Unsere Welt ist oft zu laut: «Jeder Gehörschutz ist besser als keiner»

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Unsere Welt ist oft zu laut: «Jeder
Gehörschutz ist besser als keiner»
Unsere Ohren sind Hochleistungs-Präzisionsinstrumente. Das Gehör ist
unser wichtigstes Kommunikationsorgan. Aber unsere Ohren sind nicht
für ständigen Lärm geschaffen. Die Arboner Hörgeräteakustikerin Heike
Birnbaum* ist Gehörschutz-Spezialistin. Sie erklärt, auf was man achten
sollte und wie man sein Gehör am besten schützt.
der hat sehr unterschiedliche Bedürf­
nisse, die individuell berücksichtigt
werden müssen. Durch eine Mass­
anfertigung und durch eine Kontrolle
der Dichtheit der Otoplastik bei der
Abgabe, kann sichergestellt werden,
dass der Schutz wirklich zuverlässig ist
und nicht nur auf dem Papier besteht.
häufige Ursachen. Heutzutage ist je­
doch eine durch Lärm verursachte
Schwerhörigkeit immer häufiger. Bei
jungen Menschen bis Mitte 30 steigt
in den letzten Jahren durch zu lautes
und zu langes Musikhören mit Kopf­
hörern die Zahl der Schwerhörigkeiten
rasant an.
Was genau schädigt das Gehör am
häufigsten?
Es gibt viele Ursachen für Hörschädi­
gungen. Vererbung, Erkrankungen,
Medikamente und die Alterung sind
Viele hören (zu) laut Musik. Sind
Kopfhörer hier nützlich oder doch
eher schädlich?
Kopfhörer sind nicht grundsätzlich
schädlich. Ausschlaggebend ist immer
die Kombination aus Dauer und Laut­
stärke der Beschallung. Mit Kopfhö­
rern ist die Versuchung allerdings sehr
gross, dass man gerade seine Lieblings­
musik zu laut einstellt. Trügerisch ist
dabei das Gefühl für Lautstärke. Auf
das Gefühl aber ist kein Verlass. Viele
Menschen tragen Kopfhörer beim
Sport. Hier wird die Musik fast immer
viel zu laut eingestellt. Für Kinder gibt
es speziell abgeriegelte und zertifizierte
Kopfhörer.
dezibel 1/2016
Heike Birnbaum, Hörschäden sind
oft irreparabel. Wie also schützt
man seine Ohren am besten?
Den besten Schutz hat man, indem
man sich möglichst selten zu lauten Pe­
geln aussetzt. Da dies nicht immer
möglich ist, sollte man sein Gehör
durch Gehörschutz schützen. Generell
gilt, jeder Gehörschutz ist besser als
keiner. Am besten sind massgefertigte
auf individuelle Bedürfnisse abge­
stimmte Gehörschutzprodukte. Ein
Schreiner, ein Sänger oder jemand, den
das Schnarchen des Partners stört: Je­
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Die Palette an Gehörschutzmodellen ist breit. Fotos: «Der Hörladen»
Viele Menschen leben an viel
befahrenen Strassen. Strassenlärm
beeinträchtigt nachweislich den
Schlaf. Reichen in solchen Situa­
tionen Ohrstöpsel aus?
Ein ruhiger und erholsamer Schlaf ist
sehr wichtig. Wenn man über längere
Zeit durch Strassenlärm, laute Nach­
barn oder das Schnarchen des Partners
seiner Nachtruhe beraubt wird, kann
das vielfältige negative Auswirkungen
wissen
Unsere Welt ist …
Heike Birnbaum: «Unsere Ohren sind
nicht für ständigen Lärm geschaffen.»
auf uns haben. Hier sind massgefer­
tigte Silikon-Schlafgehörschutze ohne
Filter am Wirksamsten. Sie sitzen tief
im Ohr und rutschen und drücken
nicht. Trotzdem ist man damit nicht
völlig abgeschottet, hört aber nur noch
so wenig, dass man im Schlaf nicht ge­
stört wird.
Am Arbeitsplatz, aber auch in
öffentlichen Einrichtungen gelten
die gesetzlichen Lärmschutzricht­
linien. Wann und für wen fertigen
Sie Otoplastiken an?
Zwar empfehlen wir manchmal auch
Standardgehörschutz, den es in vielen
Varianten gibt. Da der Mensch jedoch
individuell ist und die Gehörgangs­
formen wirklich sehr verschieden sein
können bezüglich Durchmesser, Form,
Länge und Krümmungen, sitzen den
meisten Leuten normale Gehörschutze
mehr schlecht als recht. Vor allem ist
nie sichergestellt, dass die theoretischen
Dämmwerte, welche auf der Packung
stehen, auch erreicht werden. Daher
empfehlen wir, wenn immer es mög­
lich ist, eine Massanfertigung. Nicht
nur für besondere Berufe.
Wie funktioniert das Hören
mit einer Otoplastik?
