SPIELZEIT 2014.2015 DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER nach Johann Wolfgang von Goethe Begleitmaterial zum Stück Mario Neumann Inszenierung Bühne & Kostüm Eike Hannemann Birgit Stoessel Szenenfoto: Mario Neumann Alle Fotos © Ludwig Ohla Premiere: 18.10.2014 Wiederaufnahme: 3.10.2015 Inhalt Zum Inhalt Zur Inszenierung Zum Autor – Johann Wolfgang von Goethe Spielerische Vorbereitung Beziehungskonstellationen Szenenimprovisation Was wäre wenn… Tatortrekonstruktion Fragen zur Vor- und Nachbereitung Thematisches Freiheit? Der Freitod Werthers Der Werther-Effekt: Fiktion oder Realität? Die Wertheriaden Der Wert eines gebrochenen Herzens Seite 3 Seite 3 Seite 4 Seite 5 Seite 7 Szenenfoto: Mario Neumann 2 ZUM INHALT Bald nachdem der junge Werther sich im Dorf Wahlheim niedergelassen hat, mitten im Frühling, mitten in der Natur, lernt er Lotte kennen. In einer gewitterdurchschauerten Ballnacht verliebt er sich in sie, tanzend und Klopstock zitierend. Doch zu Werthers großem Unglück ist Lotte bereits verlobt mit dem sehr redlichen Albert, den zu heiraten sie ihrer Mutter am Sterbebett versprochen hat. Mit ihm freundet er sich an, während er weiter in vergeblicher Liebe Lotte wie eine Heilige verehrt. Als Werther aber nach all der Zeit der Zurückhaltung ihr in seiner Leidenschaft zu nahe kommt, entzieht sie sich ihm. Werther sieht nun, da er auch den Freund verraten hat, für sich keinen anderen Ausweg als den Tod. Als Goethes Briefroman 1774 erschien, avancierte er innerhalb kürzester Zeit zum Bestseller und machte seinen Verfasser berühmter als es ihm lieb war. Die Frage nach der Verantwortung für sein eigenes Leben wird im WERTHER mit tragischer Dringlichkeit gestellt. ZUR INSZENIERUNG Junge flieht aus seinem bisherigen Leben aufs Land in einen kleinen Ort. Junge trifft Mädchen. Junge verliebt sich in Mädchen. Mädchen ist ihm zwar zugetan, aber verlobt. Junge verbringt trotzdem viel Zeit mit Mädchen. Verlobter kommt dazu. Junge versteht sich sehr gut mit Verlobten. Junge leidet über alle Maßen. Junge verlässt den Ort. Junge hält es nicht aus ohne Mädchen. Kehrt zurück. Junge leidet noch mehr und sieht nur einen Ausweg. Junge begeht Selbstmord. So könnte man DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER zusammenfassen. Aber natürlich steckt noch mehr dahinter. Neben einer unfassbar großen Liebe, die in Selbstzerstörung mündet, findet man auch noch viele Naturbeschreibungen in Goethes Briefroman und eine uns doch heute sehr fremde Sprache. Wer geht denn heutzutage noch bewusst hinaus in den Wald und kann sich so schön in Naturbetrachtungen ergehen, wie die Schriftsteller aus vergangen Zeiten. Versteht man das heute überhaupt noch? Dies ist eine zentrale Frage, die sich Regisseur Eike Hannemann bei der Lektüre des Werthers nicht nur einmal stellte. Wie kann man diese Sprache heute greifen und für den Zuschauer verständlich machen? Um dem auf den Grund zu gehen wird eine Labor auf die Bühne der Garage gebaut: Obduktionstisch, beschreibbare Wände à la CSI und noch allerlei mehr, um den „Tatort“ Werther zu untersuchen. Denn das ist der inszinatorische Ansatz, um in die innere Welt der Figur Werther einzutauchen. Was bewegt ihn? Kann er seinem unvermeidlichen Tod wirklich nicht entrinnen? Dem auf die Spur begibt sich Hannemann mit seinem Schauspieler Mario Neumann. Aus neutraler Betrachtung entsteht ein Sog zu und in Werther, dem sich der Schauspieler und das Publikum nicht entziehen können. 