20151512 Kein Gefühl für die Gefühle

Kein Gefühl für
die Gefühle
Betroffene nehmen Gefühle rational
wahr, versuchen sie zu verstehen –
fühlen Sie aber nicht.
Alexithymie nennt sich das Phänomen in
Fachkreisen. Eines vorweg: Es ist zwar
belastend die eigenen wie auch die Gefühle
anderer nicht fühlen zu können.
Alexithymie ist aber keine Krankheit,
sondern lediglich als
Persönlichkeitsmerkmal einzustufen.
Dennoch kann es für die Betroffenen sehr
belastend sein.
Man ist einfach etwas „anders“ als die
anderen. Gefühle nehmen Betroffene eher
rational, als „logisch“ wahr. Diese zu fühlen
fällt ihnen aber schwer, beziehungsweise es ist
ihnen nicht möglich. Das beschränkt sich aber
nicht nur auf die eigenen Gefühle, sondern
darüber hinaus auch auf die Gefühle der
Mitmenschen. Einfühlung bedeutet für
Betroffene, darüber nachzudenken, wie es
anderen geht – aber es auch zu fühlen ist
quasi unmöglich.
Wichtig ist zu verstehen, dass diese Gefühlsblindheit keine Krankheit ist, sondern lediglich
ein besonderes Merkmal einer Persönlichkeit
ist. Und wie bei vielen Dingen ist es auch hier
so, dass es auch positive Aspekte dieses
Phänomens gibt. So gibt es natürlich auch
viele Gefühle, die Menschen dazu bringen,
sich keineswegs optimal zu verhalten. Gefühle
wie Ärger, Zorn, Angst und Wut sorgen oft
dafür, dass wir uns wie ein Elefant im
Porzellanladen aufführen. Sobald die Gefühle
verschwunden sind, stehen wir dann vor dem
Scherbenhaufen. Das kann jemandem, der
seine Gefühle fühlen kann, natürlich nicht
passieren.
Seite 1
Trotz dieses positiven Aspekts nehmen
Betroffene ihre Gefühlsblindheit überwiegend
als Belastung wahr. Im beruflichen wie auch im
privaten Umfeld gibt es viele Situationen, in
denen es einfach wichtig ist, sich in Mitmenschen einzufühlen. Denn nur so kann man
wirklich deren Standpunkt nicht nur nachvollziehen, sondern wirklich nachempfinden.
Dieses Nachempfinden ist in der Regel die
Basis für einen respektvollen Umgang und
zielführende Lösungen, im Privaten sogar die
Voraussetzung für erfüllte Beziehungen unter
Freunden oder Partnern.
Woher kommt der Alexithymie?
Geschlechterübergreifend sind von dieser
Gefühlsblindheit zehn Prozent der
Bevölkerung betroffen. Bei der Erhebung
dieser Daten wurden lediglich Menschen
untersucht, die unter keiner weiteren
psychischen Erkrankung oder Störung leiden.
Also betrifft die Alexithymie 10% aller
psychisch gesunden Menschen.
Ursachen liegen in der Regel in der Kindheit.
So ergaben Einzelfallstudien, dass vorwiegend
eine emotionale Vernachlässigung in der
Kindheit eine große Rolle spielt. Als die
Betroffenen im Kindheitsalter waren, spielten
Gefühle in deren Umfeld quasi keine Rolle. Sie
wurden nicht nach ihnen befragt und im
Haushalt ging es überwiegend logisch-rational
zu – und wenig emotional. Mit weitreichenden
Konsequenzen, die Betroffenen das Leben oft
nicht leichter machen.
Was also tun?
Klar ist: Vergangenes kann man nicht
ungeschehen machen. Allerdings kann man
die Auswirkungen von Vergangenem auf das
heutige Leben sehr wohl ändern. Im
Wesentlichen geht es darum, zunächst seine
eigenen Gefühle zu entdecken – was als
Prozess und nicht als schnelle Maßnahme zu
verstehen ist. Erste Erfolge werden sich jedoch
bald einstellen, und wenn man dran bleibt
stetig weiter steigern. So sind Betroffene in
absehbarer Zeit in der Lage, sich selbst und
ihre Mitmenschen besser zu fühlen. Ihre
emotionale Wahrnehmung verändert sich und
sie entwickeln eine große Gefühlskompetenz.
