Materialmappe Theater Erlangen DIE LEIDEN DES JUNGEN

SPIELZEIT 2014.2015
DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER
nach Johann Wolfgang von Goethe
Begleitmaterial zum Stück
Mario Neumann
Inszenierung
Bühne & Kostüm
Eike Hannemann
Birgit Stoessel
Szenenfoto: Mario Neumann
Alle Fotos © Ludwig Ohla
Premiere: 18.10.2014
Wiederaufnahme: 3.10.2015
Inhalt
Zum Inhalt
Zur Inszenierung
Zum Autor – Johann Wolfgang von Goethe
Spielerische Vorbereitung
Beziehungskonstellationen
Szenenimprovisation
Was wäre wenn…
Tatortrekonstruktion
Fragen zur Vor- und Nachbereitung
Thematisches
Freiheit? Der Freitod Werthers
Der Werther-Effekt: Fiktion oder Realität?
Die Wertheriaden
Der Wert eines gebrochenen Herzens
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Szenenfoto: Mario Neumann
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ZUM INHALT
Bald nachdem der junge Werther sich im Dorf Wahlheim niedergelassen hat, mitten
im Frühling, mitten in der Natur, lernt er Lotte kennen. In einer gewitterdurchschauerten Ballnacht verliebt er sich in sie, tanzend und Klopstock zitierend. Doch zu Werthers
großem Unglück ist Lotte bereits verlobt mit dem sehr redlichen Albert, den zu heiraten sie ihrer Mutter am Sterbebett versprochen hat. Mit ihm freundet er sich an, während er weiter in vergeblicher Liebe Lotte wie eine Heilige verehrt. Als Werther aber
nach all der Zeit der Zurückhaltung ihr in seiner Leidenschaft zu nahe kommt, entzieht
sie sich ihm. Werther sieht nun, da er auch den Freund verraten hat, für sich keinen
anderen Ausweg als den Tod.
Als Goethes Briefroman 1774 erschien, avancierte er innerhalb kürzester Zeit zum
Bestseller und machte seinen Verfasser berühmter als es ihm lieb war. Die Frage nach
der Verantwortung für sein eigenes Leben wird im WERTHER mit tragischer Dringlichkeit gestellt.
ZUR INSZENIERUNG
Junge flieht aus seinem bisherigen Leben aufs Land in einen kleinen Ort. Junge trifft
Mädchen. Junge verliebt sich in Mädchen. Mädchen ist ihm zwar zugetan, aber verlobt. Junge verbringt trotzdem viel Zeit mit Mädchen. Verlobter kommt dazu. Junge
versteht sich sehr gut mit Verlobten. Junge leidet über alle Maßen. Junge verlässt
den Ort. Junge hält es nicht aus ohne Mädchen. Kehrt zurück. Junge leidet noch
mehr und sieht nur einen Ausweg. Junge begeht Selbstmord.
So könnte man DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER zusammenfassen. Aber natürlich
steckt noch mehr dahinter. Neben einer unfassbar großen Liebe, die in Selbstzerstörung mündet, findet man auch noch viele Naturbeschreibungen in Goethes Briefroman und eine uns doch heute sehr fremde Sprache. Wer geht denn heutzutage
noch bewusst hinaus in den Wald und kann sich so schön in Naturbetrachtungen
ergehen, wie die Schriftsteller aus vergangen Zeiten. Versteht man das heute überhaupt noch? Dies ist eine zentrale Frage, die sich Regisseur Eike Hannemann bei der
Lektüre des Werthers nicht nur einmal stellte.
Wie kann man diese Sprache heute greifen und für den Zuschauer verständlich machen? Um dem auf den Grund zu gehen wird eine Labor auf die Bühne der Garage
gebaut: Obduktionstisch, beschreibbare Wände à la CSI und noch allerlei mehr, um
den „Tatort“ Werther zu untersuchen. Denn das ist der inszinatorische Ansatz, um in
die innere Welt der Figur Werther einzutauchen. Was bewegt ihn? Kann er seinem
unvermeidlichen Tod wirklich nicht entrinnen? Dem auf die Spur begibt sich Hannemann mit seinem Schauspieler Mario Neumann. Aus neutraler Betrachtung entsteht
ein Sog zu und in Werther, dem sich der Schauspieler und das Publikum nicht entziehen können.
