Was heisst denn: «der wissen- schaftlichen Medizin verpflichtet

EDITORIAL
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Artikelserie «Wissenschaf t un d Medizin
Was heisst denn: «der wissenschaftlichen Medizin verpflichtet»?
Klaus Neftel
Redaktor Swiss Medical Forum
«Wir Ärzte sind einer wissenschaftlichen Medizin ver­
um einen Artikel zu diesem Thema gebeten hatte, ent­
pflichtet.» Das Bekenntnis kann man nur unterstüt­
stand aus dieser Idee unter seiner Ägide eine Serie von
zen. In vielen Zusammenhängen bräuchte es aber noch
vier Manuskripten, für die er prominente Autoren ge­
den Zusatz «… obschon die praktizierte Medizin selbst
winnen konnte: Professor Gerd Gigerenzer, Direktor
keine Wissenschaft ist, sondern ein empirisch erwor­
am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und am
benes Kennen und Können, das seine Erfolge aller­
Harding-Zentrum für Risikokompetenz, Berlin, Profes­
dings der Anwendung wissenschaftlicher und techno­
sor Johann Steurer, Direktor des Horten-Zentrums für
logischer Erkenntnisse verdankt». Es stimmt zwar:
praxisorientierte Forschung und Wissenstransfer in Zü­
Ohne Wissenschaft wäre die Medizin immer noch im
rich, Professor Gerd Antes, Direktor des Deutschen
Zeitalter des Aderlasses und hitzigen Frieselfiebers,
an dem Mozart laut seinen letzten Ärzten verstor­
ben sein soll. Die diagnostischen und therapeu­
tischen Fähigkeiten heutiger Ärzte sind aber vor
allem durch kritisch gemachte Erfahrungen ent­
standen, und gute Medizin ist damit allenfalls
In der Medizin dürfte es jedoch dabei bleiben,
dass individuelle Probleme von
individuellen Personen erkannt und gelöst
werden sollen
«Erfahrungswissenschaft» im besten Sinn. Der
Klaus Neftel
Wunsch nach Erkenntnissystemen, die immer mehr
Cochrane Zentrums, Freiburg i. Br., und David Klempe­
überindividuelle Gesetzmässigkeiten und Zusammen­
rer, Professor für Sozialmedizin und Public Health an
hänge erfassen, ist zwar menschlich und allgegenwär­
der Universität Regensburg.
tig. In der Medizin dürfte es jedoch dabei bleiben, dass
Die Artikel behandeln Fragen wie: Wo liegt der Härte­
individuelle Probleme von individuellen Personen er­
grad von Aussagen? Wie kann Nichtwissen identifiziert
kannt und gelöst werden sollen. Definitiv in keine wis­
werden? Wo finden sich Ausbildungslücken im Medi­
senschaftliche Kategorie gehören die dabei zu beach­
zinstudium? Wie kommt man zu vertrauenswürdigen
tenden Verhältnismässigkeiten oder einfacher gesagt
Aussagen? Aber auch die unterschiedliche Wahrneh­
das «richtige Augenmass». Die Diskussion, wie wissen­
mung von «Facts» durch Fachleute und Laien, defensive
schaftliche Ergebnisse in die medizinische Praxis ein­
und unnötige Medizin, der resultierende Nutzen und
fliessen können, wird ein Dauerbrenner bleiben.
Schaden und die Wissensvermittlung für informierte
Neben den allgemeineren Aspekten des Wissenstrans­
Patientenentscheidungen werden thematisiert. Die Ar­
fers interessiert den einzelnen Arzt vor allem, wie die
tikel werden in dieser und den folgenden drei Nummern
Spreu vom Weizen getrennt werden kann. Nachdem
des Swiss Medical Forum erscheinen. Wir wünschen er­
der Soziologe Rolf Ritschard vorerst Gerd Gigerenzer
spriessliche Lektüre.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2015;15(36):785