3 ZUM AUTOR - JOHANN WOLFGANG (VON) GOETHE - geboren den 28. August 1749 in Frankfurt am Main - Mutter Catharina Elisabeth, geb. Textor (1731-1808); Vater Johann Caspar (17101782), Jurist - 1765: auf Drängen des Vaters nahm er das Studium der Juristerei in Leipzig auf - ab 1771: vierjährige Tätigkeit als Anwalt - 1772: Goethe verliebt sich unglücklich in die verlobte Charlotte Buff, "Lotte" - aus dieser und einer anderen Liebesgeschichte schrieb er die Leiden des jungen Werthers in nur vier Wochen - 1776: wird von Herzog Karl August von Sachsen-Weimar als Minister nach Weimar gerufen - dort verliebt sich Goethe in die unglücklich verheiratete Charlotte von Stein - 1786: Aufbruch zu seiner Italienreise, Rückkehr April 1788 - 1806: Heirat mit Christiane Vulpius - 1815: Liebe zu Marianne, Frau seines Freundes von Willemer, führte zur Entstehung von "West-östlicher Divan - 22. März 1832: Goethe verstirbt in Weimar Auswahl aus seinem Werk: 1774: Die Leiden des jungen Werthers 1779: Iphigenie auf Tauris (Drama) 1790: Torquato Tasso (Drama) 1808: Faust I (Drama) Szenenfoto: Mario Neumann 4 SPIELERISCHE VORBEREITUNG BEZIEHUNGSKONSTELLATION Teilt euch in 2er Gruppen auf. Im ersten Teil der Aufgabe bekommt jede Gruppe eine Figurenkonstellation zugewiesen, ohne dass die anderen wissen, welche. Im zweiten Teil der Aufgabe werden neue Gruppen gebildet: 3er Gruppen. Jede Gruppe überlegt sich Folgendes: 1. Stellt jeweils drei Standbilder (eine Statue – ohne Bewegung und Sprache) zu folgenden Beziehungskonstellationen, die verdeutlichen, wer zu wem wie steht: Werther – Lotte Werther – Albert Lotte – Albert Werther – Lotte – Albert Das Publikum versucht zu deuten, welche Personen und welche Beziehungen dargestellt werden. 2. Stellt in drei aufeinander folgenden Standbildern dar, wie sich die Dreierbeziehung Werther – Lotte – Albert im Verlaufe der Geschichte verändert! Versucht herauszufinden, welche Situationen die jeweilige Gruppe aus dem Text genommen hat, um die Konstellationen zu verdeutlichen. SZENENIMPROVISATION Teilt euch in Kleingruppen à 4-5 Spieler und entwickelt eine Szene zu den unten stehenden Situationen. Überlegt euch folgende Punkte für eure Szene: - Wo spielt die Szene? - Wer spielt mit? - Welche Absichten verfolgen die Figuren? - Was passiert in der Szene und warum? - Wie endet die Szene? 1. Du bist Lotte, eine junge Frau, die ihren Verlobten, Albert, sehr mag. Da tritt Werther in Dein Leben, der viel Zeit für Dich hat und so ganz anders als Albert ist … 2. Du bist Werther, der sich in Lotte verliebt hat. Doch Lotte ist Albert versprochen und sie scheint glücklich in dieser Beziehung zu sein … 3. Du bist Albert, ein Mann, der Arbeit hat und mit einer schönen Frau verlobt ist. Da taucht ein junger Mann auf, der in den Tag hinein lebt und sich in Deine zukünftige Frau verliebt. 4. Du bist Wilhelm, ein junger Mann, der aus Briefen erfährt, wie es seinem besten Freund geht. In seinen letzten Briefen schien er zunehmend unglücklicher, ja sogar lebensmüde. Du entschließt Dich, etwas zu unternehmen … WAS WÄRE WENN… Teilt euch in Kleingruppen aus jeweils zu 5 Spielern. Jeder Gruppe wird ein WAS WÄRE WENN… zugeteilt. Überlegt euch die entsprechende Fortsetzung und den Ausgang der Geschichte und erfindet eine Präsentationsmöglichkeit für die anderen. Was wäre wenn Lotte Albert verlassen und Werther heiraten würde? Was wäre wenn Werther, wie es Goethe ihm in den Mund legt, Albert umbringen würde? Was wäre wenn Werther niemals zurück nach Wahlheim gehen würde? Was wäre wenn Wilhelm Werther ins Gewissen reden würde? Was wäre wenn Albert Lotte den Umgang mit Werther verbieten würde? 