Unendlichkeit, Dr. Helmut Hühn, Jena 07.06.2015

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Predigt zum Universitätsgottesdienst am 7. Juni 2015
Stadt- und Universitätskirche St. Michael, Jena; Prediger: Dr. Helmut Hühn
Eingangsmusik (Johann Sebastian Bach)
Eingangslied Nr. 450: Morgenglanz der Ewigkeit, Strophen 1-3
1) Morgenglanz der Ewigkeit, / Licht vom unerschöpften Lichte,
schick uns diese Morgenzeit / deine Strahlen zu Gesichte
und vertreib durch deine Macht / unsre Nacht.
2) Deiner Güte Morgentau / fall auf unser matt Gewissen;
lass die dürre Lebensau / lauter süssen Trost genießen
und erquick uns, deine Schar, / immerdar.
3) Gib, dass deiner Liebe Glut / unsre kalten Werke töte,
und erweck uns Herz und Mut / bei entstandner Morgenröte,
dass wir eh wir gar vergehn, / recht aufstehn.
Liturg: Im Namen des Vaters und des Heiligen Geistes.
Gemeinde: Amen
Liturg: Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn,
Gemeinde: der Himmel und Erde gemacht hat
Liturg: Der Friede des Herrn sei mit euch
Gemeinde: und mit deinem Geist.
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Psalm 103
1 Ein Psalm Davids. Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen
heiligen Namen!
2 Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat,
3 der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen,
4 der dein Leben vom Verderben erlöset, der dich krönet mit Gnade und
Barmherzigkeit,
5 der deinen Mund fröhlich machet, und du wieder jung wirst wie ein Adler.
6 Der Herr schaffet Gerechtigkeit und Gericht allen, die Unrecht leiden.
7 Er hat seine Wege Mose wissen lassen, die Kinder Israel sein Tun.
8 Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte.
9 Er wird nicht immer hadern, noch ewiglich Zorn halten.
10 Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach
unserer Missetat.
11 Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, läßt er seine Gnade walten über
die, so ihn fürchten.
12 So ferne der Morgen ist vom Abend, lässet er unsere Übertretung von uns
sein.
13 Wie sich ein Vater über Kinder erbarmet, so erbarmet sich der Herr über die,
so ihn fürchten.
14 Denn er kennet, was für ein Gemächte wir sind; er gedenket daran, daß wir
Staub sind.
15 Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras; er blühet wie eine Blume auf dem
Felde.
16 Wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie
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nicht mehr.
17 Die Gnade aber des Herrn währet von Ewigkeit zu Ewigkeit über die, so ihn
fürchten, und seine Gerechtigkeit auf Kindeskind
18 bei denen, die seinen Bund halten und gedenken an seine Gebote, daß sie
danach tun.
19 Der Herr hat seinen Stuhl im Himmel bereitet, und sein Reich herrschet über
alles.
20 Lobet den Herrn, ihr seine Engel, ihr starken Helden, die ihr seinen Befehl
ausrichtet, daß man höre die Stimme seines Worts.
21 Lobet den Herrn, alle seine Heerscharen, seine Diener, die ihr seinen Willen
tut!
22 Lobet den Herrn, alle seine Werke, an allen Orten seiner Herrschaft! Lobe
den Herrn, meine Seele!
Lasst uns anbeten:
Gemeinde (mit Orgel): Ehre sei dem Vater EG 177,2
Eingangsgebet:
Treuer, unbegreiflicher Gott,
die Himmel können Dich nicht fassen –
und doch kommst Du uns Menschen nahe ‒ kommst Du in unsere Endlichkeit.
Du willst uns begegnen und stärken.
Gib uns Deinen Heiligen Geist,
der uns Deine Gegenwart spüren lässt mitten in unserem Leben.
In Dir und von Dir her und zu Dir hin leben wir.
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Erhalte in uns die Sehnsucht nach Dir.
Darum bitten wir durch unseren Herrn Jesus Christus, Deinen Sohn,
der mit Dir und dem Heiligen Geist lebt und regiert
von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Amen.
Schriftlesung: Röm. 14, 7-9 (Lektor vom Pult):
Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so
leben wir dem HERRN; sterben wir, so sterben wir dem HERRN. Darum: wir
leben oder sterben, so sind wir des HERRN. Denn dazu ist Christus auch
gestorben und auferstanden und wieder lebendig geworden, daß er über Tote
und Lebendige HERR sei.