Ihnen wird es möglich, Gefühle bewusst
zuzulassen – oder die Situationen, in welchen
die Gefühle behindern würden, eben nicht
zuzulassen. Im Ergebnis besitzen Sie die
optimale Voraussetzung, um sowohl rational
und überlegt zu agieren, als auch emotional
und einfühlend mit Menschen umzugehen.
Die gute Nachricht: Der Weg dorthin ist
eigentlich ganz einfach und kann sehr leicht in
den Alltag integriert werden. Wenn Sie selbst
betroffen sind,
•
•
•
•
Seite 2
beginnen Sie über Gefühle zu reden.
Tauschen Sie sich mit möglichst vielen
Menschen darüber aus, wie diese
Gefühle empfinden. Wie sie sich
anfühlen und welche Emotionen deren
Perspektive in Ihnen auslöst.
begeben Sie sich in emotionale
Situationen. Sei es der romantische
Kinofilm, das Candle-Light-Dinner mit
dem Partner, das Gespräch mit den
Eltern, der Weihnachtsmarkt oder die
Wildwasserbahn im Vergnügungspark.
Sorgen Sie für emotionale
Erfahrungen, analysieren Sie dabei
ihren Gefühlszustand und reden Sie
darüber.
meiden Sie Umgebungen, in denen
Gefühlsarmut dominant ist, oder
beginnen Sie in diesen Umgebungen
über Gefühle zu reden.
beginnen Sie, die täglichen
Nachrichten nicht nur rational zu verstehen, sondern sich darüber hinaus
vorzustellen, wie sich die agierenden
Personen fühlen. Lassen sie hier ihren
Fantasien freien Lauf. Es geht nicht
darum, ob ihre Annahmen richtig oder
falsch sind, sondern lediglich darum,
die möglichen Emotionen
nachzuempfinden – so gut es eben
gelingt.
•
Umgeben Sie sich mit Kindern – oder
auch mit Tieren. Denn sowohl Kinder
als auch Tiere haben in der Regel
einen sehr guten Zugang zu ihren
Gefühlen, welche im spielerischen
Umgang miteinander zum Ausdruck
kommen. Optimal ist hier, sich einfach
darauf einzulassen und mitzuspielen –
sozusagen im Spiel mit Kindern und
Tieren wieder selbst zum Kind werden.
•
reden Sie mit Ihrem Partner über Ihre
emotionale Wahrnehmung und
Veränderung – und darüber, wie Ihr
Partner diese wahrnimmt.
•
tun Sie so „als würden Sie bereits
fühlen“. Wenn der Zugang zunächst
schwer fällt, dann erlauben Sie sich,
sich einfach vorzustellen, wie sich
bestimmte Gefühle in ihnen anfühlen
würden, wenn Sie diese fühlen
könnten. Und, wenn Sie diese Wirkung
noch verstärken wollen, halten Sie ihre
Erfahrungen schriftlich fest.
Integrieren Sie auf diese Art und Weise die
Gefühle mehr und mehr in Ihren Alltag. Gehen
Sie es spielerisch und dennoch konsequent
an. Jeder Mensch hatte einmal Zugang zu
seinen Gefühlen. Diese sind auch immer noch
vorhanden, nur ist eben der Zugang bei dem
einen oder anderen mehr oder weniger in
Vergessenheit geraten.
Es lohnt sich, diese Zugänge (wieder) frei zu
legen! Als Lohn bekommen Betroffene nicht
nur ein gefühlsbetonteres Leben, sondern
darüber hinaus auch eine
überdurchschnittliche Sozial- und
Gefühlskompetenz. Sie ermöglicht, souverän,
sympathisch und erfolgreich sein Leben zu
gestallten.
Mirko Irion | Coach und Mentalexperte