5 TATORTREKONSTRUKTION Der Erlanger Inszenierungsansatz ist die Rekonstruktion des Geschehens. Im Folgenden findet ihr den letzten Abschnitt aus dem Briefroman, indem beschrieben wird, wie Werther gefunden wurde. Teilt euch in Kleingruppen auf zu 5-6 Spielern und entwickelt eure eigene Szene. Rekonstruiert die Geschichte. Ob als Ermittlerteam, welches den Tatort untersucht, eurer Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Ein Nachbar sah den Blick vom Pulver und hörte den Schuss fallen; da aber alles stille blieb, achtete er nicht weiter drauf. Morgens um sechse tritt der Bediente herein mit dem Lichte. Er findet seinen Herrn an der Erde, die Pistole und Blut. Er ruft, er fasst ihn an; keine Antwort, er röchelt nur noch. Er läuft nach den Ärzten, nach Alberten. Lotte hört die Schelle ziehen, ein Zittern ergreift alle ihre Glieder. Sie weckt ihren Mann, sie stehen auf, der Bediente bringt heulend und stotternd die Nachricht, Lotte sinkt ohnmächtig vor Alberten nieder. Als der Medikus zu dem Unglücklichen kam, fand er ihn an der Erde ohne Rettung, der Puls schlug, die Glieder waren alle gelähmt. Über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben. Man ließ ihm zum Überfluss eine Ader am Arme, das Blut lief, er holte noch immer Atem. Aus dem Blut auf der Lehne des Sessels konnte man schließen, er habe sitzend vor dem Schreibtische die Tat vollbracht, dann ist er heruntergesunken, hat sich konvulsivisch um den Stuhl herumgewälzt. Er lag gegen das Fenster entkräftet auf dem Rücken, war in völliger Kleidung, gestiefelt, im blauen Frack mit gelber Weste. Das Haus, die Nachbarschaft, die Stadt kam in Aufruhr. Albert trat herein. Werthern hatte man auf das Bett gelegt, die Stirn verbunden, sein Gesicht schon wie eines Toten, er rührte kein Glied. Die Lunge röchelte noch fürchterlich, bald schwach, bald stärker; man erwartete sein Ende. Von dem Weine hatte er nur ein Glas getrunken. »Emilia Galotti« lag auf dem Pulte aufgeschlagen. Von Alberts Bestürzung, von Lottens Jammer lasst mich nichts sagen. Der alte Amtmann kam auf die Nachricht hereingesprengt, er küßte den Sterbenden unter den heißesten Tränen. Seine ältesten Söhne kamen bald nach ihm zu Fuße, sie fielen neben dem Bette nieder im Ausdrucke des unbändigsten Schmerzens, küßten ihm die Hände und den Mund, und der älteste, den er immer am meisten geliebt, hing an seinen Lippen, bis er verschieden war und man den Knaben mit Gewalt wegriss. Um zwölfe mittags starb er. Die Gegenwart des Amtmannes und seine Anstalten tuschten einen Auflauf. Nachts gegen eilfe ließ er ihn an die Stätte begraben, die er sich erwählt hatte. Der Alte folgte der Leiche und die Söhne, Albert vermocht's nicht. Man fürchtete für Lottens Leben. Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet. FRAGEN ZUR VOR- UND NACHBEREITUNG Ist die aus dem 18. Jahrhundert stammende literarische Figur Werther heutig? Entdeckst du in der Figur des Werthers Ähnlichkeiten mit dir? Oder ist er dir fremd? Erreicht die Originalsprache heute noch Jugendliche? Oder hast du Probleme damit? Ist der Selbstmord Werthers eine Flucht aus einer unerträglichen Situation? Oder siehst du darin noch etwas anderes? Woran, glaubst du, scheitert Werther letztendlich? Ist der Sturm und Drang die erste Jugendbewegung? 