Glaubensbekenntnis: Lied Nr 184: Wir glauben Gott im höchsten Thron
1. Wir glauben Gott im höchsten Thron, wir glauben Christum, Gottes Sohn, aus
Gott geboren vor der Zeit, allmächtig, allgebenedeit.
2. 2. Wir glauben Gott, den Heilgen Geist, den Tröster, der uns unterweist, der
fährt, wohin er will und mag, und stark macht, was daniederlag.
3. 3. Den Vater, dessen Wink und Ruf das Licht aus Finsternissen schuf, den
Sohn, der annimmt unsre Not, litt unser Kreuz, starb unsern Tod.
4. 4. Der niederfuhr und auferstand, erhöht zu Gottes rechter Hand, und kommt
am Tag, vorherbestimmt, da alle Welt ihr Urteil nimmt.
5. 5. Den Geist, der heilig insgemein lässt Christen Christi Kirche sein, bis wir,
von Sünd und Fehl befreit, ihn selber schaun in Ewigkeit. Amen.
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Predigt
Gnade sei mit euch und Friede, von dem, der da ist, der da war und der da
kommt!
„Das Menschlein, wie des Grases sind seine Tage,
wie die Blume des Felds, so blühts:
wenn der Wind drüber fährt, ist sie weg,
und ihr Ort kennt sie nicht mehr.“
(Ps. 103, v. 15-16, in der Übersetzung von Martin Buber)
Mit diesen Worten hat der Psalmist unsere menschliche Beschaffenheit zur
Sprache gebracht, unsere Hinfälligkeit und Verwundbarkeit. Mitten im dem
großen Hymnus, der aus dem Dank des Menschen heraus das Lob Gottes
entstehen lässt. Ja, wir Menschen, wir, die wir Staub sind (vgl. Gen. 3, 19),
leben, so der Psalmist, von der fortdauernden Güte Gottes. So wie der heiße
Wüstenwind eine gerade erblühte Blume in kurzer Zeit verdorren lassen kann
(vgl. Jesaja 40, 6 f.), so ist auch unser menschliches Leben dem ausgesetzt, was
es alsbald hinraffen kann. Gott weiß, so der Dichter des Psalms 103, „was für
ein ‚Gemächte‘ (Luther) wir sind, er denkt daran, daß wir nur Staub sind“ (Ps.
103, v. 14). Er hat Erbarmen mit uns und zeigt seine ewige Güte angesichts der
Grenzen des Menschenlebens: „Aber die Güte des Herrn währt immer und
ewig“ (Ps. 103, v. 17). Der Psalmist jedenfalls sieht die menschliche
Vergänglichkeit und Hinfälligkeit im Lichte solcher umfangender Güte Gottes.
Und wir, liebe Gemeinde?
Wenn wir heute auf die Wirklichkeit unserer selbst und auf die Endlichkeiten
unserer Welt schauen, fällt es uns schwer, vom Unendlichen zu sprechen. Auch
von dem Unendlichen, das die Frühromantiker um 1800 in unserer Stadt zu
ihrem Thema gemacht haben. Bleiben wir also bei uns selbst, bei unseren
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eigenen Erfahrungen. Nehmen wir den Ausgang vom Endlichen, gehen wir von
unseren eigenen Grenzen aus. Das Leiden an der Endlichkeit unserer selbst hat
viele Gestalten: Nur eine davon ist der Tod, den wir in uns tragen und den wir
auch antizipieren: eine peinliche, d.h. schmerzhafte Grenze, die unserem Leben
gesetzt ist. Eine Grenze, die wir – trotz vieler solcher Anstrengungen – gerade
nicht verleugnen können. Dass auch die Lebenszeit der Menschen endlich ist,
die wir lieben, schmerzt uns vielleicht noch mehr. Und nicht nur am Ende,
sondern auch mitten in unserem Leben zeigen sich viele ‚Endlichkeiten‘: Dinge,
die jäh enden oder langsam versiegen, wo uns die Kraft fehlt, ein Abgelebtes
wieder zu beleben, ihm neue Energie zu schenken, oder Dinge, die stagnieren,
die zu gar keinem Ende gebracht werden können, die bloß angefangen wurden.
