Smarte Viren erhellen die Sehfunktion im Gehirn

Medienmitteilung vom 3. Juli 2015
Smarte Viren erhellen die Sehfunktion im Gehirn
Botond Roska und seine Forschungsgruppe am Friedrich Miescher Institute for
Biomedical Research (FMI) haben neue Erkenntnisse über die Funktionsweise
neuronaler Netze in der Sehrinde des Gehirns vorgelegt. Erstmalig ist es ihnen
gelungen, die neuronale Aktivität eines einzelnen kortikalen Neurons und des mit ihm
verbundenen neuronalen Netzes während einer visuellen Stimulation zu messen. Ihre
Ergebnisse und die Entdeckung zweier unterschiedlicher Funktionsweisen dieser Netze
wurden heute in Science veröffentlicht.
Sandra Ziegler Handschin
Communications
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Alles, was wir sehen, ist eine Kombination aus Formen, Ecken, Kanten, Farb- und
Kontrastunterschieden und Bewegungen in unterschiedliche Richtungen. In der Netzhaut
werden diese Merkmale aufgefächert, und unterschiedliche Neuronengruppen werden aktiv.
Die Informationen werden dann ans Gehirn weitergeleitet, insbesondere an die Sehrinde, den
visuellen Cortex, wo sie zu den Bildern verarbeitet werden, die wir wahrnehmen.
Schon in den späten 1950er Jahren haben Wissenschaftler festgestellt, dass Neuronen im
primären visuellen Cortex auch spezifisch auf Reize ansprechen und einzelne Merkmale der
Umwelt unterscheiden, z. B. die Richtung einer Bewegung oder die Ausrichtung von Kanten.
Wie diese scharf getrennte Selektivität erreicht wird, ist seit Langem ein Rätsel für die
Fachwelt.
Adrian Wertz und Stuart Trenholm, zwei Postdoktoranden aus der Arbeitsgruppe von Botond
Roska am Friedrich Miescher Institute for Biomedical Research (FMI), konnten hierzu jetzt
neue Erkenntnisse gewinnen. In einer Studie, die heute in Science veröffentlicht wurde,
konnten sie nicht nur die mehreren Hundert Neuronen identifizieren, die unmittelbar mit einem
einzelnen Neuron im primären visuellen Cortex verknüpft sind, sondern auch deren Aktivität
bei visueller Stimulation messen.
Mit neuesten viralen Tracer-Substanzen, die mit Sensoren bestückt waren, und einem
Verfahren zur Zwei-Photonen-Bildgebung in vivo erfassten die Wissenschaftler, wie einzelne
Zellen in Schicht 2/3 des visuellen Cortex, und die rund hundert weiteren kortikale Zellen, von
denen diese ihre Signale erhalten, auf visuelle Reize ansprechen. «Eine visuelle Reaktion, die
wir besonders gut kennen, ist die Aktivität der Neuronen im Zusammenhang mit Bewegung»,
erläuterte Wertz. «Neuronen im visuellen Cortex sprechen ziemlich spezifisch auf Bewegung
an. Sie sind beispielsweise aktiv, wenn ein Gegenstand sich in die eine Richtung bewegt, und
werden inaktiv, sobald sich die Bewegungsrichtung ändert.» Anhand dieses Modellsystems
wiesen die Wissenschaftler nach, dass Neuronen innerhalb jeder kortikalen Schicht ähnliche
Präferenzen bezüglich der Bewegungsrichtung zeigten und etwas bildeten, das die Forscher
«Schichtmodule» tauften. Zum Teil deckten sich diese Präferenzen über die Schichten hinweg,
in anderen Fällen variierte die Präferenz mit jeder Schicht. «Besonders interessant ist, dass
der visuelle Cortex mit mindestens zwei Arten von Netzen arbeitet und dass sich die Netze in
einigen der Schichtmodule decken, während sie in anderen variieren», berichtete Trenholm.
Roska fügte hinzu: «Warum das so ist, wissen wir noch nicht. Möglicherweise haben die Netze
mit der höheren Varianz auch eine höhere Plastizität, und Lernen könnte sie in einen stärker
festgelegten Zustand zwingen. Diese Hypothese müssen wir in der Zukunft testen.»
Erstmalig haben Neurowissenschaftler heute die Werkzeuge an der Hand, nicht nur neuronale
Netze sichtbar zu machen und zu beschreiben, sondern auch die neuronale Aktivität einzelner
Zellen und der mit ihnen verknüpften Netze zu messen. «Das ist für uns ein wichtiger Schritt
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zur Klärung der Frage, was im Cortex berechnet wird und was schon von der Retina
übernommen wird», kommentiert Roska. «Und wenn diese Instrumente auf andere
Gehirnregionen angewandt werden, werden sie uns weitere neue Erkenntnisse darüber liefern,
wie das Gehirn funktionell verschaltet ist.»
Kontakt
Dr. Botond Roska, [email protected], Tel. +41 61 697 85 75
Originalpublikationen
Wertz A, Trenholm S, Yonehara K, Hillier D, Raics Z, Leinweber M, Szalay G, Ghanem A,
Keller G, Rózsa B, Conzelmann K-K, Roska B. (2015) Single-cell-initiated monosynaptic
tracing reveals layer-specific cortical network modules. Science
Über Botond Roska
Botond Roska interessiert sich dafür, wie Neuronen in lokalen neuronalen Netzen interagieren,
um verhaltensrelevante Funktionen zu berechnen. Er untersucht die entsprechenden Prozesse
in der Retina, dem Thalamus und dem visuellen Cortex von Säugetieren. Er hat auch zu
Retinitis pigmentosa geforscht, einer seltenen Krankheit, die zur Erblindung führt. Im Rahmen
dieser Forschung ist es ihm gelungen, einen neuartigen Behandlungsansatz für die Krankheit
zu finden.
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Über das FMI
Das Friedrich Mischer Institute for Biomedical Research (FMI) in Basel ist ein weltweit
anerkanntes Spitzenforschungsinstitut für Grundlagenforschung in den biomedizinischen
Wissenschaften. Die Forschung am FMI fokussiert sich auf die Bereiche Neurobiologie,
Wachstumskontrolle und Signalwege, sowie Epigenetik. Zurzeit arbeiten rund 320
Mitarbeitende am FMI. Das FMI leistet einen wichtigen Beitrag zur Aus- und Weiterbildung von
Forschenden: Sein PhD Student Programm und sein Postdoctoral Training gehören zu den
besten auf der Welt. Als unabhängige Stiftung ist das FMI sowohl mit den Novartis Institutes
for BioMedical Research als auch mit Universität Basel affiliiert. Seit 2004 leitet Prof. Susan
Gasser das Institut.
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