6 Szenenfoto: Mario Neumann THEMATISCHES FREIHEIT? DER FREITOD WERTHERS Wer aber erkennt, wo das alles hinausläuft – der ist glücklich, weil er ein Mensch ist. So eingeschränkt er ist, hält er doch immer im Herzen das süße Gefühl der Freiheit und dass er diesen Kerker verlassen kann, wann er will. (Aus: DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER) Der Selbstmord Werthers zog zu Zeiten Goethes eine regelrechte Selbstmordwelle nach sich. Dies war ausschlaggebend dafür, dass der Roman verboten wurde. Stellt sich die Frage, warum so viele junge Menschen ihrem Leben freiwillig ein Ende gesetzt haben. Warum hat Goethe seinem Werther keinen anderen Ausweg gegeben. Der Mensch kann aus zwei Optionen wählen: Bleiben und Gehen. Aber, nur weil er sich als einziges Lebewesen dessen bewusst ist, darf er das? Goethe gibt dem Selbstmord in seinem Werther ein Forum und enttabuisiert ihn damit. Sein Werthertext machte den Akt der Selbstzerstörung für die Leser nachvollziehbar. Die Leser schwankten zwischen absoluter Identifikation und absoluter Ablehnung mit der Titelfigur. Goethes Werther zeigt sich selbstbewusst in seinem Leiden, trägt es öffentlich zur Schau. Man kann soweit gehen, dass er seinen Selbstmord geradezu inszeniert. Dies war im 18. Jahrhundert eine absolute Neuerung, ein offener Verstoß gegen das religiöse und gesellschaftliche Normensystem! Nachdem das Wertherfieber die ersten Selbstmorde zu verzeichnen hatte, musste die Obrigkeit eingreifen: Verbot des Buches! Die theologische Fakultät der Leipziger Universität konnte in ihrem Zensurantrag auf gewichtige Gründe verweisen: Der Roman wird als Vorbildgeschichte gelesen, heißt es da. Die Apologie des Selbstmordes verstößt gegen das Christentum und ermuntert zu dem Verbrechen. Mit dieser Argumentation hatte die Universität dann auch Erfolg. Der Roman wurde verboten. Denn Selbstmörder galten als Unchristen, der wider alle Pflichten handelte und sich gegen sich selbst, gegen Gott und seine Mitmenschen versündigte. Bestenfalls gestand man ihm eine Schwäche des Geistes, eine Verwirrung der Gefühle zu. Goethe gestattet aber seinem Werther so eine ganz andere Freiheit: Der Mensch als Herr über seine Person, sein Leben bis zur letzten Konsequenz. 7 Aber am Suizid scheiden sich bis heute die Geister. Der Schriftsteller Camus bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, fällt im Werther allein in die Verantwortung des Lesers. DER WERTHER-EFFEKT: Fiktion oder Realität? Es besteht kein Zweifel: Als Goethes Briefroman veröffentlicht wurde, löste der darin beschriebene Freitod eine Reihe von Suiziden aus, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in mehreren europäischen Ländern. Genaue Daten sind natürlich rückblickend nicht mehr objektivierbar. Einige Wissenschaftler sprechen aber von einer regelrechten "Suizid-Epidemie". Andere warnen vor Übertreibungen. Dass es "Wertherinduzierte Selbsttötungen" gab, ist aber nicht zu leugnen. Und noch schlimmer: Es gibt sie noch immer (junge Frau vergiftet sich; man findet sie tot - mit dem Kopf auf Goethes "Werther" liegend). Nicht wenige der damaligen Suizidenten (von den statistisch erfassten Fällen her allein schon eine zweistellige Zahl) kleideten sich übrigens genauso wie die tragische Romanfigur (blaue Jacke und gelbe Weste) und führten meist das Buch bei ihrem selbst gewählten Lebensende bei sich. Die Reaktionen waren entsprechend. Es kam sogar zu Anschuldigungen auf durchaus literarischem Niveau ("auch mein Sohn hatte mehrere Stellen im Werther angestrichen … Von euch wird Gott Rechenschaft fordern über die Anwendung eurer Talente"). Goethe blieb natürlich seine fatale Medienwirkung nicht verborgen (siehe Kasten), wobei er später - nachvollziehbarer Weise - auch gereizt reagieren konnte. Es ist aber keine Frage, dass ihm diese "Schreib-Therapie" in eigener Sache geholfen hat, wie er gelegentlich bestätigt haben soll. Goethe: "Die Wirkung dieses Büchleins war groß, ja ungeheuer". Oder: "So verwirrten sich meine Freunde daran, indem sie glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln (…) und sich allenfalls selbst