Bildungsexperte Reinhard Kahl: "Immer mehr Kinder leiden an

Freitag, 19. Februar 2016
Theater träumt Schule
Bildungsexperte Reinhard Kahl: "Immer
mehr Kinder leiden an
Erschöpfungsdepressionen"
Wie kann eine Schule der Zukunft aussehen? Wie kann Schule neu gedacht werden? Unter
dem Titel "Theater träumt Schule" geht es zum zweiten Mal nach 2009 im Theater Freiburg
um das Thema Bildung.
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2. Reinhard Kahl Foto: David Ausserhofer
Von Freitag, 19. Februar, bis Sonntag, 21. Februar, wird in Vorträgen, Diskursen, Workshops
und Film- und Musikvorführungen Bildungsfragen nachgegangen. Frank Zimmermann sprach
darüber mit Reinhard Kahl, dem Organisator der drei Tage.
BZ: Der Titel Ihrer dreitägigen Veranstaltung lautet "Aufbruch Bildung – Abschied von der
Erschöpfung." Sind unsere Schülerinnen und Schüler so erschöpft?
Kahl: Ja, natürlich nicht alle. Laut dem Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der
Uniklinik in Hamburg, Michael Schulte-Markwort, kommen zu ihm immer häufiger Kinder
und Jugendliche mit Erschöpfungsdepressionen. Das sind keineswegs schlechte Schüler,
sondern solche, die verzweifeln, wenn sie nur eine 1,5 haben.
BZ: Was lässt sie denn in diese Denkmühle geraten?
Kahl: Die mögliche Freude an Mathe, Literatur oder Musik weicht schon früh einer
Verwertungssicht, man nennt das auch "Optimierung": Die Angst, wenn ich nicht sehr gut
bin, bin ich ein niemand. Wenn ich nur die Bronzemedaille gewonnen habe, bin ich ein
Verlierer von Gold und Silber. Vieles, was schön und interessant sein könnte, wird so zum
bloßen Mittel. Die Gymnasiastin Anna-Rosina Weindl, die an der Eröffnung am Freitagabend
teilnehmen wird, hat einen klugen Essay über diese Not geschrieben: "Ich möchte endlich mal
Wasser trinken wegen des Wassers und nicht, damit ich morgen in der Schule keine
Kopfschmerzen habe."
BZ: Es geht den Schülern immer mehr um Effizienz statt Freude?
Kahl: Viele reagieren mit Coolness, einer Betriebswirtschaftsstrategie: Ein Hochschullehrer
erzählte mir, wie Studierende ihn bitten, er solle, auch wenn es hochinteressant sei, was er
sage, lieber nicht so viel reden, sondern gleich sagen, was er prüft – und das lernen sie dann.
Man muss durchkommen und verwertbar sein, nicht Zeit haben, um seinen Weg zu finden.
BZ: Das klingt beängstigend.
Kahl: Das Problem ist, dass diese Entwicklung eigentlich niemand will. Die Manager von
VW, Mercedes oder Bertelsmann suchen ja eigentlich kreative Leute und keine, die ein Leben
lang fragen: "Mutti, welches Bild soll ich jetzt malen?" Es entsteht auch deshalb dieser Druck,
weil Eltern nicht mehr denken, mein Kind soll es besser haben, sie kämpfen gegen den
gefürchteten Abstieg. Der Soziologe Hartmut Rosa, der auch dabei sein wird, hat folgendes
Bild benutzt: Wir müssen auf einer Rolltreppe gegen die Richtung laufen, um Positionen zu
halten.
BZ: Wie wirkt sich das auf die Schule aus?
Kahl: Schüler sprechen von Bulimie-Lernen: Schnell das Wissen in sich rein und dann
wieder auskotzen, also vergessen. Dieser Entwicklung gilt es etwas entgegenzusetzen. Ein
elfjähriges Schachgenie hat neulich gesagt, er denke nicht daran, ob er mal Weltmeister
werde, das würde ihn am guten Spielen hindern. Das gilt auch für Schüler, man sollte ihnen
sagen: Bitte denkt nicht an Noten, das hindert euch am Lernen. Wir haben leider Schulen, in
denen man überwiegend nicht Nein sagen darf. Die Lehrer sagen, dass die Schüler etwas
machen müssen, weil es im Lehrplan steht, und die Schüler sagen, dass sie das machen
müssen, weil sie in der kommenden Woche eine Prüfung darüber schreiben.
BZ: Was hat "Theater träumt Schule" zum Ziel? Gegenentwürfe zeigen?
Kahl: Lehrer und Schüler sollten die Freiheit haben, das zu tun, was sie für richtig halten. Das
können sie, und dann passieren Sachen wie in Bremen. Das stellen wir vor. Da ist die
Deutsche Kammerphilharmonie in Räume in einer Gesamtschule in einem der sozial
schwächsten Stadtteile gezogen. Sie sind dorthin völlig ohne pädagogische Absicht
gekommen, aber sie haben den Kindern so die Musik gebracht. Mittlerweile gibt es seit sieben
Jahren dort jedes Jahr eine Stadtteiloper in einem Zirkuszelt für mehr als 1000 Zuschauer.
