Die Lippe Ein Fluss mit Geschichte Foto: André Zelck 14 15 SCHWERPUNKT Entdeckungsreise Aus Odins Auge entspringt ein Fluss Foto: André Zelck Die Lippe lockt mit einer bewegten Vergangenheit. Jetzt lädt eine Ausstellung in Lippstadt und PaderbornSchloss Neuhaus zu einer Flussreise von historischem Format. Foto: Stadt Bad Lippspringe Auenlandschaft an der Lippe »Odins Auge« heißt der Quellteich der Lippe im Volksmund. 16 Westfalenspiegel 4-2015 Foto: W eder Weser, Ruhr noch Ems können ihr das Wasser reichen. Sogar der größte Strom Deutschlands muss ihr diesmal den Vortritt lassen. Denn nicht der Rhein, sondern die Lippe ist der längste Fluss Nordrhein-Westfalens. Von ihrer Quelle in Bad Lippspringe am Fuße von Teutoburger Wald und Eggegebirge fließt sie auf 220 Kilometern einmal quer durchs Land, bis sie sich bei Wesel mit dem Rhein vereint. Damit ist sie zugleich der zentrale und längste Fluss in Westfalen. »Vater Rhein« ist viel besungen. Die Lippe hingegen scheint literarisch wie musikalisch weitgehend unentdeckt. Dabei wäre sie mit ihrer Geschichte und den Geschichten am Uferrand ein wahrer Quell an Inspiration. Schon ihre Entstehungsgeschichte ist sagenumwoben. So soll der nordische Gott Odin ein Auge geopfert haben, um dem trockenen Gebiet am Fuße des Teuto- burger Waldes Leben zu schenken. Odins Auge wird die Quelle der Lippe deswegen auch genannt. Von hieraus zieht sie als ausgeprägter Flachlandfluss in Schleifen und Mäandern durch die Landschaft, vorbei an Wiesen und Äckern, Dörfern und Städten, manchmal auch mittendurch. Mit einem eigenen Baustil wie die Weser kann sie zwar nicht auftrumpfen (nur mit einer Variante), dafür war sie jahrhundertelang einer der wichtigsten Schifffahrtswege. Einbäume aus der Lippe zählen zu den ältesten Verkehrs- und Transportmitteln der Region. Entdeckt wurden sie bei archäologischen Grabungen, die zahlreiche weitere spannende Funde ans Licht brachten. Denn die Lippe war Kultund Opferplatz, sie diente der Wasserversorgung, war Jagd- und Fischereirevier und stellt noch heute eine wichtige (Stadt)Grenze dar. Über Jahrhunderte bildete sie die Südgrenze des Fürstbistums Münster, 1923 war sie die Nordgrenze der Ruhrbesetzung durch die Franzosen, und bis heute trennt sie als Dialektgrenze das Münsterländische vom Südwestfälischen. Schon in der Steinzeit hinterließen Menschen ihre Spuren am Fluss. Seit etwa 7000 v. Chr. stehen die Lippe und ihre Nebenflüsse wie Pader, Ahse, Alme, Seseke und Stever in einem engen Wechselverhältnis mit der Kulturgeschichte des Menschen. Dieses Wechselverhältnis ist jetzt Dreh- und Angelpunkt einer sehenswerten Lippe-Schau, die als Doppelausstellung in Lippstadt und Paderborn-Schloss Neuhaus präsentiert wird. »Die Ausstellungen ergänzen sich, funktionieren aber auch jeweils für sich«, erklärt Dr. Georg Eggenstein, der bereits vor vier Jahren als freier Kurator gute Erfahrungen mit einer Lippe-Ausstellung an zwei Or- 17 SCHWERPUNKT Bis heute stellt die Lippe eine wichtige Sprachgrenze dar. Büstenreliquiar der Heiligen Ida von Herzfeld (um 1500) Hafen in Lippstadt, 1834 Schloss Hovestadt im Lippetal Urzeitlicher Angelhaken pe zwar ein Fluss von eher bescheidener Größe, in der Geschichte aber spielt sie eine umso größere Rolle. So nutzten die Römer den Fluss, den sie »Lupia« nannten, bei ihrem legendä ren Marsch zur Eroberung Germaniens um Christi Geburt als zentralen Schifffahrts- und Nachschubweg durch die ausgedehnten Wälder und Sümpfe. Alles, was ihr Überleben sicherte, wurde auf länglichen Lastkähnen auf der Lippe transportiert, darunter Lebensmittel und Geschirr, Leder für Zelte, Schilde, Schuhe und Pferdegeschirr, Metall für Waffen, Rüstungen und Helme, Textilien für Mäntel, Tuniken und Decken. Aber auch Luxusgüter wie griechischer Wein, spanische Fischsauce und Olivenöl waren