In welchem Licht schauen wir, liebe Gemeinde, auf diese Endlichkeiten und
Lebensfragmente? Und erwarten wir noch etwas jenseits der Todesgrenze ‒ wie
die Schwestern und Brüder im Glauben, die vor uns gelebt haben? „Ein Tag, der
sagt’s dem andern, / mein Leben sei ein Wandern / zur großen Ewigkeit. O
Ewigkeit, du schöne, mein Herz an Dich gewöhne.“ So hat es Gerhard
Tersteegen 1729 in einem Lied gedichtet, in dem er Bezug nimmt auf den
Prediger Salomo. Dringen solche Verse einer alle Vergänglichkeiten
umfangenden Ewigkeit noch in unsere moderne Mentalität? Oder kennen wir
nur noch das Denken und Mühen im Horizont der Fristen unseres eigenen
Lebens?
Schaut man dem herrschenden modernen Bewusstsein zu, dass sich
geschichtlich herausgebildet hat, dann kann man den Eindruck gewinnen, dass
viele unserer Zeitgenossen sich radikal endlich verstehen wollen und sich gerade
deswegen zugleich immer mehr auf ihr eigenes Leben fixieren: Lebenszeit, das
ist dann allein eine gegebene individuelle Frist. Nichts ist so knapp wie die
Lebenszeit: Ja, sie ist die wichtigste Ressource. Nichts ist so wertvoll wie die
befristete Zeit: Deswegen wird sie ‚gespart‘ und deshalb muss sie fortwährend
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beschleunigt werden, um sie besser ausnutzen zu können. Ist diese zunehmende
Beschleunigung der Zeit unseres Lebens, ist diese permanente Ruhelosigkeit ein
guter Ewigkeitsersatz? So möchte man fragen.
Seien wir ehrlich: Regt sich nicht oft in uns die Empfindung, dass wir keine Zeit
haben? Durchflutet dieses Lebensgefühl nicht alle anderen unserer menschlichen
Bezüge? Keine Zeit zu haben ‚für etwas‘‚ für andere Menschen und für sich
selbst, ist das nicht das notwendige Resultat einer Lebenshaltung, die gebannt ist
von Endlichkeiten, die sie nicht mehr überschreiten kann und will? Ist diese
moderne Lebenshaltung nicht gefährdet, sich in der Folge immer mehr in sich
selbst zu verkrümmen und in sich einzuschließen?
Der Psalmist hat da offensichtlich noch ein ganz anderes Zeitverständnis und
einen ganz anderen Gesichtskreis. Er rückt die schwindende Zeit unseres Lebens
in den Horizont unseres Verhältnisses zu Gott und zu den anderen Menschen.
Die schwindende Zeit wird durch die Schuld vor Gott so kurz: durch unsere
Versäumnisse in der Zeit, die unser Leben und Dasein versehren. Der Dichter
des Psalms weiß, dass Gott unser versehrtes Leben wieder erneuern kann: „Der
dir alle dein Schuld vergibt und all deine Gebrechen heilt, / der dein Leben vom
Verderben erlöst, / der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit, / der dein
Leben mit Gutem erfüllt, / dass Du wieder jung wirst wie ein Adler“ (Ps. 103, v.
3-5): Vergeben – heilen – erlösen – krönen – mit Gutem erfüllen – verjüngen:
Gottes Tun umfasst das ganze Menschsein, das er immer wieder aus seinem
Lebensgrund heraus erneuert. Im Blick nicht allein auf die Vergänglichkeit,
sondern gerade auch auf unsere Versäumnisse und Fehlbarkeiten in der Zeit
sprechen die Psalmen auch andernorts die Hoffnung aus, „dass wir klug werden“
(Ps. 90, 12). Werden wir das? Liebe Gemeinde, werden wir klug?
Schrumpft nicht unser modernes Zeitbewusstsein immer mehr auf die
individuelle Lebensfrist zusammen und bewirkt solche Schrumpfung nicht eine
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ungeheure Erfahrungsarmut? So haben wir gefragt. „Nach mir die Sintflut“, das
ist die logische Konsequenz einer Lebenshaltung, die der lebendigen
Verbundenheit mit den anderen Menschen, mit den Lebenden wie den Toten,
verlustig gegangen ist, die sich nur noch im Rahmen der eigenen Lebensfrist zu
verorten weiß.
