MATTHIAS, DER MEHR IST. Oder: Übers Geschwistersein. Ich habe

MATTHIAS, DER MEHR IST.
Oder: Übers Geschwistersein.
Ich habe einen Bruder, Matthias, der ist blond und 15 Jahre alt und liebt Rockmusik und Fleisch und
Heldensagen. Er hat Kaninchen, ein schönes Lachen, einen imaginären Hund und Down Syndrom.
Stopp.
Das soll dir nicht „leidtun“. Denn mein Bruder, der leidet nicht darunter.
Und auch ich leide nicht darunter, leide nur darunter wenn du so etwas fragst wie: „Ist dein Bruder
nicht schon 15, ist das nicht etwas zu alt für „Mamma Muh“?“ oder „Wieso rennt dein Bruder wie ein
Halbwahnsinniger durch den Garten und besiegt unsichtbare Krieger?“
Dann schmunzle ich zuerst und denke still, wie sehr ich ihn dafür liebe, dass er eben das tut, was er
tut und dass er immer so ehrlich ist, auch wenn es eindeutig besser wäre zu lügen. Aber dann denke
ich, wie sehr ich es hasse, es immer wieder erklären zu müssen, ihn immer wieder erklären zu
müssen.
Und dann sag ich ihn, diesen Satz, der doch so einfach sein sollte und doch irgendwie schwierig, zu
schwierig ist und jedes Mal hab ich seltsamerweise diesen kleinen Stich in meinem Magen, wenn ich
ihn ausspreche und er plötzlich so real wird: „Mein Bruder hat Down Syndrom, da ist das etwas
anders.“
„Oh das tut mir aber leid“, antwortest du dann. Daher kommt der Stich.
Es soll dir doch nicht leid tun, ich will kein Bedauern sehen in deinen ahnungslosen Augen und dass
du so tust als hättest du Ahnung.
Es soll dir nicht leid tun, dass ich einen Bruder hab, denn er ist fabelhaft und nichts ist falsch an ihm.
Anders, vielleicht, aber nicht falsch.
Also steh ich dann da und denke mir: Du reduzierst meinen Bruder also auf dieses eine Chromosom,
das er mehr hat?
Aus etwas, das eigentlich mehr sein sollte, machst du weniger, du reduzierst jemanden, den du
maximieren solltest!
Denn mein Bruder ist mehr.
Mein Bruder ist nicht nur normal, sondern auch besonders, aber er ist ganz sicher nicht nur
besonders.
Er nervt, wie alle Brüder und ist 15 und liest Mamma Muh, wie nur ganz wenige Brüder.
Er hat mein ganzes Leben mit mir verbracht, wie fast jeder Bruder und kann mich trösten und
verstehen, wie kaum ein Bruder und er braucht keine Worte um mehr zu sagen, als alle diese
Menschen, die ich andauernd reden höre, ohne dass sie je wirklich etwas sagen und er ist viel besser
zu verstehen und versteht mehr als all die anderen Menschen, die umherlaufen und nicht wissen
wohin und trotzdem immer weiter laufen, sich verlaufen und verirren, es nicht bemerken, weiter
eilen, ohne ihr Ziel zu kennen.
Er will mich beschützen, weil ich doch seine Schwester bin und die Welt zu groß und kalt für mich
und er weiß er kann es nicht und hört doch niemals auf es zu versuchen, wie viele Brüder und gibt
offen zu schüchtern zu sein, wie kaum ein Bruder und wenn ich ihn ansehe dann weiß ich, dass er
nicht einfach ist, er ist hochkompliziert und er ist es wert und ich habe keine Lust mehr, dass das
irgendjemand nicht versteht.
Dass irgendjemand nicht versteht wer und wie und warum er ist und dass ich es immer erklären
muss.
Aber ich weiß, dass es immer so sein wird und dass er niemals ganz von irgendjemandem verstanden
werden wird, weil wir alle doch unverstanden sind und in einer unverständlichen Welt herumirren
auf der Suche nach Verständnis und manchmal glaube ich er ist der einzige, der weiß er kann niemals
verstanden werden und nie verstehen, denn er, mein Bruder ist anders und trotzdem wie wir alle.
Und deshalb soll er dir nicht leidtun.
Und deshalb bin ich dankbar für ihn.
Und deshalb hasse ich es, ihn zu erklären, denn ich weiß es ist sinnlos und doch das einzige Sinnvolle.
Das ist also mein Bruder und er hat Down Syndrom.
Und ja, das ist schwierig, aber nein, ich hätte nicht lieber einen „normalen“ Bruder.