regelmäßig an Bord. »Knapp 2000 Tonnen Weizen benötigte eine Legion von 5500 Mann im Jahr«, so Georg Eggenstein. Der Ausstellungsmacher aus Dortmund hat nicht nur als promovierter Archäologe ein ganz besonderes Interesse an dem Fluss. »Mein Ururgroßvater aus Ahsen bei Datteln gehörte in den 1870er Jah- Bild: Dieter Lohmann, Lippstadt Einsatz, doch viele Rettungsversuche schlugen fehl, weil niemand die Hilfsaktionen koordinierte«, macht Georg Eggenstein deutlich. Die Folge waren umfangreiche Planungen und Maßnahmen zum Hochwasserschutz. Denn die »Heinrichsflut« war kein singuläres Ereignis. Fotos in der Ausstellung zeigen, dass die Menschen hier bereits 1890 und 1946 unter katastrophalen Überschwemmungen zu leiden hatten. Ob die Lipperegion möglicherweise auch von der verheerenden »Magdalenenflut« betroffen war, die im Juli 1342 zahlreiche Flüsse Mitteleuropas heimsuchte und als »Jahrtausendhochwasser« in die Geschichte einging, »wird in der Wissenschaft gerade aktuell diskutiert«, weiß Georg Eggenstein. Hinweis da rauf könnte eine neu entdeckte Hochwassermarke in Hamm sein. Mit ihrem Einzugsgebiet von knapp 5000 Quadratkilometern ist die Lip- Westfalenspiegel 4-2015 18 vestadt im Traum ein Engel erschienen, der sie beauftragte, dort zu Ehren Gottes eine Kirche zu errichten. Als »westfälische Heilige« wird sie weit über das kleine Dorf im Lippetal verehrt. Ausgangspunkt der Lippe-Schau in Lippstadt wie in Paderborn-Schloss Neuhaus ist die sogenannte »Heinrichsflut« vor 50 Jahren, die bislang größte Hochwasserkatastrophe der Region: 1965 machte Westfalen seinem Klischee als »Regenland« alle Ehre. Nach einem nass-kalten Frühjahr und Sommerstart ließen lang anhaltende, wolkenbruchartige Niederschläge am 16. Juli die Flüsse und Bäche bei Paderborn, aber auch im Raum Soest, an der Warburger Börde und in Nordhessen geradezu explosionsartig anschwellen. Dämme brachen, die Dörfer und Städte entlang der Lippe wurden zum Teil komplett überflutet, auf dem Hellweg herrschte Land unter, in den Städten Paderborn und Lippstadt brach der Verkehr zusammen, in der Region starben sieben Menschen unter dramatischen Umständen. »Es waren tausende Helfer im Foto: Stephan Kube/Bischöfliches Generalvikariat Münster Foto: Stefan Brentführer/LWL ten gemacht hat. Während damals in Datteln und Waltrop (Schiffshebewerk Henrichenburg) vor allem der Unterlauf ab Hamm unter kultur- und siedlungsgeschichtlichen, wirtschaftshistorischen und naturkundlichen Aspekten beleuchtet wurde, steht diesmal der Oberlauf der Lippe im Zentrum. Viele interessante Objekte und Exponate hat Georg Eggenstein zusammengetragen, darunter einen urgeschichtlichen Angelhaken, einen Kulthammer aus der Jungsteinzeit, Lanzenspitzen und Beilklingen aus Bronze, ein nachgebautes Lippeschiff, Lippe-Gemälde des 17. Jahrhunderts sowie etruskische Bronzescheiben, die vermutlich in der Paderquelle gefunden wurden. »Einige Exponate stammen aus Privatbesitz und sind noch nie öffentlich gezeigt worden«, erklärt Georg Eggenstein. Zu sehen ist auch das berühmte Büstenreliquiar der Heiligen Ida von Herzfeld (um 1500). Der Verwandten Karls des Großen war der Überlieferung nach 786 bei einer Rast an der Lippefurt in der Nähe des heutigen Schlosses Ho- Foto: Sammlung Duncker Foto: Museum Lippstadt Karte: ISA – Interaktiver Sprachatlas des westfälischen Platt (www.lwl.org/isa) Land unter: die »Heinrichsflut« vor 50 Jahren in Lippstadt ren zu den letzten aktiven Lippeschiffern. Sein Tagebuch aus den Jahren 1875 bis 1877 ist eins von nur zwei erhaltenen Logbüchern der Lippeschifffahrt überhaupt«, erzählt er von seinen engen familiären Bindungen an die Lippe. Güter wie Ziegelsteine, Kohle, Eisenerz und Holz, aber auch Salz, Getreide, Schinken, Bier und Käse wurden auf der Lippe transportiert. Aufwärts musste getreidelt werden, abwärts