Die Beobachtung einer zunehmenden Verendlichung des Lebens ist auch der
Anlass und der Motor der romantischen Kritik vor mehr als 200 Jahren gewesen:
Leben wir im Alltag nicht oft so, als ob es Gott nicht gäbe, als ob es seiner nicht
bedürfte? So haben die Romantiker gefragt. Die gewöhnliche, alltägliche
Erfahrung hält sich gerne an das Endliche, so als ob es in seinem Sein ganz
selbständig wäre, nimmt also seine Verwurzelung im Unendlichen nicht mehr
war. Die Natur der endlichen Dinge bleibt dieser Erfahrung verborgen und auch
das Kontinuum des Ganzen, in das diese Dinge gehören. Das alltägliche
Bewusstsein fragt nach dem Woher und dem Wozu der Dinge, nach Ursachen
und Zweckdienlichkeiten, aber nicht nach dem ‚Was‘ und dem ‚Wie‘. Die
Diagnose, die Romantiker vor mehr als 200 Jahren gegeben haben, scheint die
einer schleichenden Verdrängung Gottes aus der Welt zu sein. Die Romantiker
in unserer Stadt befürchteten in eins damit den Verlust des Verstehens der
religiösen Erfahrung und Sprache. Deswegen artikulieren sie ihre Kritik als
Bewusstsein von dem, was fehlt und verloren zu gehen droht. Novalis, dessen
Fest wir heute in Jena feiern, kritisiert die „Philister“, die Spießbürger. Philister,
das sind, mit Novalis gesprochen, Menschen, die nur noch alltägliche Zwecke
kennen, die die Poesie alle sieben Tage zur Erholung zwischendurch
einschieben (wie ein „Septanfieber“), und die ihre „sogenannte Religion“ nur
noch als „Opiat“ kennen und als „Opiat“ benutzen:
„reizend, betäubend, Schmerzen aus Schwäche stillend. […] Der derbe Philister
stellt sich die Freuden des Himmels unter dem Bilde einer Kirmeß, einer
Hochzeit, einer Reise oder eines Balls vor: der sublimierte macht aus dem
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Himmel eine prächtige Kirche mit schöner Musik, vielem Gepränge, mit Stühlen
für das gemeine Volk parterre, und Kapellen und Emporkirchen für die
Vornehmern.“
So Novalis im Bewusstsein, dass das Unendliche zusehends verendlicht, die
Religion instrumentalisiert wird. Ja, wir selbst sind möglicherweise auch
„Philister“: Wir passen uns an an die Mentalitäten unserer Zeit. Wir denken, wir
entscheiden, wir handeln, ohne dass Gott dafür eine wesentliche Rolle spielen
würde. Wir tun dies als Individuen und wir tun dies oft auch in unseren
Institutionen. In den Kontext solcher Zeitdiagnose und -kritik gehört auch ein
‚Therapieangebot‘, das Friedrich Schleiermacher in seinen „Reden über
Religion“ (1799) unterbreitet hat. Religion, so Schleiermacher sei „Sinn und
Geschmack für das Unendliche“. Dieses Unendliche wird im Gefühl, im
unmittelbaren Selbstbewusstsein erfasst, und in der Anschauung: der
Anschauung des Unendlichen im Endlichen. Die Religion erfasst das
Unendliche nach Schleiermacher, und das ist für uns wichtig, gerade im
Endlichen: „sie will im Menschen nicht weniger als in allen anderen Einzelnen
und Endlichen das Unendliche sehen, dessen Abdruck, dessen Darstellung“ (51).
Die Romantiker in Jena und auch in Berlin fordern dazu auf, den
Zusammenhang von Endlichem und Unendlichem wieder neu zu entdecken, zu
begreifen und zu vermitteln. Die geforderte ‚Romantisierung der Welt‘, die dem
Endlichen einen „unendlichen Schein“ gibt, ist gerade nicht als postmoderne
Ästhetisierung und Mythisierung der Welt zu verstehen, sondern als Versuch
einer Vermittlung: Die zunehmende Macht des Endlichen im Denken und
Fühlen der Menschen soll aufgehoben werden, indem das Endliche wieder
zurückgebunden wird an das Unendliche, dem es sich verdankt. Romantisierung
der Welt, das heißt auch für Novalis: Erfahrbarmachen des Unendlichen mitten
im Endlichen.
