zu anderen Tierarten und dem Menschen
liegt dagegen in ihrer Verhaltensreaktion auf Schmerzen.
Unsere Hausrinder stammen von
Wildtieren ab, welche als Beutetiere gejagt wurden. Ihre Überlebensstrategie liegt darin, Schmerzen
und Schwäche nicht zu zeigen, damit Raubtiere nicht auf sie aufmerksam werden. Oft wird daher aufgrund ihres stoischen Naturells
fälschlicherweise
angenommen,
dass Kühe unempfindlich für
Schmerzen sind.
Typische Beispiele
für Schmerzen
Grundsätzlich können alle ErAnzeichen für Schmerzen bei Rin- krankungen zu Schmerzen führen,
dern sind:
insbesondere bei allen entzündli● Abweichungen vom normalen chen Prozessen ist mit Schmerzen
Verhalten beim Kot- und Harnab- zu rechnen.
Beispiele für typische „Schmerzsisatz und beim Fressen: zum Beispiel
tuationen“ bei Kälbern:
Rückgang der Futteraufnahme
● Veränderung im Sozialverhalten: ● blutige (Operation) und unblutizum Beispiel Absonderung von der ge (Burdizzo-Zange) Kastration
Herde, Verlust des Rangordnungs- ● Nabelbruch-Operation
platzes, aber auch aggressives Ver- ● Nabelabszess
halten gegenüber Artgenossen ist ● Enthornen
möglich
● Knochenbrüche
● Haltungs- und
Gangbildveränderungen: zum Beispiel bei Schmerzen im Bewegungsapparat:
Kopf und Hals gesenkt, Rückenlinie
gekrümmt, Schonhaltung der betroffenen Gliedmaße,
längeres
Stehen und Liegen, Mobilität eingeschränkt
● Schwanzschlagen auch bei Abwesenheit von Fliegen, wiederholtes
Anziehen und Wiederausstrecken von
Gliedmaßen, Kälber schlagen sich Bei der Behandlung einer schmerzhaften Klauenerkrangegen den eigenen kung kann durch die Kombination von Sedation und
Bauch, Scharren, Lokalanästhesie das Tier ruhiggestellt werden – ein VorAufwerfen von Ein- teil für Mensch und Tier.
streu: zum Beispiel
Fotos: Dr. Katrin Mahlkow-Nerge
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Tier
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Ob, wie hier zu sehen, ein Beinbruch oder eine Kolik behandelt werden muss: Die zeitgleiche Gabe von Schmerzmitteln begünstigt den Genesungsprozess des Tieres.
● Folgen von Zughilfen bei einer zessen wie beispielsweise Pneumonien, Durchfallerkrankungen und
Schwergeburt
Mastitis an, sie sind ausreichend bei
● Gelenksentzündungen
leichten Schmerzen.
● Durchfall
● Lungenentzündungen
● Spasmolytika: lösen schmerzhafte Verkrampfungen der glatten
Beispiele für typische „Schmerzsitu- Muskulatur, zum Beispiel im Maationen“ bei erwachsenen Rindern: gen-Darm-Trakt im Rahmen eines
● Klauenerkrankungen und deren Durchfallgeschehens oder bei einer
Behandlung (zum Beispiel Klauen- Kolik
amputation,
Sohlengeschwüre, ● Lokalanästhetika: betäuben die
Mortellaro)
Schmerzrezeptoren und verhindern
● Schwergeburt und geburtshilfli- so ein Weiterleiten des Schmerzreizes in das Gehirn. Zur örtlichen Beche Maßnahmen (Zughilfe)
täubung des Operationsfeldes, zum
● Kaiserschnitt
Beispiel bei einem Kaiserschnitt
● Enthornung
oder einer Labmagen-Operation,
● Labmagen-Operation
beim Enthornen, bei Klauenopera● Augenentzündung (Uveitis)
● Euterentzündungen (insbeson- tionen oder in Kombination mit Xydere akute E.-coli-Mastitis, aber lazin bei Nabeloperationen.
auch „einfache“ Mastitiden mit Flo- ● Allgemeinanästhetika:
führen
cken führen zu Schmerzen)
durch eine Vollnarkose zu einer
● akute Gebärmutterentzündungen Ausschaltung des Bewusstseins,
können als Injektionsnarkose zum
● Knochenbrüche
Beispiel mit Ketamin und Xylazin
oder als Inhalationsnarkose (zum
Möglichkeiten
zum Schmerzmanagement Beispiel mit dem Narkosegas Isofluran) vor allem bei Operationen von
Als wichtigste Maßnahme sollte Kälbern eingesetzt werden (in einer
natürlich die Schmerzursache besei- Tierklinik).
