MITTEN IN DER STADT

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MITTEN IN DER STADT
Charles de Foucauld und Visionen für eine City-Pastoral
Der Vergleich könnte gar nicht widersprüchlicher sein: Auf der einen Seite der einsame
„Marabut“ aus der Wüste Sahara. Auf der anderen Seite das bunte Leben in der Stadt mit all
ihren Facetten. Charles de Foucauld und die Vielfalt einer Großstadt – wie passt das
zusammen? Tatsächlich scheint es auf den ersten Blick nur wenig Berührungspunkte zu
geben. Der Blick weitet sich aber, wenn wir unsere Städte einmal als das betrachten, was sie
sind: Überwiegend Betonwüsten, die Hunderttausenden von Menschen Heimat, Arbeitsstätte
und Unterhaltungsangebot zugleich sind.
Der Kleine Bruder Carlo Caretto war es, der in der Stadt die Wüste ansiedelte: „Die Wüste
kannst du überall finden, auch in der Stadt.“ Er empfahl, die Wüste mitten in das Getriebe der
Menschen zu bringen, so wie einst Charles de Foucauld. Dieser wählte für seine Einsiedelei in
Beni Abbès, Tamanrasset und auf dem Assekrem jeweils eine Stelle, wo er sich ebenso leicht
in die Gegenwart Gottes wie in die Gegenwart der Menschen begeben konnte.
Die Großstadt aber ist ein Ort eklatanter Widersprüche. Auf relativ engstem Raum stehen sich
Arm und Reich gegenüber, dazwischen die breite Masse, der „normale“ Bürger. Die
Großstadt ist schillernd, ansprechend und anziehend ebenso wie abstoßend, stumm und
grausam.
Den städtischen Lebensraum in eine humane Lebenswelt zu verwandeln – das ist eine große
Chance für die Kirche. In vielen Städten wird das auch schon praktiziert: Pfarrgemeinden
öffnen ihre Zentren auch für nicht kirchliche Gruppen, Ordensgemeinschaften richten
Teestuben für Obdachlose ein usw. Beim Betrachten der Biographie von Charles de Foucauld
fielen mir weitere Aspekte auf, die durchaus Maßstab für eine moderne City-Pastoral der
Kirche sein können. Hier einige Schlaglichter:
Bruder aller Menschen
Charles de Foucauld ließ sich in der Wüste „Khaouia Carlo – Bruder Karl“ nennen. Er sagte,
er wolle „der Bruder aller“ sein, der Soldaten wie der Eingeborenen. Er mochte (nach ersten
Versuchen mit der Klausur) keine Grenzen um sein Haus.
Kirche in der Stadt ist dann nicht nur dazu da, für die eigenen Mitglieder zu sorgen.
Kennzeichen einer Pastoral in der Großstadt sind demnach Gastfreundschaft und
Weggemeinschaft. Sie öffnet ihre Tore auch jenen , die zwar nicht zum engen Kreis der
Gemeinde zählen, aber dennoch ein Anliegen vertreten, das im weitesten Sinne die Sehnsucht
nach dem Reich Gottes durchscheinen lässt. So könnte zum Beispiel eine Pfarrgemeinde
Räume schaffen, damit sich auch andere Religionsgemeinschaften, etwa Männer und Frauen
des Islam, begegnen können.
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Gastfreundschaft gewähren
Die Hütte von Bruder Karl in Tamanrasset war jederzeit offen. Wann immer er von
Einheimischen oder vorüberziehenden Soldaten gebraucht wurde, hatte er für sie Zeit und
hörte ihnen zu. Von den Einheimischen wurde ihm der Ehrentitel „Marabut“ zuerkannt.
Die Kirche sozusagen als Herberge, die den Wanderern Rast gibt, als Ort der Begrüßung, als
Ort der Annahme. Dort, wo die Pfarrei als Gemeinschaft von Menschen erlebt wird, die
aufeinander zugehen und die Last des alltäglichen Lebens wie auch die Gelegenheiten der
Freude miteinander teilen, dort sind Lebens-Orte, die einladend wirken und die dankbar
angenommen werden. Es sind Stätten der „Erholung“ im hektischen Getriebe einer Großstadt.
Ohne Worte von den Dächern rufen
Charles de Foucauld wollte allen Menschen die Liebe Jesu zeigen. Er sah es als seine
Berufung an, durch sein Leben die frohe Botschaft vom Heil zu verkünden. „Es geht darum,
das Evangelium von den Dächern zu verkünden, nicht durch das Wort, sondern durch das
Leben.“
Wenn die Kirche das Evangelium verkünden will, und zwar „durch ihr Leben“, dann muss
diese Kirche auch im Leben der Leute anzutreffen sein. Dann muss sie den Mut aufbringen,
ihren eigenen Bereich auch einmal zu verlassen.
Solidarität und Nächstenliebe
Charles de Foucauld setzte sich für die Menschen in Not ein. In Beni Abbès z.B. kämpfte er
gegen die Sklaverei und verwendete einen großen Teil des Geldes, das ihm seine Familie
schickte, zum Freikauf von Sklaven.
Die Diakonie hat ihren Platz im Zentrum christlicher Gemeinden und zielt gleichzeitig auf die
Ränder des menschlichen Lebens. Überall dort, wo einzelne Menschen oder ganze Gruppen
der Gesellschaft schwach sind, bedürfen sie der Solidarität und Hilfe der christlichen
Gemeinde. Ein diakonisches Handeln im Geiste von Charles de Foucauld könnte für eine
Pfarrgemeinde unterschiedliche Akzentuierungen besitzen: Solidarischer Einsatz für die
Kranken und Sterbenden, Hilfe für allein erziehende Frauen oder politisches Engagement.