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ZUM AUTOR - JOHANN WOLFGANG (VON) GOETHE
- geboren den 28. August 1749 in Frankfurt am Main
- Mutter Catharina Elisabeth, geb. Textor
(1731-1808); Vater Johann Caspar (17101782), Jurist
- 1765: auf Drängen des Vaters nahm er
das Studium der Juristerei in Leipzig auf
- ab 1771: vierjährige Tätigkeit als Anwalt
- 1772: Goethe verliebt sich unglücklich
in die verlobte Charlotte Buff, "Lotte"
- aus dieser und einer anderen Liebesgeschichte schrieb er die Leiden des jungen
Werthers in nur vier Wochen
- 1776: wird von Herzog Karl August von
Sachsen-Weimar als Minister nach Weimar gerufen
- dort verliebt sich Goethe in die unglücklich verheiratete Charlotte von Stein
- 1786: Aufbruch zu seiner Italienreise, Rückkehr April 1788
- 1806: Heirat mit Christiane Vulpius
- 1815: Liebe zu Marianne, Frau seines Freundes von Willemer, führte zur Entstehung
von "West-östlicher Divan
- 22. März 1832: Goethe verstirbt in Weimar
Auswahl aus seinem Werk:
1774: Die Leiden des jungen Werthers
1779: Iphigenie auf Tauris (Drama)
1790: Torquato Tasso (Drama)
1808: Faust I (Drama)
Szenenfoto: Mario Neumann
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SPIELERISCHE VORBEREITUNG
BEZIEHUNGSKONSTELLATION
Teilt euch in 2er Gruppen auf. Im ersten Teil der Aufgabe bekommt jede Gruppe eine
Figurenkonstellation zugewiesen, ohne dass die anderen wissen, welche.
Im zweiten Teil der Aufgabe werden neue Gruppen gebildet: 3er Gruppen.
Jede Gruppe überlegt sich Folgendes:
1. Stellt jeweils drei Standbilder (eine Statue – ohne Bewegung und Sprache) zu folgenden Beziehungskonstellationen, die verdeutlichen, wer zu wem wie steht:
Werther – Lotte
Werther – Albert
Lotte – Albert
Werther – Lotte – Albert
Das Publikum versucht zu deuten, welche Personen und welche Beziehungen dargestellt werden.
2. Stellt in drei aufeinander folgenden Standbildern dar, wie sich die Dreierbeziehung
Werther – Lotte – Albert im Verlaufe der Geschichte verändert!
Versucht herauszufinden, welche Situationen die jeweilige Gruppe aus dem Text genommen hat, um die Konstellationen zu verdeutlichen.
SZENENIMPROVISATION
Teilt euch in Kleingruppen à 4-5 Spieler und entwickelt eine Szene zu den unten stehenden Situationen. Überlegt euch folgende Punkte für eure Szene:
- Wo spielt die Szene?
- Wer spielt mit?
- Welche Absichten verfolgen die Figuren?
- Was passiert in der Szene und warum?
- Wie endet die Szene?
1. Du bist Lotte, eine junge Frau, die ihren Verlobten, Albert, sehr mag. Da tritt
Werther in Dein Leben, der viel Zeit für Dich hat und so ganz anders als Albert ist …
2. Du bist Werther, der sich in Lotte verliebt hat. Doch Lotte ist Albert versprochen und
sie scheint glücklich in dieser Beziehung zu sein …
3. Du bist Albert, ein Mann, der Arbeit hat und mit einer schönen Frau verlobt ist. Da
taucht ein junger Mann auf, der in den Tag hinein lebt und sich in Deine zukünftige
Frau verliebt.
4. Du bist Wilhelm, ein junger Mann, der aus Briefen erfährt, wie es seinem besten
Freund geht. In seinen letzten Briefen schien er zunehmend unglücklicher, ja sogar
lebensmüde. Du entschließt Dich, etwas zu unternehmen …
WAS WÄRE WENN…
Teilt euch in Kleingruppen aus jeweils zu 5 Spielern. Jeder Gruppe wird ein WAS WÄRE
WENN… zugeteilt. Überlegt euch die entsprechende Fortsetzung und den Ausgang
der Geschichte und erfindet eine Präsentationsmöglichkeit für die anderen.
Was wäre wenn Lotte Albert verlassen und Werther heiraten würde?
Was wäre wenn Werther, wie es Goethe ihm in den Mund legt, Albert umbringen
würde?