ließ man sich treiben, setzte Segel oder half auch schon mal durch Staken nach. Bis Waltrop, dann war Schluss. Wegen der natürlichen Stromschnellen und der vielen Wassermühlen, die ab dem Mittelalter die ersten künstlichen Energiequellen bildeten und die wirtschaftliche Bedeutung der Lippe belegen, war der Fluss bis Anfang des 19. Jahrhunderts nicht durchgehend 19 SCHWERPUNKT Lippe-(Be)Kenntnisse Haben Sie ’s gewusst? Land und Fluss Luftbild: Hans Blossey Hier ist jeweils auch das Begleitbuch (156 S., 14,80 Euro) erhältlich. Foto: Stadt Dorsten Foto: wiki »Schepphort«, heißt es auf einer historischen Flurkarte von Dorsten. Der Hinweis auf die Schifffahrt kommt nicht von ungefähr. Die meisten Werften für die Lippeschiffe gab es im 19. Jahrhundert in Dorsten. Das Schiffbauerhandwerk vor Ort konnte dabei auf jahrhundertelange Tradition und Fachkenntnisse zurückgreifen. Unterschiedliche Schiffstypen sind bekannt, wobei der größte Typ, die »Dorstener Aak«, eine Länge von rund 39 Metern aufwies und eine Ladekapazität von 100 Tonnen hatte. Die großen Zweimaster wurden bis Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut und oft nach Holland überführt. Daneben entstanden Ruderboote und Flussfähren, die sogenannten Ponten. Hier sprudelt Geschichte: Unter dem LWL-Museum in der Kaiserpfalz befindet sich ein Quellkeller der Pader, Deutschlands kürzestem Fluss. In der Innenstadt Paderborns sprudeln aus über 200 kleinen Quellen durchschnittlich 5000 Liter Wasser pro Sekunde hervor, vereinigen sich zu Paderborns Hausfluss – der ganze vier Kilometer weiter im Zentrum von Schloss Neuhaus in die Lippe mündet. Aber vorher wird die Pader durch ein kleines Wehr sogar noch zum Padersee gestaut. Sagenhafte Stimmung im beleuchteten Quellkeller Gestatten: von der Lippe Eine Ausstellung, zwei Orte: »ImFluss« – Kultur- und Naturgeschichte der Lippe«: Galerie im Rathaus Lippstadt (bis 22. August) und Marstall PaderbornSchloss Neuhaus (bis 4. Oktober). »Schepphort« Dorsten Deutschlands kürzester Fluss Foto: LWL/Museum in der Kaiserpfalz Mittlerweile sind viele Tierarten zurückgekehrt. »Die Natur ist wieder auf dem Vormarsch«, heißt es beim Lippeverband, der 1926 nach dem Vorbild der Emschergenossenschaft als Wasserwirtschaftsverband gegründet wurde. Wie schön es an der Lippe von der Quelle bis zur Mündung vielerorts wieder ist, zeigt an beiden Ausstellungsorten der Film »Die Lippe aus der Luft« des Bochumer Luftbildarchäologen Baoquan Song. Und wo ist es für Georg Eggenstein am schönsten? »In Lippstadt. Hier ist das Wasser überall spürbar.« Sage und schreibe 700 Kilometer Wasserläufe – die Lippe eingerechnet – und 115 Brücken gibt es in der Stadt, die als »Venedig Westfalens« bekannt ist. Wer hier die Entdeckungsreise beginnt, kann sich auf eine Flussfahrt von historiKlaudia Sluka schem Format freuen. Westfalenspiegel 4-2015 20 eigens gegründete Lippe-Dampfschifffahrts-Gesellschaft ihr Glück. Nur drei Jahre später fuhr das mit viel Euphorie gegründete Unternehmen in die Insolvenz. Und schon Ende des 19. Jahrhunderts kam dann das weitgehende Aus für die Lippeschifffahrt. Die Konkurrenz durch die Eisenbahn war zu groß geworden. Die Mündung versandete, der Zugang zum Rhein war nicht mehr möglich, die Lippe geriet als Wasserstraße mehr und mehr in Vergessenheit. Diese Funktion übernahmen Anfang des 20. Jahrhunderts die Kanäle. Zur gleichen Zeit siedelten sich von Süden her Zechen und Industriebetriebe am Fluss ufer an. Die Bevölkerungszahl wuchs rasant, die Landwirtschaft expandierte, Wälder und Heideflächen verschwanden, immer mehr Abwässer wurden in die Lippe eingeleitet. Der einst so natürliche, lebendige Fluss, an dem Biber, Fischotter und Wasservögel ideale Bedingungen vorfanden, kam kaum noch zu Atem. Lange Zeit war das Wasser in der Lippe von eher mäßiger