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Verschwundene Flüchtlinge | Manuskript
Verschwundene Flüchtlingskinder
Bericht: Christian Werner, Tarek Khello
Dieser 17-jährige syrische Junge wird vermisst. Seit sechs Wochen von der Polizei gesucht,
einer von zirka 6.000 minderjährigen Flüchtlingen. Wir haben ihn gefunden. Doch der Reihe
nach.
Unsere Suche beginnt im Februar im Erzgebirge, in Bad Schlema. Hier lebte Ahmad in einem
Heim für minderjährige Flüchtlinge. Am 14. Januar verschwindet er. Wir treffen seine
ehemaligen Mitbewohner, die wir nicht offen zeigen dürfen. Sie erzählen uns: Ahmad wollte
einfach nur weg.
Jungs
Ich glaube, Ahmad ist wegen der schlechten Behandlung hier abgehauen. Uns allen gefällt
es hier nicht. Wenn uns das Essen nicht schmeckt, sagen die Betreuer, dass ihnen das egal
sei und wir halt bis zur nächsten Mahlzeit warten müssen. Wenn wir krank sind, glauben
sie uns das nicht und wenn wir Kleidung haben wollen, sagen sie uns, dass dafür kein Geld
da sei.
Das Heim liegt am Rande der Kleinstadt. Die Jungs langweilen sich, sie sehen keine
Perspektive. Ob es Ahmad jetzt gut geht, wissen sie nicht. Aber alle wollen am liebsten von
hier verschwinden.
Wir fahren weiter. Nach Chemnitz. Die Polizeidirektion hier bearbeitet die
Vermisstenanzeige aus Bad Schlema. Seit November 2015 wurden hier allein 225
minderjährige Flüchtlinge als vermisst gemeldet. Darunter auch Ahmad. bestätigt uns
Pressesprecherin Jana Kindt.
Jana Kindt, Pressesprecherin Polizeidirektion Chemnitz
Wir haben eine Anzeige bekommen von der Unterkunft, in der der Jugendliche
untergebracht war. Der Jugendliche wurde in unserem polizeilichen Fahndungssystem
erfasst und steht jetzt zur Fahndung. Das heißt, wenn er jetzt irgendwo europaweit
aufgegriffen wird, dann haben wir die Möglichkeit der anhand von ihm genannten
Personalien und der von uns genannten Personalien zu finden.
Schon vier Wochen ist Ahmad in den Datenbanken der Polizei als vermisst gemeldet und
scheinbar nirgends aufgetaucht. Wo ist Ahmad? Wir recherchieren und finden ein Foto von
ihm, gepostet von einem Freund der Familie. Wir kontaktieren die Syrer, mit denen der
Junge aus seiner Heimat geflohen ist. Sie leben in diesem Asylbewerberheim in Kretzschau,
Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für den privaten Gebrauch des Empfängers
verwendet werden. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Urheberberechtigten ist unzulässig.
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bei Zeitz. Wissen sie, wohin Ahmad wollte? Im Fernsehen möchten sie nicht erkannt werden,
aus Angst vor den IS-Terroristen, vor denen sie geflohen sind. Dieser Nachbar der Familie
erzählt uns von Ahmad.
Syrer
Ahmad kommt aus meiner Heimat und sein Vater ist ein Freund von mir. Ich musste auf
Ahmad während der Flucht aufpassen. Wir sind zusammen gekommen. Die Flucht war sehr
schwer. Zum Glück haben wir es geschafft.
Ahmads Eltern sind noch in der Heimat, sie sind zu alt und zu krank um zu fliehen. Die
Nachbarn bedauern, dass sie sich nicht weiter um den Jungen kümmern konnten. Denn in
Deutschland angekommen, wurden sie getrennt.
Syrer
Ahmad durfte nicht bei uns bleiben, weil er einen anderen Familiennamen hat. Er musste
in ein anderes Heim, weil sie dort besser auf ihn aufpassen können, haben sie gesagt. Wir
haben dann nach einer Woche den Kontakt verloren.