Was wäre wenn Werther niemals zurück nach Wahlheim gehen würde?
Was wäre wenn Wilhelm Werther ins Gewissen reden würde?
Was wäre wenn Albert Lotte den Umgang mit Werther verbieten würde?
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TATORTREKONSTRUKTION
Der Erlanger Inszenierungsansatz ist die Rekonstruktion des Geschehens. Im Folgenden findet ihr den letzten Abschnitt aus dem Briefroman, indem beschrieben wird,
wie Werther gefunden wurde. Teilt euch in Kleingruppen auf zu 5-6 Spielern und entwickelt eure eigene Szene. Rekonstruiert die Geschichte. Ob als Ermittlerteam, welches den Tatort untersucht, eurer Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Ein Nachbar sah den Blick vom Pulver und hörte den Schuss fallen; da aber alles stille
blieb, achtete er nicht weiter drauf. Morgens um sechse tritt der Bediente herein mit
dem Lichte. Er findet seinen Herrn an der Erde, die Pistole und Blut. Er ruft, er fasst ihn
an; keine Antwort, er röchelt nur noch. Er läuft nach den Ärzten, nach Alberten. Lotte
hört die Schelle ziehen, ein Zittern ergreift alle ihre Glieder. Sie weckt ihren Mann, sie
stehen auf, der Bediente bringt heulend und stotternd die Nachricht, Lotte sinkt
ohnmächtig vor Alberten nieder.
Als der Medikus zu dem Unglücklichen kam, fand er ihn an der Erde ohne Rettung,
der Puls schlug, die Glieder waren alle gelähmt. Über dem rechten Auge hatte er
sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben. Man ließ ihm zum
Überfluss eine Ader am Arme, das Blut lief, er holte noch immer Atem.
Aus dem Blut auf der Lehne des Sessels konnte man schließen, er habe sitzend vor
dem Schreibtische die Tat vollbracht, dann ist er heruntergesunken, hat sich konvulsivisch um den Stuhl herumgewälzt. Er lag gegen das Fenster entkräftet auf dem Rücken, war in völliger Kleidung, gestiefelt, im blauen Frack mit gelber Weste.
Das Haus, die Nachbarschaft, die Stadt kam in Aufruhr. Albert trat herein. Werthern
hatte man auf das Bett gelegt, die Stirn verbunden, sein Gesicht schon wie eines Toten, er rührte kein Glied. Die Lunge röchelte noch fürchterlich, bald schwach, bald
stärker; man erwartete sein Ende.
Von dem Weine hatte er nur ein Glas getrunken. »Emilia Galotti« lag auf dem Pulte
aufgeschlagen.
Von Alberts Bestürzung, von Lottens Jammer lasst mich nichts sagen.
Der alte Amtmann kam auf die Nachricht hereingesprengt, er küßte den Sterbenden
unter den heißesten Tränen. Seine ältesten Söhne kamen bald nach ihm zu Fuße, sie
fielen neben dem Bette nieder im Ausdrucke des unbändigsten Schmerzens, küßten
ihm die Hände und den Mund, und der älteste, den er immer am meisten geliebt,
hing an seinen Lippen, bis er verschieden war und man den Knaben mit Gewalt
wegriss. Um zwölfe mittags starb er. Die Gegenwart des Amtmannes und seine Anstalten tuschten einen Auflauf. Nachts gegen eilfe ließ er ihn an die Stätte begraben,
die er sich erwählt hatte. Der Alte folgte der Leiche und die Söhne, Albert vermocht's
nicht. Man fürchtete für Lottens Leben. Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat
ihn begleitet.
FRAGEN ZUR VOR- UND NACHBEREITUNG
Ist die aus dem 18. Jahrhundert stammende literarische Figur Werther heutig?
Entdeckst du in der Figur des Werthers Ähnlichkeiten mit dir? Oder ist er dir fremd?
Erreicht die Originalsprache heute noch Jugendliche? Oder hast du Probleme damit?
Ist der Selbstmord Werthers eine Flucht aus einer unerträglichen Situation? Oder siehst
du darin noch etwas anderes?
Woran, glaubst du, scheitert Werther letztendlich?
Ist der Sturm und Drang die erste Jugendbewegung?
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Szenenfoto: Mario Neumann
THEMATISCHES
FREIHEIT? DER FREITOD WERTHERS
Wer aber erkennt, wo das alles hinausläuft – der ist glücklich, weil er ein Mensch ist.