Der Schall trifft von aussen auf den
Gehörschutz und wird durch ein Fil­
tersystem je nach technischer Ausfüh­
rung in der Lautstärke reduziert. Es
gibt Filter, welche den Klang linear,
also über alle Töne gleichmässig redu­
zieren, zum Beispiel für Musiker. An­
Individuelle Anfertigungen sind
nicht ganz günstig.
Ein individuell gefertigter Schlafge­
hörschutz kann für ein Paar (zwei Oh­
ren) ab rund 165 Franken kosten; bei
einem Gehörschutz für Industrie und
andere laute Berufe sollte man mit
Kosten ab etwa 260 Franken rechnen.
Spezielle Musiker-Gehörschutze kos­
ten zwischen 295 und etwa 900 Fran­
ken.
In manchen Ratgebern liest man,
dass man die Ohren bei Lärm nicht
immer gleich zuhalten soll, da das
Gehör laute Umgebungsgeräusche
selbst abdämpft. Was ist da dran?
Unsere Ohren verfügen tatsächlich
über eine Art eingebauten Gehör­
schutz. Er nennt sich Stapediusreflex.
Bei lauten Schallen ziehen sich die
Sehnen, an denen unsere Gehörknö­
chelchen im Mittelohr befestigt sind,
zusammen und blockieren so zum Teil
die Übertragung ans Innenohr. Auch
im Innenohr gibt es zusätzliche Me­
chanismen gegen laute Töne. Für den
heutigen Lärm von Maschinen, Mo­
toren, Musik und anderem ist das je­
doch völlig unzureichend. Wenn ein
plötzlicher Ton als unangenehm laut
empfunden wird, ist es höchste Zeit
die Ohren zu schützen. Und das Zu­
halten ist am einfachsten und schnells­
ten. Ausserdem funktioniert der Sta­
pediusreflex nicht bei jeder Person
gleich gut.
Was raten Sie, wenn es in den Ohren
aufgrund von Lärm klingelt und
brummt, wenn sich ein Taubheits­
gefühl einstellt?
Zunächst sollte man den Lärmbereich
verlassen. Es kann sein, dass nach lau­
tem Lärm für einige Minuten oder
Stunden ein dumpfes Hörgefühl oder
Ohrgeräusche wie Läuten, Summen,
Rauschen oder Pfeifen vorhanden
sind. Wenn es nicht innert ein bis zwei
Tagen bei ruhiger Hörumgebung wie­
der normal wird, sollte man einen
Ohrenarzt aufsuchen. Bei einem plötz­
lichen Taubheitsgefühl, auch ohne
Lärm als Ursache, sollte man jedoch
sofort zum Ohrenarzt gehen. Vor allem
wenn gleichzeitig Ohrgeräusche,
Schwindel oder Übelkeit auftreten,
sollte man nicht lange zögern.
Es gibt auch Tiere, die ertauben.
Sind Tiere auch lärmempfindlich?
Es ist bekannt, dass weisse Katzen und
Dalmatiner ein grosses Risiko haben,
gehörlos oder schwerhörig zu sein, re­
spektive schneller zu ertauben. Bei
Feuerwerken, Silvester oder 1. August
sollten die Haustiere vor den Böllern
geschützt werden. Es gibt spezielle
Gehörschutzprodukte für Hunde,
welche sehr wirkungsvoll sind. Es ist
zudem inzwischen erwiesen, dass sich
das Singverhalten und Gehör von Vö­
geln, welche in einer Stadt leben, ver­
ändert, weil sie oft einen lärmbeding­
ten Hörverlust haben. Tiere meiden
normalerweise Lärm, wenn sie die
Möglichkeit dazu haben. Sollten sie
das nicht können, so ist es unsere Ver­
antwortung, sie davor zu schützen
und den Lärm zu vermindern oder zu
vermeiden.
Übrigens gibt es die Möglichkeit,
seinem schwerhörigen Hund Hörgerä­
te anpassen zu lassen, so dass er wieder
eine bessere Lebensqualität hat.
Interview: Karin Huber
* Heike Birnbaum ist Hörgeräteakusti­
kerin mit Eidgenössischem Fachausweis,
Dipl. Pädakustikerin AHAKI, Clinical
Director Healthy Hearing Special
Olympics Switzerland und Inhaberin
von «Akustik Schweiz Der Hörladen
AG». Sie arbeitet zudem als Pädakus­
tikerin an der ORL-Klinik des
Uni­versitätsSpitals Zürich. Infos:
www.derhoerladen.ch; http://www.orl.
usz.ch/fachwissen/seiten/audiologie.aspx;
www.pädakustik.ch; www.hoershop.ch;
www.inearmonitoring.ch.
dezibel 1/2016
dere reduzieren selektiv gewisse Fre­
quenzbänder, einige lassen Gespräche
oder Telefonate problemlos zu und
wieder andere reduzieren je nach
Lautstärke des Lärms unterschiedlich
viel. Ein aktiver Jägergehörschutz zum
Beispiel kann leise oder entfernte
Töne verstärken und bei einem Schuss
unmittelbar und sofort den lauten
Knall auf eine risikofreie Lautstärke
reduzieren.
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