Wir erfahren, dass Ahmad einen Onkel in Deutschland hat, zu dem er unbedingt wollte. Wir
fahren zu Hussin Satoof, Ahmads einzigem Verwandten in der Bundesrepublik. Vielleicht
weiß er, wo sein Neffe ist. Wir finden den Onkel in einer kleinen Gemeinde im Sauerland. Er
lebt seit anderthalb Jahren in Deutschland.
Onkel Hussin Satoof
Ahmad wollte zu mir kommen. Er kennt hier niemanden. Er ist minderjährig und seine
Eltern hätten ihn nie hierher geschickt, wenn ich nicht hier leben würde. Ich sollte auf ihn
aufpassen, mich um ihn kümmern.
Als wir das letzte Mal telefoniert haben, hat er gefragt, wann er mich sehen kann. Ich habe
ihm geantwortet, dass ich ihn in ein paar Tagen besuchen werde. Aber am 22.12. ist der
Kontakt abgebrochen.
Hussin Satoof macht sich Sorgen um seinen Neffen. Ist ihm etwas passiert? Gerät er auf die
schiefe Bahn? Wir bekommen schließlich über Facebook einen Tipp. Ahmad soll in einem
Asylbewerberheim in Rodewisch leben. Im Vogtland. Wir fahren dorthin und tatsächlich:
Ahmad ist hier – wohlbehalten. Der Junge, der seit Wochen als vermisst gilt, von Polizei und
Verwandten gesucht wird. Seine Flucht aus dem Heim war erstaunlich kurz.
Ein Kumpel aus dem Heim und ich sind mit einem Zug gefahren, irgendwohin. Ich weiß
nicht wohin. Als wir ausgestiegen sind, kamen zwei Polizisten. Ich hatte meine Papiere,
mein Kumpel aber nicht. Wir mussten ein Formular ausfüllen, wo wir herkommen,
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wie wir heißen, wie lange wir hier sind und so weiter und dann haben sie uns in dieses
Heim gebracht.
Mit anderen Worten: Ahmad wird schon am Tag seines Verschwindens von der Polizei
aufgegriffen. Aber die Beamten in Chemnitz erfahren davon nichts. Das reine
Fahndungschaos. Leider komme das häufiger vor, erklärt uns die Polizei. Der Grund: falsch
erfasste Personalien.
Dabei kann es sein, dass sich die angegebenen/erfassten Personalien beispielsweise in der
Schreibweise von den Fahndungspersonalien unterscheiden. Zwangsläufig ergibt sich dann
bei einem Datenabgleich kein Fahndungstreffer.
Hunderte vermisste Minderjährige sind also höchstwahrscheinlich gar nicht spurlos
verschwunden oder Verbrechen zum Opfer gefallen. Zehn bis 20 Prozent der Jugendlichen
verlassen die Asylbewerberheime auf eigene Faust, schätzt Tobias Klaus vom
Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Ihr Problem: sie haben
keinen Anspruch darauf, zu in Deutschland lebenden Verwandten ziehen zu dürfen.
Tobias Klaus
Bei der Verteilung von Minderjährigen steht im Wesentlichen im Vordergrund, dass es eine
gerechte Verteilung innerhalb Deutschlands geben soll, dass jede Bundesland anhand
seiner Bevölkerungszahl Jugendliche zugewiesen bekommt und die Interessen die Kinder
und Jugendlichen werden dabei viel zu wenig beachtet.
Wer sich auf eigene Faust auf den Weg zur Verwandtschaft macht, kann scheitern wie
Ahmad. Er will jetzt in Rodewisch abwarten, ob er zu seinem Onkel darf.
Ahmad
Ich will nicht illegal sondern legal zu meinem Onkel und deswegen bleibe ich jetzt hier.
Wenn ich illegal dorthin will, kriege ich vielleicht Ärger und schaffe es nie zu meinem Onkel
zu kommen.
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