Alkoholmissbrauch und Jugendgewalt – zwei Seiten einer

Alkoholmissbrauch und Jugendgewalt –
zwei Seiten einer Medaille?
Dirk Enzmann
Universität Hamburg, Institut für Kriminalwissenschaften
Landesfachkonferenz der LAKOST für Suchtvorbeugung MV
"Kommunale Alkohol- und Gewaltprävention in MV stärken"
Rostock, 15. Juni 2015
1
Alkoholmissbrauch und Gewalt
1)
2)
3)
Befunde aus der "International Self-Report Delinquency
Study" (ISRD-2) zu Alkoholkonsum und Delinquenz
Befunde aus der Studie "Jugendkriminalität in
Deutschland und Russland" zu Alkoholmissbrauch,
Rechtsextremismus und "hate crimes"
Befunde aus der Studie "Gefängnis und die Folgen" zu
Prävalenz von Alkoholmissbrauch vor der Inhaftierung
und der Deliktstruktur von Alkoholmissbrauchenden und
Drogenabhängigen
2
Alkohol und Gewalt
Mögliche Kausalmodelle
(1)
Alkohol
(2)
Gewaltdelinquenz
Gewaltdelinquenz
Alkohol
Alkohol
(3)
Gewaltdelinquenz
(4)
allgemeine
Verhaltensprobleme
Alkohol
Gewaltdelinquenz
3
Alkohol und Gewalt
jugendtypisch?
• Jugendtypische Delinquenz ist normal, ubiquitär,
episodenhaft.
• Aber: Dies gilt nicht ohne Weiteres für Alkohol- und
Drogenkonsum: Bei Abhängigkeit erzeugenden Drogen und
bei legalen Drogen kann das Konsummuster auch im
Erwachsenenalter fortgesetzt werden (Beispiel: Nikotin)
4
Alkoholkonsum und (Gewalt)Delinquenz
ISRD-2 Studie
• Befragungen Jugendlicher (7. - 9. Jahrgangstufe = 12-15
Jahre) in 62 Städten aus 30 Ländern Europas, der Karibik
und den USA zwischen 2005 und 2007
• Unter anderem wurden Viktimisierungserfahrungen,
Alkohol- und Drogenkonsum sowie selbstberichtete
Delinquenz erfragt.
• Neben Publikationen mit kriminologischem Schwerpunkt
wurden die Daten für eine europäische Alkoholpräventionsstudie (AAA-Prevent) benutzt.*
* Quelle: Steketee, M., Jonkman, H., Berten, H., & Vettenburg, N. (Eds.) (2013). Alcohol use
Among Adolescents in Europe: Environmental Research and Preventive Actions. Utrecht: Verwey
Jonker Instituut.
5
Alkoholkonsum und Delinquenz
ISRD-2 Studie
Prävalenz von Alkoholkonsum nach Deliktsgruppen (n = 57 771)
nicht delinquent
mindestens 1 Delikt
mindestens 1
schweres
Gewaltdelikt
Alkohol
Lebenszeit
56.2 %
86.3 %
89.8 %
90.7 %
Alkohol
letzter Monat
24.0 %
55.5 %
69.0 %
69.0 %
betrunken
Lebenszeit
18.5 %
51.9 %
65.5 %
67.5 %
9.2 %
32.9 %
49.0 %
51.0 %
zuletzt 5 oder
mehr Getränke
mindestens 1
schweres
Eigentumsdelikt
Quelle: Steketee et al. (2013)
6
Alkoholkonsum und schwere Delinquenz
ISRD-2 Studie
Effekte (Odds-Ratios) von Alkoholkonsum auf 12-Monatsprävalenz
Eigentums(1)
sproplyp
delinquenz
main
Alkohol
alcolmp
letzter Monat
N
5.141***
(34.63)
66694
(1)
Eigentumssproplyp
delinquenz
main
betrunken