Qualität. Da half auch der künstliche Sauerstoff nicht, den man mit hohem Aufwand in den 1960er Jahren in den Fluss pumpte. Da hilft letztendlich nur Renaturierung, wie man heute weiß (vgl. S. 22). Modell eines Lippeschiffs Von der Lippe. Wer so heißt, muss aus der Dynastie stammen, die in der Lippe-Region seit Generationen so tief verwurzelt ist. Aber sein Vater war nicht Fürst oder Prinz, sondern Barkeeper, sein Künstler name ist Programm: »Ich dachte mir, findige Journalisten werden damit allerlei Wortspiele machen«, sagte Jürgen von der Lippe, bürgerlich Hans-Jürgen Dohrenkamp, in einem Interview. Tatsächlich stammt der Moderator, Entertainer und Komödiant (Markenzeichen: bunte Hawaiihemden) aus dem Lipper Land. 1948 wurde er hier geboren, aber nicht in Detmold, der Residenzstadt der Fürsten zur Lippe, sondern in Bad Salzuflen. Aufgewachsen ist er allerdings in Aachen. Der Wahl-Berliner hat sich zu einem der populärsten Bühnenund TV-Unterhalter hochgearbeitet und macht heute, nach fast 40 Berufsjahren, »nur Dinge, die wirklich Spaß machen«. Foto: PR Die Lippemündung bei Wesel schiffbar. An den Wehren mussten die Waren umständlich aus- und wieder eingeladen werden, ein großes Problem vor allem für die Fluss-Städte, die im Mittelalter am Lippe-Ufer entstanden sind: Lippstadt (1185), Hamm (1226), Lünen (1279), Haltern (1289), Dorsten (1251) und Wesel (1241) – sie alle lebten vom Handel, sie alle schlossen sich dem Städtebund der Hanse an. Zwischen 1748 und 1771 verhandelten Preußen, Kurköln und das Fürstbistum Münster als Anrainerstaaten erfolglos über eine Kanalisierung der Lippe. Als diese dann infolge des Wiener Kongresses 1815 in ganzer Länge preußisch wurde, ging alles ganz schnell. Nur zwei Jahre später erließen die reformfreudigen Preußen eine »Strom- und Uferordnung für den Lippe-Fluss«, der König bewilligte den Ausbau. An allen Wehren von Datteln bis Lippstadt wurden Schleusen gebaut und Schutzhäfen in Wesel-Fusternberg, Krudenburg und Hamm angelegt, der Fluss wurde begradigt, die Auenwälder verschwanden. Im Juni 1831 konnte die neue durchgehende Schifffahrtsverbindung in Schloss Neuhaus bei Paderborn festlich eingeweiht werden, 1840 wurden bereits 80 000 Gütertonnen auf der Lippe transportiert. Ab 1853 versuchte sogar eine Die Suche nach der Lippe ist im Lipperland selbst völlig vergebens. Der namensgebende Fluss entspringt zwar in der Nähe des lippischen Staatsgebietes in der Senne, berührte das Kernland aber nicht, sondern nur die Exklaven Cappel und Lipperode bei Lippstadt. Von dort stammt allerdings das Haus Lippe, ein Adelsgeschlecht von europäischer Bedeutung, das erstmals im Jahr 1123 urkundlich erwähnt wird. Als Regenten werden die Brüder Bernhard und Hermann zur Lippia genannt, das heutige Lipperland hatten sie zu Lehen. Wappenzeichen der Edelherren zur Lippe war die Lippische Rose, die bis heute im Wappen des Landes Nordrhein-Westfalen auftaucht. Die Nachfahren des letzten Fürsten leben im Schloss zu Detmold. Seit 1949 ist Armin Prinz zur Lippe (geb. 1924) Oberhaupt des Hauses Lippe. Lipperenaissance Laurentz van Brachum ist nicht nur einer der bedeutendsten Baumeister des 16. Jahrhunderts, sondern auch der Begründer der Lipperenaissance, einer Variante der Weserrenaissance mit eigenwilliger Ornamentik und reichem Figurenwerk. 1560 erhielt er den Generalauftrag für die Gestaltung der heute noch erhaltenen Hoffassade des Nordwestflügels von Schloss Horst im heutigen Gelsenkirchen, wobei er erstmals Stilelemente des in den Niederlanden entwickelten Manierismus verwandte. Seine herrlichen Schlösser im Stil der »Lipperenaissance« – darunter Schloss Hovestadt und Haus Assen – sind ebenso wie die Lippeaue zwischen Lippstadt und Lippborg eine Entdeckungsreise wert. Texte: slu 21
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