Gemeinschaft
Es gehört zu der großen Tragik im Leben von Charles de Foucauld, dass sich sein
Lebenstraum zu Lebzeiten nie erfüllt hat. Stets war er auf der Suche nach Menschen, die mit
ihm zusammen leben sollten. Er erstellte mehrfach Ordensregeln. Dafür aber lebte er mit den
Bewohnern der Wüste in einer Art Schicksalsgemeinschaft. Die Wüste kann man nämlich nur
in Gemeinschaft überleben. Mehr als einmal waren es Leute aus dem Stamm der Tuareg, die
den kranken Marabut pflegten oder ihn in größter Not mit Nahrungsmitteln und mit Wasser
versorgten.
Ein Überleben in den Großstädten unserer Tage kann ebenso nur in Gemeinschaft
gewährleistet werden. Einer Gemeinschaft aber, die überschaubar ist und die den Einzelnen
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noch mit seinen Bedürfnissen im Blick hat. Wenn viele Gruppierungen entstehen, in denen
sich Menschen ohne Konkurrenzdenken zu einer geistlichen Gemeinschaft verknüpfen, dann
wirkt dies auch wiederum positiv auf die Gesamtgemeinde. Kirche lebt aus kleinen Zellen,
aus lauter kleinen Gemeinschaften.
Lebendige Eucharistie
Charles de Foucauld verspürte: Gott ist da, man kann in seiner Nähe verweilen. Für ihn ist die
Eucharistie das Sakrament der Anwesenheit Gottes. Täglich verbrachte er mehrere Stunden
vor dem Allerheiligsten.
Für die Seelsorge in der Großstadt ist die Eucharistie das „Sakrament des Alltags“. Hier wird
Christus gegenwärtig und zur Kraftquelle für jene, die auf ihn bauen. Auch in der
individuellen Anbetung, die aus dem stillen Verweilen vor der Eucharistie erwächst. Immer
mehr Kirchengemeinden bieten daher sogenannte „Oasen der Stille“ an, die mitten im Alltag
zum Verweilen einladen.
Lebensbetrachtung (Révision de vie)
Der Gedanke der Lebensbetrachtung (auf französisch: révision de vie) ist in den
Gemeinschaften, die sich auf Bruder Karl berufen, beheimatet. Gemeint ist damit, dass die
einzelnen Gruppen im Licht des Evangeliums ihren familiären (bzw. priesterlichen), sozialen,
beruflichen, kirchlichen und politischen Einsatz überprüfen. In Erfahrungsaustausch,
Schriftgespräch oder Besprechung pastoraler Aufgaben werden einander die Ereignisse,
Sorgen, Hoffnungen und Enttäuschungen mitgeteilt.
In der Pastoral lässt sich die „révision de vie“ in weitestem Sinn mit Reflexion übersetzten. In
der Großstadtseelsorge muss die Arbeit nicht nur im Voraus geplant, sondern auch im
Nachhinein durchdacht und aufgearbeitet werden. Es braucht von daher Priester, Haupt- und
Ehrenamtliche, die fähig sind, miteinander zu kommunizieren und zu kooperieren. Eine
solche Geschwisterlichkeit ist nur möglich unter Menschen, die zur Gemeinschaft und
Teamarbeit fähig sind.
Leben von Nazareth
Charles de Foucauld war klar geworden: Wenn er Jesus nachfolgen wollte, dann müsste er wie
Jesus selbst den letzten Platz wählen. So entscheidet er sich, ein Leben in äusserster Armut und
Bescheidenheit zu führen.“Nazareth“ ist ein Leben in engster Verbindung mit Jesus, geführt in
ebenso enger Verbindung mit den Menschen, unter denen Jesus uns unseren Platz zuweist, in
Verbundenheit auch mit ihren Sorgen, ihrem Ringen um ein menschenwürdiges Leben und mit
ihren echten Freuden.
„Nazaret“ im Leben der Kirche bedeutet Abschied nehmen von liebgewonnenen
Machtpositionen und von Einflussnahme aller Art. Eine Kirche, die mehr auf das Hören bedacht
ist als auf ein ständiges Antwortgeben, wird von innen heraus bescheidener. Sie stellt sich dann
noch deutlicher auf die Seite der Benachteiligten und macht sich zum Fürsprecher der Leute,
deren Stimmen im lauten Wirrwarr unterzugehen drohen.
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Leben in Kontemplation
Charles de Foucauld führte bei allem Einsatz für die Menschen ein kontemplatives Leben. Er
hielt regelmäßige strenge Exerzitien, er verbrachte mehrere Stunden des Tages in innerer
Verbindung mit seinem „lieben Bruder und Herrn“ und nahm sich viel Zeit für die Schriftlesung.
Daraus schöpfte er die Kraft, um für die Menschen da sein zu können.
Kontemplativ – mitten in der Welt. Oasen der Geborgenheit und der Stille – mitten in der
hektischen Betriebsamkeit des Alltags. Solche Räume zu schaffen, ist primär Aufgabe der
Kirche. Offene, stets zugängliche Kirchengebäude sind die eine Seite. Zusätzlich müsste die
Kirche Angebote parat haben, die es den hin- und hergetriebenen Menschen erlauben, inne zu
halten und sich neu zu orientieren.
Bernhard Löhlein
Schriftleiter von „Mitten in der Welt“
Mitglied der Gemeinschaft Charles de Foucauld
Auszug aus: Mitten in der Welt 157
www.kleineschwesternjesu.net