alcodr
Lebenszeit
N
6.236***
(38.64)
66703
Gewalt-(2)
sviollyp
delinquenz
4.917***
(34.75)
66717
Gewalt- (2)
sviollyp
delinquenz
5.735***
(38.25)
66726
7
Alkoholkonsum und Delinquenz
ISRD-2 Studie
Prävalenz von Alkoholkonsum nach Versatilitätsgruppen (n = 57 771)
kein Delikt
1 Delikt
2 verschiedene
Delikte
3 oder mehr
verschiedene Delikte
Alkohol
Lebenszeit
56.2 %
83.1 %
88.1 %
93.4 %
Alkohol
letzter Monat
24.0 %
47.4 %
60.0 %
73.7 %
betrunken
Lebenszeit
18.5 %
42.8 %
56.0 %
73.1 %
9.2 %
24.3 %
34.9 %
54.9 %
zuletzt 5 oder
mehr Getränke
Quelle: Steketee et al. (2013)
8
Alkoholkonsum und Gewaltdelinquenz
ISRD-2 Studie
Prävalenz von Alkoholkonsum nach Versatilitätsgruppen von Gewaltdelinquenz (n = 57 771)
0
1
2
3
4
Alkohol
Lebenszeit
57.5 %
83.7 %
89.7 %
94.0 %
95.7 %
Alkohol
letzter Monat
25.2 %
49.3 %
64.4 %
73.2 %
79.7 %
betrunken
Lebenszeit
19.8 %
44.7 %
62.1 %
73.2 %
80.7 %
zuletzt 5 oder
mehr Getränke
10.0 %
26.5 %
41.1 %
54.8 %
66.5 %
Quelle: Steketee et al. (2013)
9
Alkoholkonsum und Eigentumsdelinquenz
ISRD-2 Studie
Prävalenz von Alkoholkonsum nach Versatilitätsgruppen von Eigentumsdelinquenz (n = 57 771)
0
1
2
3
4
5
Alkohol
Lebenszeit
61.6 %
90.9 %
90.3 %
91.5 %
93.7 %
100.0 %
Alkohol
letzter Monat
29.2 %
67.0 %
74.4 %
75.5 %
85.7 %
81.4 %
betrunken
Lebenszeit
24.1 %
63.2 %
71.6 %
75.5 %
87.1 %
76.6 %
zuletzt 5 oder
mehr Getränke
12.9 %
43.9 %
58.1 %
65.7 %
75.4 %
75.0 %
Quelle: Steketee et al. (2013)
10
Alkoholkonsum, Viktimisierung und Gang-Mitgliedschaft
ISRD-2 Studie
Prävalenz von Alkoholkonsum nach Viktimisierung und Gang-Mitgliedschaft (n = 57 771)
keine Viktimisierung
Viktimisierung
kein Gang-Mitglied
Gang-Mitglied
Alkohol
Lebenszeit
60.2 %
72.7 %
50.7 %
87.5 %
Alkohol
letzter Monat
28.3 %
40.2 %
20.2 %
66.0 %
betrunken
Lebenszeit
22.7 %
36.2 %
15.2 %
64.7 %
zuletzt 5 oder
mehr Getränke
12.5 %
20.9 %
7.9 %
44.5 %
Quelle: Steketee et al. (2013)
Alkohol und rechte Gewalt
HoGeSa (Hooligans gegen Salafisten) Demonstration 26.10.2014 in Köln
Alkohol und rechte Gewalt
Studie "Jugendkriminalität in Deutschland und Russland"
• Durchgeführt vom Institut für Kriminalwissenschaften,
Universität Hamburg (2007-2011)
• Deutsche Stichprobe: Befragung von 4003 Jugendlichen der
9. Jahrgangsstufe in 6 Städten (West: Hamburg, Köln,
Mönchengladbach; Ost: Leipzig, Magdeburg, Rostock)
• Unter anderem: Gewalteinstellungen, Rechtsextremismus/
Fremdenfeindlichkeit, selbstberichtete Delinquenz,
Alkoholkonsum
14
Alkohol und rechte Gewalt
Studie "Jugendkriminalität in Deutschland und Russland"
Beispielfragen Rechtsextremismus/Fremdenfeindlichkeit:
• Andere Nationen sind nicht so leistungsfähig wie die
deutsche.