So eingeschränkt er ist, hält er doch immer im Herzen das süße Gefühl der Freiheit
und dass er diesen Kerker verlassen kann, wann er will.
(Aus: DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER)
Der Selbstmord Werthers zog zu Zeiten Goethes eine regelrechte Selbstmordwelle
nach sich. Dies war ausschlaggebend dafür, dass der Roman verboten wurde. Stellt
sich die Frage, warum so viele junge Menschen ihrem Leben freiwillig ein Ende gesetzt haben. Warum hat Goethe seinem Werther keinen anderen Ausweg gegeben.
Der Mensch kann aus zwei Optionen wählen: Bleiben und Gehen. Aber, nur weil er
sich als einziges Lebewesen dessen bewusst ist, darf er das? Goethe gibt dem
Selbstmord in seinem Werther ein Forum und enttabuisiert ihn damit. Sein Werthertext
machte den Akt der Selbstzerstörung für die Leser nachvollziehbar. Die Leser
schwankten zwischen absoluter Identifikation und absoluter Ablehnung mit der Titelfigur. Goethes Werther zeigt sich selbstbewusst in seinem Leiden, trägt es öffentlich
zur Schau. Man kann soweit gehen, dass er seinen Selbstmord geradezu inszeniert.
Dies war im 18. Jahrhundert eine absolute Neuerung, ein offener Verstoß gegen das
religiöse und gesellschaftliche Normensystem! Nachdem das Wertherfieber die ersten Selbstmorde zu verzeichnen hatte, musste die Obrigkeit eingreifen: Verbot des
Buches!
Die theologische Fakultät der Leipziger Universität konnte in ihrem Zensurantrag auf
gewichtige Gründe verweisen: Der Roman wird als Vorbildgeschichte gelesen, heißt
es da. Die Apologie des Selbstmordes verstößt gegen das Christentum und ermuntert
zu dem Verbrechen.
Mit dieser Argumentation hatte die Universität dann auch Erfolg. Der Roman wurde
verboten. Denn Selbstmörder galten als Unchristen, der wider alle Pflichten handelte
und sich gegen sich selbst, gegen Gott und seine Mitmenschen versündigte. Bestenfalls gestand man ihm eine Schwäche des Geistes, eine Verwirrung der Gefühle zu.
Goethe gestattet aber seinem Werther so eine ganz andere Freiheit: Der Mensch als
Herr über seine Person, sein Leben bis zur letzten Konsequenz.
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Aber am Suizid scheiden sich bis heute die Geister. Der Schriftsteller Camus bringt es
auf den Punkt, wenn er sagt: Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem:
den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, fällt im
Werther
allein in die Verantwortung des Lesers.
DER WERTHER-EFFEKT: Fiktion oder Realität?
Es besteht kein Zweifel: Als Goethes Briefroman veröffentlicht wurde, löste der darin
beschriebene Freitod eine Reihe von Suiziden aus, und zwar nicht nur in Deutschland,
sondern in mehreren europäischen Ländern. Genaue Daten sind natürlich rückblickend nicht mehr objektivierbar. Einige Wissenschaftler sprechen aber von einer regelrechten "Suizid-Epidemie". Andere warnen vor Übertreibungen. Dass es "Wertherinduzierte Selbsttötungen" gab, ist aber nicht zu leugnen. Und noch schlimmer: Es
gibt sie noch immer (junge Frau vergiftet sich; man findet sie tot - mit dem Kopf auf
Goethes "Werther" liegend).
Nicht wenige der damaligen Suizidenten (von den statistisch erfassten Fällen her allein schon eine zweistellige Zahl) kleideten sich übrigens genauso wie die tragische
Romanfigur (blaue Jacke und gelbe Weste) und führten meist das Buch bei ihrem
selbst gewählten Lebensende bei sich.
Die Reaktionen waren entsprechend. Es kam sogar zu Anschuldigungen auf durchaus literarischem Niveau ("auch mein Sohn hatte mehrere Stellen im Werther angestrichen … Von euch wird Gott Rechenschaft fordern über die Anwendung eurer
Talente").
Goethe blieb natürlich seine fatale Medienwirkung nicht verborgen (siehe Kasten),
wobei er später - nachvollziehbarer Weise - auch gereizt reagieren konnte. Es ist aber
keine Frage, dass ihm diese "Schreib-Therapie" in eigener Sache geholfen hat, wie er
gelegentlich bestätigt haben soll.