Und ja, er ist anders, aber nein, das macht aus ihm nicht weiniger einen Menschen!
Und wenn ich höre wie jemand sagt, dass es schade ist, dass er nie Autofahren oder Anwalt sein
wird, dann denk ich nur: „Schade ist dass du nur in einer so kleinen Welt lebst in der Gewinnen und
Geld Glück ist und schade, dass du nicht so einen Bruder hast wie ich, denn er würde dir lernen, dass
das Leben so viel mehr ist.
Er würde dir lernen dass Liebe bedingungslos und Ehrlichkeit möglich ist und dass du trotz all den
hässlichen Dingen in unserer hässlichen Welt dein wunderschönstes Lachen zeigen darfst, denn er
schafft, wonach wir alle insgeheim gieren: Er lebt ganz einfach. Und so würde er dir zeigen, dass
anders sein okay ist, ja sogar besonders, besonders schön und dass egal wer du bist, du Liebe
verdienst und gut genug bist, wie du bist. Und dass es wunderbar ist, dass alle verschieden sind und
keiner gleich und dass wir alle anders sind, weil nur so die Welt erfüllt sein kann mit einzigartiger
Schönheit.“
Das denke ich dann und still danke ich meinem Bruder dafür, dass er nicht so ist wie du. Denn mein
Bruder ist nicht nur normal, sondern auch besonders. Aber er ist keinesfalls nur besonders.
Er wurde geboren und wird geliebt und träumt und lacht und atmet ,wie alle Menschen und hat mir
so viel gelernt wie sonst kein Mensch, er hat mich erfüllt mit dem Abbild des Lebens bis es mich
ausfüllte und erfüllte und ich irgendwann lebendig war und lebendig träumen konnte von einer
halbschönen, hässlichen Welt.
Er träumt gerne von großen Dingen und weiß, dass sie nie geschehen werden, wie viele von uns und
hat den selten Mut zu sagen, was er wirklich fühlt und wirklich will und wer er wirklich ist und er
weint, wenn er traurig ist und lacht, wann immer er lachen will und ist so echt, dass es richtig gut tut
in dieser Welt voller falscher Echtheit und echter Verzweiflung und er ist so ehrlich, dass es
überrascht in dieser Welt erfüllt von der süßen Einfachheit der Lüge und den tiefen Kratzern in der
Wirklichkeit, die sie hinterlässt.
Für ihn wird mein Vater immer Superheld bleiben und die Welt wird immer gut sein und er wird nie
den Mut verlieren an sich und seine Träume zu glauben und er ist stärker und gleichzeitig schwächer,
als jeder den ich kenne.
Er tanzt schöner als alle, die ich kenne, und lebt lebendiger als tausende Abenteurer.
Er erfasst das Leben und saugt es auf und strahlt wie die Sonne und strahlt vor echter Lebendigkeit.
Er ist so weise in seinen ungelernten, unschuldig unmoralischen Gedanken und so rein und echt, dass
ich manchmal nicht glaube, dass es sowas wirklich gibt und dass sowas Behinderung heißt.
Er kann alles, kann was immer er will, aber er will nur, was er wirklich will und ist so er selbst ohne in
die engen Schranken der Gesellschaft gesperrt zu sein und ist so frei, dass es weh tut in dieser Welt
voller Gefangene, die närrisch an ihre Freiheit glauben und in ihm spiegelt sich das, was Himmel heißt
und was alle verzweifelt suchen, er hat den Himmel gefunden und ihn auf diese Welt gelegt, wie ein
buntes Tuch über all das graue Leid gelegt…
Mein Bruder ist besonders und dafür bin ich dankbar.
Das ist er also, mein Bruder, Matthias.
Und, ja, er hat Down Syndrom und nein, das soll dir nicht leidtun, denn mein Bruder ist so viel mehr:
Mein Bruder, der ist liebevoll und einzigartig, ehrlich, lustig, treu, gutherzig, begabt und intelligent,
weise, kreativ, authentisch und liebt intensiv und bedingungslos, er hat den Himmel gefunden und
sich entschlossen an das Gute zu glauben, er tanzt immer ,als würde keiner zu sehen und lacht, als
wäre die Welt perfekt und lebt jeden Tag, als wäre es der schönste von allen Tagen.
Mein Bruder hat vielleicht Down Syndrom, aber er ist nicht Down Syndrom. Er ist unendlich viel
mehr. Eigentlich ist er nämlich ziemlich perfekt, genau wie er ist. Aber, was noch viel wichtiger ist, ist
dass ich mir ehrlich sicher sein kann, dass mein Bruder glücklich ist. Und dafür bin ich dankbar.
Clara Porak, 17