• Wer sich in Deutschland nicht anpassen kann, sollte das
Land wieder verlassen.
• Deutschland den Deutschen - Ausländer raus.
• Ich finde Ausländer muss man "aufklatschen" und
"raushauen".
15
Alkohol und rechte Gewalt
Rechtsextremismus und Alkoholkonsum
38
Rechtsextremismus
36
34
32
30
28
nein
12-Monats Prävalenz Betrunken
ja
n = 2955, t(2947) = 9.25, p < .001; ohne Migranten, kontrolliert für Stadt und Geschlecht
Hedges' g = .36
Alkohol und rechte Gewalt
Rechtsextremismus und Körperverletzung ('hate crime')
Prävalenzrate Körperverletzung
.05
.04
.03
.02
.01
0
0
5
10
15
20
25
30
35
40
Rechtsextremismus
45
50
55
60
n = 3094, z = 10.50, p < .001; ohne Migranten, kontrolliert für Stadt und Geschlecht
Alkohol und rechte Gewalt
Alkoholkonsum und Körperverletzung ('hate crime')
Prävalenzrate Körperverletzung
.15
.1
.05
0
0
4
8
12
16 20 24 28 32 36
12-Monatsinzidenz Betrunken
40
44
n = 2968, z = 4.50, p < .001; ohne Migranten, kontrolliert für Stadt und Geschlecht
48
52
Alkohol und rechte Gewalt
• Alkoholkonsum und Rechtsextremismus korrelieren positiv.
• Rechtsextremismus und "hate crimes" (Körperverletzung
wegen der Ethnizität, Religion oder sonstigen "Andersartigkeit" des Opfers) korrelieren positiv.
• Alkoholkonsum und "hate crimes" korrelieren positiv.
• Rechte Gewalt geschieht häufig aus Gruppen heraus;
Alkohol wird überwiegend in Gruppen konsumiert.
"Der Rauschmittelgebrauch erweist sich als Akt der Konformität:
nicht mit der Gesamtgesellschaft, sondern mit der eigenen
subjektiv relevanten Umwelt der Gleichaltrigen" (Reuband)
Ähnliches dürfte für Gewaltakte in gezielt herbeigeführtem
Alkoholrausch gelten.
20
Alkoholmissbrauch erstinhaftierter Jugendlicher
Studie "Gefängnis und die Folgen"
• Durchgeführt vom Kriminologischen Institut Niedersachsen
(KFN) in 3 Jugendanstalten (Halle, Hameln, Vechta)
zwischen 1997 und 2003
• Längsschnittstudie zu Entwicklungsverläufen deutscher
erstinhaftierter Jugendlicher und Heranwachsender
• Alkohol- und Drogenkonsumstatus von 2069 Inhaftierten
sowie Legalbewährungsanalysen von 1069 Entlassenen
anhand von BZR-Daten*
* Quelle: Enzmann, D. & Raddatz, S. (2005). Substanzabhängigkeit jugendlicher und
heranwachsender Inhaftierter. In K.-P. Dahle & R. Volbert (Hrsg.), Entwicklungspsychologische
Aspekte der Rechtspsychologie (S. 150-172). Göttingen: Hogrefe.
21
Alkoholmissbrauch erstinhaftierter Jugendlicher
Kriterien für Alkoholmissbrauch vor Inhaftierung
(angelehnt an DSM-IV Kriterien basierend auf Befragungsdaten)
Mindestens eins der folgenden Merkmale:
• Ausbildung oder Arbeit aufgrund massiven Alkoholkonsums abgebrochen
bzw. gekündigt worden
• dreimal wöchentlich oder häufiger betrunken gewesen
• ein- oder zweimal wöchentlich betrunken gewesen und bei allgemeinen
Angaben zum üblichen Alkoholkonsum Mengen von mehr als 120 g (ca.