Goethe: "Die Wirkung dieses Büchleins war groß, ja ungeheuer". Oder: "So verwirrten
sich meine Freunde daran, indem sie glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit
verwandeln (…) und sich allenfalls selbst erschießen: und was hier im Anfang unter
Wenigen vorging, ereignete sich nachher im großen Publikum".
Auf jeden Fall war der "Werther-Effekt" geboren, aktenkundig schon damals und unter den Zeitgenossen als "Wertherfieber" bezeichnet.
In manchen Regionen und Städten wurde das Buch sogar verboten (z. B. Leipzig,
Kopenhagen, Mailand). An einigen Orten drohte eine Geldstrafe bei widerrechtlichem Verkauf und Handel mit diesem Buch, da (wörtlich) "Itzo die Exempel des
Selbstmordes frequenter werden" (Leipziger Stadtrat, Januar 1975). Bisweilen wurde
das Verbot sogar auf die erwähnte Kleidung ("Werther-Tracht") ausgedehnt. Mit anderen Worten: Man hatte gehörigen Respekt, ja Angst vor entsprechenden Nachahmungstaten, zumal speziell in der damaligen "Sturm- und Drangzeit" der Werther
eine Art Kultbuch unter den jungen Intellektuellen wurde.
Wissenschaftlich aber ging man erst vor etwa 30 Jahren an dieses Phänomen heran.
Und man prägte den Begriff "Werther-Effekt" zur Kennzeichnung von "medial vermittelten Nachahmungs-Suiziden".
Inzwischen stellt sich heraus, dass es sich hier nicht um ein historisch interessantes
Phänomen handelt, sondern dieser Imitations-Effekt gerade in modernen MedienGesellschaften eine noch ernstere Bedeutung zu bekommen droht.
Quelle: http://www.psychosoziale-gesundheit.net/psychiatrie/werther.html
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DIE WERTHERIADEN
Was sind Wertheriaden?
Als Wertheriaden bezeichnet man Werke, die auf formaler oder inhaltlicher Ebene
Goethes Roman DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS zum Vorbild haben. (…) Allgemein umfassen Wertheriaden sowohl Lyrik, Drama, Prosa, als auch Oper, Lieder und
später auch den Film.
Wertheriaden kann man in zwei Kategorien unterscheiden. Zum Einen gibt es Nachwerke, die Werther als eine Kultfigur hochstilisieren. In diesen steht die Empfindsamkeit im Vordergrund. In anderen Dichtungen hingegen werden Werther und sein
Verhalten verurteilt, indem dieser bestraft wird oder er sein Fehlverhalten einsieht.
Fast alle Wertheriaden arbeiten mit verschiedenen stilistischen Mitteln. Einige übernehmen die Textart des Briefromans, andere sind jedoch nur Romane oder eher lyrische oder dramatische Texte. In einigen wird ein Großteil der Handlung übernommen und entweder neu formuliert oder in kritisierender Weise verändert. Andere beziehen das Schicksal Werthers auf ihren eigenen Protagonisten.
DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER war eines von Goethes erfolgreichsten Werken. Es
wurde zur Inspiration für die gesamte Generation des Sturm und Drang. Schiller erklärte dies mit dem „gefährliche[n] Extrem des sentimentalen Charakters“, das genau
das Lebensgefühl der Generation traf.
Die große Wirkung des Werther zeigte sich vor allem in einer Welle des Suizids in der
Jugend Europas. Diese wird von Historikern als „Werther-Effekt“ bzw. „Werther-Fieber“
bezeichnet und markiert gleichzeitig den wichtigsten Kritikpunkt des Romans. In der
Zeit des Sturm und Drang wurde der Suizid oder auch Freitod, weniger als Sünde,
sondern vielmehr als Vollendung der individuellen Freiheit des Menschen angesehen.
Seit dem Zeitalter der Empfindsamkeit, das in DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER seinen Höhepunkt findet, wird der extreme individuelle Charakter (z.B.Narzissmus) nicht
mehr verurteilt sondern ist in der Lage sich der Öffentlichkeit verständlich zu machen.
Diese immense Wirkung in der Bevölkerung war die Basis für Folgewerke auf den
Werther und nur so kam es zu der Erfindung des Begriffes „Wertheriaden“.