Oder nehmen wir eine Schule in Potsdam: Schüler der siebten und achten Klasse kultivieren
eine Woche im Monat ein riesiges Grundstück und betreiben richtig Landwirtschaft.
Handwerker, Wissenschaftler, Künstler könnten einen anderen Kosmos in die Schulen tragen,
wenn mit ihnen folgenreich gehandelt wird. Kinder und Jugendliche – das will ich keineswegs
als Kritik an Lehrern verstanden wissen – haben ein Menschenrecht, interessante Erwachsene
kennenzulernen.
BZ: Braucht es nicht große Veränderungen, die von der Politik eingeleitet werden?
Kahl: Es geht darum, mutiger zu sein und etwas zu wagen, das auch schief gehen könnte.
Denn das kann wirklich gelingen. Es braucht Veränderungen von allen Seiten, nicht nur von
der Politik. Sie wird erst tätig, wenn von unten ein Sog kommt und sich die Stimmung
verändert. Natürlich sind wir am Wochenende eine Mannschaft von lauter Davids, aber wie
man weiß, können kleine Davids Großes bewirken.
BZ: Das heißt, Sie werden alternative Lernmodelle vorstellen?
Kahl: Keine Modelle, Geschichten. Man kann sich von ihnen anstecken lassen, aber nicht
einfach kopieren. Am Samstagnachmittag gibt es Workshops und Diskurse, an denen man
sich beteiligen kann. Van Bo Le-Mentzel, er hat gerade den Zukunftspreis der Zeit bekommen
h für seine Erfindung der Hartz-IV-Möbel, wird in einem Workshop mit den Teilnehmern ein
Möbelstück kreieren und bauen. Es geht darum, die Köpfe frei zu machen und den Horizont
zu weiten. Es geht nicht um große Reformen, sondern um kleine, ehrliche Schritte im Alltag.
Schüler sollen sagen können: Wir wollen keinen Unterricht mehr, von dem wir wissen, dass
wir den Inhalt in einem Vierteljahr vergessen haben.
BZ: An wen wenden Sie sich?
Kahl: An alle. Schule ist wirklich eine Einrichtung der Gesellschaft, ein Ort, wo Zukunft
entsteht. Daran müssen alle ein Interesse haben. Schulen müssen das werden, was im
Hochmittelalter die Kathedralen waren: Orte, an denen eine Gesellschaft zeigt, was sie schön
findet, Orte vieler Möglichkeiten. Unsere Schulen funktionieren aber überwiegend nach dem
Takt einer Industriegesellschaft und nicht nach der Idee von "Scholae", was bei den Griechen
bedeutete: Muße, frei sein von Geschäften.
Zur Person
Reinhard Kahl, 67, lebt in Hamburg, er ist Erziehungswissenschaftler, Journalist, Publizist
und "Gründer des Archivs der Zukunft".
Theater träumt Schule
Freitag, 19. Februar, 19.30 Uhr, Theater Freiburg, Großes Haus. Gesprächsrunde mit der
Schülerin Anna-Rosina Weindl, dem Soziologen Hartmut Rosa, dem Biologen/Philosophen
Andreas Weber, Lehrer Peter Koderisch. Deutsche Kammerphilharmonie Bremen und
Gesamtschule Bremen-Ost stellen ihre ungewöhnliche WG vor.
Samstag, 20. Februar: Vortrag von H. Rosa über Resonanzpädagogik (Großes Haus, 10.30
Uhr), Musikwerkstatt (Foyer, 10.30 Uhr), Vortrag von A. Weber (Großes Haus, 12 Uhr).
Workshops und Diskurse, 14-18 Uhr: "Musik bildet" im Werkraum mit Linda Reisch
(Musikkindergarten Berlin), Silke Schmid (Musikhochschule Basel), Andreas Doerne
(Musikhochschule Freiburg), Susanne Klepper (Lehrerin), Lea Fink (Zukunftslabor);
"Forschung bildet" mit Maria Matzenmiller (Freiburger Forschungsräume), Dieter Plappert
(Physiker) in der Probebühne 3; "Beziehungen bilden" in der Kammerbühne mit Claus Koch
(Psychologe), Stefanie v. Mertens (SC Freiburg), Günther Giselbrecht (FT-Sportgrundschule);
"Orte bilden" im Winterer-Foyer mit Bernhard Hanel, Karin Doberer, Krishna Saraswati,
Thomas Sonnentag; "Mathematik als Abenteuer" in der Probebühne 1 mit Martin Kramer;
"Produzieren statt konsumieren" in der Montagehalle mit Van Bo Le-Mentzel ( Künstler).
Sonntag, 21. Februar, 11 Uhr: "Schulen der Zukunft" mit Kindheitsforsche Remo Largo u.a.
Tickets:10 und 5 Euro. http://www.theater.freiburg.de