tigt werden. Aber häufig reicht das ● Xylazin: wird zur Analgesie, Seallein nicht aus, um das Wohlbefin- dation und zur Muskelentspanden des Tieres wiederherzustellen. nung eingesetzt und eignet sich vor
Das Schmerzempfinden lässt sich allem in der Kombination mit Lokalmittels verschiedener Wirkstoffe anästhetika sehr gut zur Schmerz(Analgetika) im Rahmen einer sym- ausschaltung und Ruhigstellung,
ptomatischen Therapie auf mehre- zum Beispiel bei Klauenbehandlunren Wegen beeinflussen.
gen oder einem Kaiserschnitt.
Bei der Kombination der analge● Kortikosteroide und nichtsteroidale Entzündungshemmer (NSAID): tischen Wirkstoffe kann das
reduzieren Entzündungen und set- Schmerzempfinden auf den verzen die Sensibilität der Schmerzre- schiedenen schmerzleitenden Ebezeptoren herab. Diese Wirkstoffe nen unterbrochen werden (sogebieten sich bei entzündlichen Pro- nannte multimodale Schmerzthera-
werden, dass durch die Kombination von Lokalanästhetika und Xylazin und die zusätzliche Gabe von
Entzündungshemmern vor der
Operation (sogenannte präventive
Schmerztherapie) der postoperative Schmerz verringert werden
konnte. Damit verbessert sich auch
die Rekonvaleszenz, was zu einer
Frühzeitig Schmerzen
erkennen und behandeln Produktivitätssteigerung durch eine gesteigerte Futteraufnahme
An sich ist der Schmerz eine sinn- und eine höhere Gewichtszunahme
volle Einrichtung des Körpers, der führt.
durch seine Reaktionen wie zum
Beispiel das Zurückziehen einer
Gliedmaße oder die Fluchtreaktion
vor weiteren Schäden bewahrt. AlAllein aus ethischen Gründen
lerdings können besonders starke
liegt es in der Verantwortung
oder lang andauernde Schmerzen
des Landwirts, für das Wohlbe(zum Beispiel bei Operationen oder
finden seiner Tiere zu sorgen
Klauenerkrankungen) zu einer Senund Schmerzen sobald möglich
sibilisierung des schmerzleitenden
zu lindern oder vorzubeugen.
Systems führen. Dabei kommt es
Aber auch durch das Tierschutzdurch die Gewebeschädigung zur
gesetz wird geregelt, wie mit
Freisetzung verschiedener Botenschmerzhaften Situationen umstoffe und anschließender Entzüngegangen werden soll (zum
dungsreaktion; über die verschiedeBeispiel Enthornen). Durch eine
nen Nervenbahnen wird dies dem
erhöhte Krankheitsanfälligkeit
Gehirn gemeldet und kann dort zur
und verringerte ProduktionsEntwicklung eines Schmerzgeleistung wirken sich Schmerzen
dächtnisses führen. Dadurch könauch direkt negativ im wirtnen ein verstärktes Schmerzempfinschaftlichen Bereich aus. Zu guden (Hyperalgesie) und eine gesteiter Letzt leidet auch das Image
gerte Empfindlichkeit auf eigentbei den Konsumenten, wenn
lich nicht schmerzhafte Reize (AlloNutztieren nicht unnötige
dynie) entstehen. Durch ein adSchmerzen, Schäden und Leiäquates Schmerzmanagement sollden erspart bleiben. Ein gutes
te dies unbedingt verhindert werSchmerzmanagement rechnet
den, denn ein späterer „Ausgleich“
sich also für alle Beteiligten.
durch hoch dosierte Schmerzmittel
ist meist nicht erfolgreich.
Dr. Katharina Traulsen
Beispielsweise konnte bei der
Tierärztin
Kastration oder Enthornung von
[email protected]
Kälbern in vielen Studien gezeigt
pie), sodass sich häufig ein noch besserer Effekt als bei der alleinigen
Verabreichung der einzelnen Wirkstoffe erzielen lässt. Gleichzeitig reduzieren sich die Nebenwirkungen
durch die Verminderung der Einzeldosen.
FAZIT