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Auch der Psalmist ist davon überzeugt, dass wir den Odem Gottes gerade da
erfahren können, wo unsere menschlichen Grenzen beginnen, dass dieser Odem
Gottes unser Leben immer wieder erneuern kann. Die menschlichen Grenzen
beginnen nicht erst am Rande unseres Lebens, an der Todesgrenze, sondern in
der Mitte unseres Daseins (vgl. Dietrich Bonhoeffer: Schöpfung und Fall, Werke
Bd. 3, S. 80), mitten in den vielen Endlichkeiten, die unsere ganz eigene
menschliche Wirklichkeit ausmachen. Die christliche Lebenshaltung, wenn ich
das so sagen darf, lässt sich nicht von solchen Endlichkeiten bannen: Wir
glauben, dass jenseits des Endenden und Faktischen und heute absehbar
Möglichen noch Neues auf uns wartet. Christen verstehen ihr Leben auch von
der Zukunft Gottes her, auf die sich die Hoffnung des Glaubens richtet: eine
Hoffnung, die den Tod transzendiert. Wir überschreiten die Perspektive
befristeter individueller Lebenszeit auf die Zukunft Gottes hin und wissen unser
endliches Leben getragen von der Zukunft Gottes, von seiner Unendlichkeit.
Eine Kreatur Gottes sein, heißt in Grenzen existieren. Die (richtig verstandene)
Endlichkeit ist unsere Auszeichnung, nicht ein zu behebender Mangel. Unsere
Zeit, die Zeit, die wir miteinander leben, ist ein Geschenk Gottes. Jeden Tag
leben wir von der Zeit, die uns nicht gehört (vgl. Ps. 31,16). Das ist in der Tat
ein kostbares Geschenk, mit dem wir sorgsam umgehen müssen.
Vielleicht können wir auch unseren ‚Austritt aus der Zeit‘ als Geschenk Gottes
begreifen lernen im Vertrauen darauf, dass unser Leben nicht mit unserem Tod
endet. Dieses Vertrauen verbindet den Psalmisten mit dem Apostel Paulus,
dessen großes Wort wir in der Schriftlesung gehört haben, eines der schönsten
Worte, die es in den paulinischen Briefen gibt:
„Keiner von uns nämlich lebt für sich selbst, und keiner stirbt für sich selbst.
Denn wenn wir leben, so leben wir dem Herrn; und wenn wir sterben, so sterben
wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.“ (Röm.
14, 7-9)
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Das ist eine unerhörte Gewissheit, die Paulus artikuliert: eine Zuversicht und ein
Vertrauen auf Gott. Und zugleich auch eine Verantwortung und eine Aufgabe
für unser Heute und für unser endliches Leben: „Dem Herren leben“: das heißt
nämlich auch: die anderen Menschen sehen zu lernen, die, die meine Zeit
brauchen. ‚Mein Leben‘ führen heißt: Meine Zeit, die, die mir geschenkt wird,
mit anderen zu teilen und auch für sie da zu sein, wenn es Zeit dafür ist.
„Dem Herren leben“ und „dem Herrn sterben“, diese Relation schafft
Verbindungen, sie schafft Gemeinschaft über das Eigene hinweg. Weder im
Leben noch auch im Sterben ist ein Christ allein auf sich selbst bezogen. Auch
der Tod ist keine Privatangelegenheit, das Sterben kein Absturz in die
„Beziehungslosigkeit des Todes“ (Eberhard Jüngel). Das will uns Paulus
deutlich machen. Wir leben und wir sterben in der Güte Gottes. Diese Lebensund Sterbenshaltung, liebe Gemeinde, gilt es zu erlernen, jeden Tag auf’s Neue.
Dann können wir auch das Unendliche im Endlichen erblicken. Und das kann
uns manchmal unendlich froh machen mitten in unserem endlichen Leben.
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen
und Sinne in Christus Jesus.
Amen.
Predigtlied Nr. 64: Der Du die Zeit in Händen hältst
1. Der du die Zeit in Händen hast,
Herr, nimm auch dieses Jahres Last
und wandle sie in Segen.
Nun von dir selbst in Jesus Christ
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die Mitte fest gewiesen ist,
führ uns dem Ziel entgegen.
2. Da alles, was der Mensch beginnt,
vor seinen Augen noch zerrinnt,
sei du selbst der Vollender.