erschießen: und was hier im Anfang unter Wenigen vorging, ereignete sich nachher im großen Publikum". Auf jeden Fall war der "Werther-Effekt" geboren, aktenkundig schon damals und unter den Zeitgenossen als "Wertherfieber" bezeichnet. In manchen Regionen und Städten wurde das Buch sogar verboten (z. B. Leipzig, Kopenhagen, Mailand). An einigen Orten drohte eine Geldstrafe bei widerrechtlichem Verkauf und Handel mit diesem Buch, da (wörtlich) "Itzo die Exempel des Selbstmordes frequenter werden" (Leipziger Stadtrat, Januar 1975). Bisweilen wurde das Verbot sogar auf die erwähnte Kleidung ("Werther-Tracht") ausgedehnt. Mit anderen Worten: Man hatte gehörigen Respekt, ja Angst vor entsprechenden Nachahmungstaten, zumal speziell in der damaligen "Sturm- und Drangzeit" der Werther eine Art Kultbuch unter den jungen Intellektuellen wurde. Wissenschaftlich aber ging man erst vor etwa 30 Jahren an dieses Phänomen heran. Und man prägte den Begriff "Werther-Effekt" zur Kennzeichnung von "medial vermittelten Nachahmungs-Suiziden". Inzwischen stellt sich heraus, dass es sich hier nicht um ein historisch interessantes Phänomen handelt, sondern dieser Imitations-Effekt gerade in modernen MedienGesellschaften eine noch ernstere Bedeutung zu bekommen droht. Quelle: http://www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/werther.html 8 DIE WERTHERIADEN Was sind Wertheriaden? Als Wertheriaden bezeichnet man Werke, die auf formaler oder inhaltlicher Ebene Goethes Roman DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS zum Vorbild haben. (…) Allgemein umfassen Wertheriaden sowohl Lyrik, Drama, Prosa, als auch Oper, Lieder und später auch den Film. Wertheriaden kann man in zwei Kategorien unterscheiden. Zum Einen gibt es Nachwerke, die Werther als eine Kultfigur hochstilisieren. In diesen steht die Empfindsamkeit im Vordergrund. In anderen Dichtungen hingegen werden Werther und sein Verhalten verurteilt, indem dieser bestraft wird oder er sein Fehlverhalten einsieht. Fast alle Wertheriaden arbeiten mit verschiedenen stilistischen Mitteln. Einige übernehmen die Textart des Briefromans, andere sind jedoch nur Romane oder eher lyrische oder dramatische Texte. In einigen wird ein Großteil der Handlung übernommen und entweder neu formuliert oder in kritisierender Weise verändert. Andere beziehen das Schicksal Werthers auf ihren eigenen Protagonisten. DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER war eines von Goethes erfolgreichsten Werken. Es wurde zur Inspiration für die gesamte Generation des Sturm und Drang. Schiller erklärte dies mit dem „gefährliche[n] Extrem des sentimentalen Charakters“, das genau das Lebensgefühl der Generation traf. Die große Wirkung des Werther zeigte sich vor allem in einer Welle des Suizids in der Jugend Europas. Diese wird von Historikern als „Werther-Effekt“ bzw. „Werther-Fieber“ bezeichnet und markiert gleichzeitig den wichtigsten Kritikpunkt des Romans. In der Zeit des Sturm und Drang wurde der Suizid oder auch Freitod, weniger als Sünde, sondern vielmehr als Vollendung der individuellen Freiheit des Menschen angesehen. Seit dem Zeitalter der Empfindsamkeit, das in DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER seinen Höhepunkt findet, wird der extreme individuelle Charakter (z.B.Narzissmus) nicht mehr verurteilt sondern ist in der Lage sich der Öffentlichkeit verständlich zu machen. Diese immense Wirkung in der Bevölkerung war die Basis für Folgewerke auf den Werther und nur so kam es zu der Erfindung des Begriffes „Wertheriaden“. Quelle: http://schaperjahn.de/werther/2013/01/14/was-sind-wertheriaden/ DER WERT EINES