Migranten leiden lieber somatisch als psychisch

Interview
Forum Politik
„Migranten leiden lieber
somatisch als psychisch“
Der Mainzer Hausarzt Dr. Dr. Rahim Schmidt ist 1978 aus dem Iran
nach Deutschland gekommen. Ärzte sollten vor allem lernen, ­andere
Sprachbilder zu deuten, rät er für den Umgang mit Flüchtlingen.
Schmidt: Migration ist per se kein
Grund für eine Krankheit, geht aber
meist mit hohen körperlichen und psychischen Belastungen einher. Bildung,
soziokulturelle, religiöse Einflüsse, Traditionen prägen Bewältigungsstrategien. Sprache ist für die Arzt-Patient-Beziehung wichtig: Deutschen schmerzt
bei Liebeskummer das Herz, Migranten
sprechen von „ÜTW – überall tut es
weh“, wie bei Fibromyalgie. Sprechen
sie von Geistern oder dass ihre „Leber
brennt“, handelt es sich um kulturspezifische Bilder für ihre Beschwerden.
Zudem kommen sie aus anderen Gesundheitssystemen: Von Ärzten wird
erwartet, dass sie alles wissen. Je mehr
Arzneien verschrieben werden, umso
mehr fühlen sich Patienten kompetent
betreut. Die meisten sind traumatisiert
und brauchen neben Behandlung eine
stabilisierende Perspektive im Alltag.
Eine gute Anlaufstelle ist das Folteropferbehandlungs-Zentrum in Berlin,
www.pflegen-und-leben.de bietet eine
Beratung für pflegende Angehörige.
„Migranten sind häufig Bauchredner“: Was meinen Sie damit?
Migranten leiden lieber somatisch als
psychisch, erst recht, wenn Sie als Fremde beim Arzt verunsichert sind. Psychische Erkrankungen sind fast bei allen
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Worauf kommt es bei der Behandlung an?
Ein häufiges Fettnäpfchen: „Wer ist
denn hier der Patient? Alle anderen,
warten bitte draußen.“ In kollektivistischen Kulturen gehen oft mehrere
Familienmitglieder mit zum Arzt – um
sich ein Bild zu machen. Nehmen sich
Ärzte Zeit, alle kennenzulernen, gehen
die Angehörigen dann
meist selbst hinaus.
Wichtig ist, sie freundlich ins Zimmer zu bitten. Bei Männern und
Kindern kann man
leicht mit der Hand
die Schulter berühren,
bei Frauen eher nur
einen Platz anbieten.
Kulturen ein Tabu: Die Diagnose stellt
oft die eigene Integrität infrage und
kann zu Stigmatisierung führen. Besonders Frauen nutzen unbewusst körperliche Symptome, um
mangelnde Konfliktlösung in starren Familienstrukturen zu kompensieren. Weil es oft
nur wenige Bewältigungsmöglichkeiten
gibt, ist eine körperliche
Erkrankung der einzige
Ausweg. Um die psychosomatische Grundversorgung zu stärken, sind
Hausärzte sehr wichtig.
Dr. Dr. Rahim Schmidt,
Grünen-Abgeordneter
Sie lehren an Unis
kulturspezifischen
Umgang mit Patienten.
Wo gibt es noch Hilfe?
in Rheinland-Pfalz.
Wo liegen die
Schwierigkeiten für
Die Seminare sollen
Studierende sensibilisieren. Wir tauÄrzte im Umgang mit Migranten?
Menschen aus westlichen Ländern sind
eher rationaler und zielorientierter.
Menschen aus kollektivistischen Kulturen ist das Emotionale zunächst wichtiger. Ärzte sollten also erst eine Beziehung zu Patient und Familie knüpfen,
sich etwas über die Heimat erzählen
lassen – und dann nach den Beschwerden fragen. Sonst werden sie schnell als
kühl und inkompetent empfunden.
Zudem sollten Ärzte ihnen helfen, sich
zurechtzufinden: Vorsorge kennen viele
nicht, so werden Krankheiten oft spät
diagnostiziert und therapiert. Entschei-
schen Erfahrungen aus, besprechen Fälle. Diese Schulung brauchen wir auch
für Ärzte. Zudem sollten mehr Migranten in psychotherapeutischen Institutionen zugelassen werden. Ärzte brauchen Informationen. In Rheinland-Pfalz
hat unser Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland“ mit der Ärztekammer einen Flyer „Asylbewerber als
Patienten“ mit Anamnesebogen in 14
Sprachen erstellt. Wir sollten auch ausländische Ärzte für uns gewinnen, Medici In Posterum (www.aerzte-fuer-diezukunft.de) hilft ihnen, Fuß zu fassen.
Der Hausarzt 16/2015
Foto: privat
Herr Dr. Schmidt, sind Migranten
„anders krank“ als Deutsche?
dend ist, sprachliche Barrieren zu mindern, sich Zeit zu nehmen – auch wenn
es schlecht bezahlt wird – und die kulturellen Hintergründe zu berücksichtigen. Leider wird dies in der Ausbildung
kaum gelehrt. Wir haben bundesweit
kaum einheitliche Strukturen oder
Leitlinien zur Anamnese, Diagnose oder
Therapie.