Die Jahre, die du uns geschenkt,
wenn deine Güte uns nicht lenkt,
veralten wie Gewänder.
3. Wer ist hier, der vor dir besteht?
Der Mensch, sein Tag, sein Werk vergeht:
Nur du allein wirst bleiben.
Nur Gottes Jahr währt für und für,
drum kehre jeden Tag zu dir,
weil wir im Winde treiben.
4. Der Mensch ahnt nichts von seiner Frist.
Du aber bleibest, der du bist,
in Jahren ohne Ende.
Wir fahren hin durch deinen Zorn,
und doch strömt deiner Gnade Born
in unsre leeren Hände.
5. Und diese Gaben, Herr, allein
lass Wert und Maß der Tage sein,
die wir in Schuld verbringen.
Nach ihnen sei die Zeit gezählt;
was wir versäumt, was wir verfehlt,
darf nicht mehr vor dich dringen.
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6. Der du allein der Ewge heißt
und Anfang, Ziel und Mitte weißt
im Fluge unsrer Zeiten:
bleib du uns gnädig zugewandt
und führe uns an deiner Hand,
damit wir sicher schreiten.
Text: Jochen Klepper 1937
Fürbittengebet
Treuer Gott,
die Himmel können Dich nicht fassen –
Du bist ohne Anfang und Ende, Du bist von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Wir danken Dir dafür,
dass Du uns in unserer Endlichkeit nahe kommst, dass Du unsere Endlichkeit
trägst.
Du hörst nicht auf, Schöpfer des Lichtes und des Lebens zu sein.
Du bist in Jesus Christus endlich und verletzlich geworden wie wir.
Im Heiligen Geist berührst Du unser Leben, jeden Tag aufs Neue.
Wir rufen: Herr, erbarme Dich.
Wir danken Dir, Gott, für unser endliches Leben: für das tägliche Brot, für die
Menschen, mit denen wir unsere Lebenszeit teilen, mit denen wir verbunden
sind. Segne und behüte uns.
Wir rufen:
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Wir beten für alle, die Licht und Stärkung brauchen.
Die Hilfe benötigen und Unterstützung.
Die sich nach Gesundung und Heilung sehnen,
überlastet und überfordert sind,
die auf der Flucht sind oder den Boden unter den Füßen verloren haben.
Die nicht aus noch ein wissen.
Wir bitten für uns, dass wir die Not unseres Nächsten sehen.
Wir rufen:
Wir bitten für diejenigen, die krank sind, für alle, die in der Familie, in
Krankenhäusern und Heimen Menschen pflegen und begleiten. Schenke Deinen
guten Geist, stärkende Worte und helfende Hände.
Wir rufen:
Wir bitten für diejenigen, die einen nahen Menschen verloren haben und für die,
die die letzte Wegstrecke ihres Lebens vor sich haben.
Unsere Zeit ist umfangen und getragen von Deiner Ewigkeit.
Schenke uns allen die Zuversicht und die Hoffnung, dass wir im Leben und im
Sterben die Denen sind, dass Du bei uns bist am Morgen und am Abend und uns
zu Dir führst.
.
Wir rufen:
In der Stille bringen wir vor Dich, was uns persönlich bewegt: an Schönem und
an Schwerem.
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Wir rufen:
Dir, unendlicher Gott, sei Lob und Preis und Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Vaterunser
Schlusslied (zur Vorbereitung des Segens) Nr. 503: Geh aus mein Herz,
Strophen 13-15
13. Hilf nur und segne meinen geist
mit segen / der vom himmel fleußt /
Daß ich dir stetig blühe /
Gib / daß der sommer deiner Gnad
In meiner seelen früh und spat
Viel glaubensfrücht erziehe.
14. Mach in mir deinem Geiste Raum /
Daß ich dir werd ein guter baum,
Und laß mich wol bekleiben /
Verleihe / daß zu deinem ruhm
Ich deines gartens schöne blum
Und pflantze möge bleiben.
15. Erwehle mich zum Paradeis
Und laß mich bis zur letzten reis
An leib und seele grünen /
So wil ich dir und deiner ehr
Allein / und sonsten keinem mehr /
Hier und dort ewig dienen.
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Segen
Liturg:
Der Herr segne dich und behüte dich
Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig
Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.
Gemeinde: Amen
Musik zum Ausgang (Johann Sebastian Bach)