Quelle: http://schaperjahn.de/werther/2013/01/14/was-sind-wertheriaden/
DER WERT EINES GEBROCHENEN HERZENS
Sie randalieren, drohen mit Selbstmord, schreiben wirre Briefe - und sie weinen, weinen, weinen. Wer unter Liebeskummer leidet, scheint jede Verhältnismäßigkeit weit
hinter sich gelassen zu haben. Seit einigen Jahren können Wissenschaftler bestätigen,
was Poeten schon seit Jahrtausenden wissen: Liebeskummer schmerzt, er macht
Menschen krank und verrückt. Er kann einen sogar umbringen.
(…) Psychologen teilen den seelischen Ausnahmezustand professionell distanziert in
verschiedene Phasen ein. Zunächst wollen die Verlassenen nicht wahrhaben, dass es
vorbei ist. Es ist die Zeit, in der der Verflossene mit Briefen und Anrufen bombardiert
wird. Verantwortlich sind die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin, die im Laufe
der Evolution eigentlich dazu dienten, ebenso verzweifelt wie energisch ein verlorenes Muttertier zurückzurufen. Mit der gleichen existentiellen Wucht versuchen verlassene Menschen, den Partner zurückzuerobern. Lasst sich das Ende einer Liebe nicht
mehr leugnen, fallt der Dopaminspiegel drastisch ab, meist folgt die Depression. Die
Betroffenen können weder schlafen noch essen, zermartern sich das Gehirn nach
dem Warum. Manche hetzen rastlos umher, andere verkriechen sich. Am Ende dieser
zweiten Phase empfinden sie Wut und Rachegefühle …
In einer Studie an Liebeskummerkranken stellte der Verhaltensforscher Michael
Bechinie von der Universität Wien schon vor Jahren fest, dass 45 Prozent der Studienteilnehmer Selbstmordgedanken hegten und Trauerreaktionen ähnlich wie beim
Tod eines Angehörigen zeigten. (…)
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Die Anthropologin Helen Fisher an der Rutgers University und Lucy Brown, Neurowissenschaftlerin am Albert Einstein College of Medicine in New York, (liesen) CollegeStudenten Fotos ihrer Verflossenen betrachten und legten ausreichend Taschentücher in Reichweite.
Der im Hintergrund arbeitende Kernspintomograph zeichnete in den Gehirnen der
jungen Menschen eindeutige Aktivitäten auf: Es arbeiteten vor allem die Areale, die
für Motivation zuständig sind, aber auch das nach Erfüllung strebende Dopaminsystem sowie die Inselrinde und der Cortex cingularis anterior (ACC), der bei physischem Schmerz und Stress eine Rolle spielt. "Liebe wirkt nicht wie ein bestimmtes Gefühl, sondern eher wie eine Droge", erklärt Brown die Ergebnisse, "und entsprechend
zeigten unsere Probanden mit Liebeskummer ähnliche Aktivitätsmuster wie beim
Drogenentzug." Liebe macht süchtig - und Liebesentzug macht krank. (…)
Ein gebrochenes Herz kann tödlich sein. Beim Syndrom des gebrochenen Herzens
reagiert der Körper auf ein emotional belastendes Ereignis wie zum Beispiel die Trennung von einem geliebten Menschen. Plötzlich wird das Herz mit den Stresshormonen
Adrenalin und Noradrenalin überschwemmt. Brustschmerzen und Atemnot sind die
Folge. (…)
(Brown) empfiehlt in schweren Fallen den kalten Entzug, also keine Treffen, keine Bilder ansehen, nicht in Erinnerungen schwelgen. Stattdessen sollten Liebeskranke vor
allem für Ablenkung sorgen und soziale Kontakte pflegen, um Seele und Hormone
wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
In Browns Studie zeigte sich, dass auch Entlieben ein Lernprozess des Gehirns ist. Je
langer die Trennung bei den College-Studenten zurücklag, desto weniger sprachen
die für Paarbindung zuständigen Gehirnregionen auf den Anblick des Ex-Partners an.
Offenbar haben die Poeten auch in dieser Hinsicht recht. Die Zeit heilt alle Wunden,
auch die der Liebe.
Quelle: http://www.sueddeutsche.de/wissen/gemischte-gefuehle-liebeskummer-derwert-einesgebrochenen-herzens-1.989760
Szenenfoto
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