GEBROCHENEN HERZENS Sie randalieren, drohen mit Selbstmord, schreiben wirre Briefe - und sie weinen, weinen, weinen. Wer unter Liebeskummer leidet, scheint jede Verhältnismäßigkeit weit hinter sich gelassen zu haben. Seit einigen Jahren können Wissenschaftler bestätigen, was Poeten schon seit Jahrtausenden wissen: Liebeskummer schmerzt, er macht Menschen krank und verrückt. Er kann einen sogar umbringen. (…) Psychologen teilen den seelischen Ausnahmezustand professionell distanziert in verschiedene Phasen ein. Zunächst wollen die Verlassenen nicht wahrhaben, dass es vorbei ist. Es ist die Zeit, in der der Verflossene mit Briefen und Anrufen bombardiert wird. Verantwortlich sind die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin, die im Laufe der Evolution eigentlich dazu dienten, ebenso verzweifelt wie energisch ein verlorenes Muttertier zurückzurufen. Mit der gleichen existentiellen Wucht versuchen verlassene Menschen, den Partner zurückzuerobern. Lasst sich das Ende einer Liebe nicht mehr leugnen, fallt der Dopaminspiegel drastisch ab, meist folgt die Depression. Die Betroffenen können weder schlafen noch essen, zermartern sich das Gehirn nach dem Warum. Manche hetzen rastlos umher, andere verkriechen sich. Am Ende dieser zweiten Phase empfinden sie Wut und Rachegefühle … In einer Studie an Liebeskummerkranken stellte der Verhaltensforscher Michael Bechinie von der Universität Wien schon vor Jahren fest, dass 45 Prozent der Studienteilnehmer Selbstmordgedanken hegten und Trauerreaktionen ähnlich wie beim Tod eines Angehörigen zeigten. (…) 9 Die Anthropologin Helen Fisher an der Rutgers University und Lucy Brown, Neurowissenschaftlerin am Albert Einstein College of Medicine in New York, (liesen) CollegeStudenten Fotos ihrer Verflossenen betrachten und legten ausreichend Taschentücher in Reichweite. Der im Hintergrund arbeitende Kernspintomograph zeichnete in den Gehirnen der jungen Menschen eindeutige Aktivitäten auf: Es arbeiteten vor allem die Areale, die für Motivation zuständig sind, aber auch das nach Erfüllung strebende Dopaminsystem sowie die Inselrinde und der Cortex cingularis anterior (ACC), der bei physischem Schmerz und Stress eine Rolle spielt. "Liebe wirkt nicht wie ein bestimmtes Gefühl, sondern eher wie eine Droge", erklärt Brown die Ergebnisse, "und entsprechend zeigten unsere Probanden mit Liebeskummer ähnliche Aktivitätsmuster wie beim Drogenentzug." Liebe macht süchtig - und Liebesentzug macht krank. (…) Ein gebrochenes Herz kann tödlich sein. Beim Syndrom des gebrochenen Herzens reagiert der Körper auf ein emotional belastendes Ereignis wie zum Beispiel die Trennung von einem geliebten Menschen. Plötzlich wird das Herz mit den Stresshormonen Adrenalin und Noradrenalin überschwemmt. Brustschmerzen und Atemnot sind die Folge. (…) (Brown) empfiehlt in schweren Fallen den kalten Entzug, also keine Treffen, keine Bilder ansehen, nicht in Erinnerungen schwelgen. Stattdessen sollten Liebeskranke vor allem für Ablenkung sorgen und soziale Kontakte pflegen, um Seele und Hormone wieder ins Gleichgewicht zu bringen. In Browns Studie zeigte sich, dass auch Entlieben ein Lernprozess des Gehirns ist. Je langer die Trennung bei den College-Studenten zurücklag, desto weniger sprachen die für Paarbindung zuständigen Gehirnregionen auf den Anblick des Ex-Partners an. Offenbar haben die Poeten auch in dieser Hinsicht recht. Die Zeit heilt alle Wunden, auch die der Liebe. Quelle: http://www.sueddeutsche.de/wissen/gemischte-gefuehle-liebeskummer-derwert-einesgebrochenen-herzens-1.989760 Szenenfoto 10
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