2.5 Promille BAK),
• täglicher Alkoholkonsum und bei Konsum Mengen von mehr als 150 g (ca.
3 Promille BAK),
• Angabe, eine Alkoholtherapie machen zu wollen, oder Teilnahme an einer
Therapiemaßnahme im Kontext der Inhaftierung oder Entlassung
• eigene Einschätzung, alkoholabhängig zu sein.
39 % der als alkoholmissbrauchend Klassifizierten bezeichneten sich selbst
als alkoholabhängig (11 % der Gesamtstichprobe)
22
Alkoholmissbrauch erstinhaftierter Jugendlicher
Substanzkonsumstatus vor der Inhaftierung
Quelle: Enzmann & Raddatz (2005)
Alkoholmissbrauch erstinhaftierter Jugendlicher
Deliktstruktur des Anlassdelikts (Urteil 1. Jugendstrafe)
nach Substanzkonsumstatus vor Inhaftierung
Quelle: Enzmann & Raddatz (2005)
Alkoholmissbrauch erstinhaftierter Jugendlicher
Therapiemaßnahmen im Kontext der Inhaftierung
• 49.5 % der Inhaftierten hat Therapiebedarf wegen
massivem Alkoholmissbrauch oder Drogenabhängigkeit
• Teilnahme an einer Therapiemaßnahme nur bei 22.3 %
massiv Alkohol Missbrauchender oder Drogenabhängiger
• Massiv Alkohol Missbrauchende haben besonders selten
eine Therapiemaßnahme erhalten:
Ø 33.6 % der als drogenabhängig Klassifizierten
Ø 24.7 % der Mischgruppe (Alkoholmissbr. u. Drogenabh.)
Ø 6.2 % der Alkohol Missbrauchenden
Quelle: Enzmann & Raddatz (2005)
25
Alkoholmissbrauch erstinhaftierter Jugendlicher
Deliktstruktur bei Rückfälligkeit (Urteil 2. Jugendstrafe)
nach Substanzkonsumstatus vor 1. Inhaftierung
Fazit (1)
• Alkoholkonsum Jugendlicher geht nicht nur mit Gewalt,
sondern auch (zumindest im Bereich von jugendtypischen
Bagatelldelikten) allgemein mit delinquentem Verhalten
einher.
• Alkoholmissbrauch und Gewalt sind zwei Seiten einer
Medaille: Alkohol missbrauchende Jugendliche haben eine
positivere Einstellung zu Gewalt, begehen häufiger
Gewaltdelikte und sind im Strafvollzug aufgrund von
schweren Gewaltdelikten überrepräsentiert.
• Der Bedarf an therapeutischen Maßnahmen im
(Jugend)Strafvollzug hinsichtlich Alkoholmissbrauchs
scheint eklatant unterschätzt zu werden.
27
Fazit (2)
• Der Zusammenhang von Gewalteinstellungen,
Rechtsextremismus, Alkoholkonsum und Gewalthandeln
zeigt, dass Alkoholmissbrauch – anders als
Drogenabhängigkeit – stärker durch das soziale (und
familiäre) Umfeld hervorgerufen und unterstützt wird.
• Offensichtlich ist Alkoholmissbrauch in bestimmten
sozialen Kontexten auch für eine positive Identität der
Betroffenen wichtig. Auch deshalb sind Alkoholmissbrauchende schwer für eine Therapie zu motivieren.
• Im therapeutischen Prozess sind in solchen Fällen neben
der drohenden Abhängigkeitsproblematik besonders auch
Probleme der männlichen und sozialen Identität zu
bearbeiten.
Fazit (3)
• Auch wenn sich nicht ausmachen lässt, was die primäre
Ursache im Kausalzusammenhang von Gewalt und
massivem Alkoholkonsum ist, gilt:
• Alkohol und Gewalt sind Komplizen:
Solange wir Alkoholmissbrauch nicht beenden können,
werden wir auch Gewalt nicht beenden.
30
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