Im Fokus Das Risikoparadox Warum wir uns vor dem Falschen fürchten Munich Re Daktylos 2015 Durch neue Technologien, ausgeklügelte mathematische Modelle und immer umfassendere statistische Erhebungen gab und gibt es im Risikomanagement gewaltige Erkenntnisfort schritte. Die richtigen Schlüsse daraus können jedoch letztlich nur Menschen ziehen. Und als Menschen fürchten wir uns allzu leicht vor dem Falschen und übersehen die wahren Risiken. Warum aber stecken wir in diesem Risikoparadox und wie können wir uns daraus befreien? von Ortwin Renn Europa vor 6.000 Jahren: Drei Vertreter der Gattung Homo sapiens sitzen vor ihrer Höhle und unterhalten sich. „Wir haben absolut sauberes Wasser“, sagt der erste. „Ja“, bestätigt der zweite, „wir ernähren uns auch rein biologisch und haben keinen JobStress.“ „Stimmt“, grübelt der dritte, „klingt paradiesisch, aber wir werden höchstens 30 Jahre alt.“ In Deutschland liegt die durch schnittliche Lebenserwartung für Frauen heute dagegen bei 86 und für Männer bei 82 Jahren. Zu verdanken ist diese äußerst positive Entwicklung vor allem vier Faktoren: einer angemessenen und ausgewogenen Ernährung, dem medizinischen und techni schen Fortschritt, relativ guter sozialer Absicherung und hohen Hygienestandards. Die Lebens- und Gesundheitsrisiken haben allein dadurch über Jahrzehnte stetig abgenommen und tun es heute noch. Nichtsdestotrotz zeigen aktuelle Umfragen, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung der Überzeugung ist, dass unser Leben immer gefährlicher und risikoreicher wird. Ist es nicht so, dass wir immer häufiger in den Medien neue Lebensmittelskandale oder „Umweltsauereien“ vorgeführt bekommen, dass immer mehr Menschen durch die moderne Technik bedroht und durch Umwelt belastungen in ihrer Gesundheit gefährdet werden? Die Antwort auf diese Frage ist bestechend einfach. Sie lautet „Nein“. Ein Beispiel: Von 100.000 Deutschen sterben aktuellen Statistiken zufolge 26.000 an Krebs. Krebserkrankungen sind damit hier zulande die Todesursache Nummer 1 für Menschen bis zum 70. Lebensjahr. Bei 11.000 von den 26.000 Krebstoten waren Auslöser der Erkrankung sehr wahrscheinlich das Rauchen oder eine falsche Ernährung, Stichwort Übergewicht. Aber in nur 26 Fällen (mit einem Konfidenzintervall von rund 0–120) kann der Krebs auf Pestizidrückstände oder chemische Konservierungsmit tel in Lebensmitteln zurückgeführt werden, so die allgemeine medizinische Einschätzung. Einige Umweltorganisationen halten diese Angaben für zu niedrig und sprechen von bis zu 240 Fällen Munich Re Daktylos 2015 Im Fokus Das Risikoparadox Wer regelmäßig unter Kopf schmerzen leidet und in der Nähe eines Mobilfunk masts wohnt, hat in aller Regel schon vor dem ersten Arztbesuch die Ursache ausgemacht. Munich Re Daktylos 2015 pro 100.000 Einwohner. Auch dies ist eine immer noch verschwin dend geringe Zahl. Dennoch nennen die Deutschen in Umfragen Pestizidrückstände als eines der aktuell größten Gesundheits risiken. An dritter Stelle folgen gentechnisch veränderte Lebens mittel, die in Deutschland gar nicht verkauft werden. Unausge wogene Ernährung, Bewegungsmangel, Alkoholkonsum und Rauchen – also die vier Ursachen, auf die sich in Deutschland weitaus mehr als die Hälfte aller frühzeitigen Todesfälle zurück führen lassen – spielen in der allgemeinen Risikowahrnehmung dagegen kaum eine Rolle. Wie lässt sich dieses Phänomen erklären? Warum fürchten wir uns vor Gefahren und Risiken, die nach bester wissenschaftlicher Erkenntnis wenig Schaden anrichten, und warum verschließen wir unsere Augen gleichzeitig vor Risiken oder ignorieren sie in unse rem Verhalten weitgehend, die uns erheblich bedrohen? Die Flut der Medienberichte über die Gefahren gentechnisch veränderter Lebensmittel, um beim Beispiel zu bleiben, ist eine der Ursachen dafür. Die Mehrheit der Deutschen glaubt angesichts der enormen Präsenz von Raubüberfällen und Gewaltverbrechen in den Medien auch an eine stetige Zunahme der Kriminalität. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Überspitzt formuliert, können diese Fehl einschätzungen tragische Folgen haben – etwa die, dass vor allem ältere Menschen aus Furcht vor einem Überfall nur noch selten die Wohnung verlassen und dadurch ihr Risiko an Bewegungsmangel zu erkranken deutlich erhöhen. Eine Erklärung für diese falsche Risikowahrnehmung ist die Tatsache, dass uns die Medien zu ständigen Augenzeugen dessen machen, was schiefläuft. Und der Mensch hat in vielen Jahrtau senden der Evolution gelernt, alles ihn Verunsichernde als poten zielle Gefahr einzuschätzen, sofern es ihm zeitlich oder räumlich nah ist. Wird dieses Naheliegende dann auch noch von Experten als bedrohlich eingestuft, steht unser Urteil schnell fest. Wer etwa regelmäßig unter Kopfschmerzen leidet und in der Nähe eines Mobilfunkmasts wohnt, hat in aller Regel schon vor dem ersten Arztbesuch die Ursache ausgemacht. Dieses unmittelbare Kausalitätsdenken war in der Vergangenheit äußerst hilfreich, um beispielsweise einen heranpirschenden Säbelzahntiger als Risiko zu erkennen und sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Beim Erkennen der heute vorherrschenden komplexen Risiken ist es jedoch eher hinderlich. Das Naheliegende ist in unserer aktuellen Risikowirklichkeit oft das Falsche. Denn Gefahren wie unausgewogene Ernährung, Bewegungsmangel, Rauchen und Alkoholkonsum wirken sich weder unmittelbar aus noch nehmen sie linear zu. So finden sich unzählige Beispiele von Kettenrauchern, die hohe Lebensalter erreicht haben und nicht an Krebs erkrankten. Als Menschen registrieren wir dies und lassen uns von unserem Kausalitätsdenken auf einen falschen Pfad der Risikowahrnehmung führen. Dies wiederum führt dazu, dass wir die wahren Risiken in unserem täglichen Leben ignorieren und häufig fahrlässig handeln. Noch schwieriger wird es bei weltweit vernetzten, nicht linearen Risiken wie sie heute zum Beispiel vom Klimawandel ausgehen oder vom globalen Finanzsystem und der damit eng zusammen hängenden, wachsenden Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Die OECD hat dafür unlängst die neue Kategorie der „systemi schen Risiken“ eingeführt. Dazu zählen alle Bedrohungen, die aufgrund ihres Schadenpotenzials als systemrelevant einzuschät zen sind und vor allem solche Risiken, die sich – wie die oben genannten – erst aus der dynamischen Komplexität des systemi schen Zusammenspiels heraus entwickeln. Systemische Risiken sind für einen in unmittelbaren Kausalketten denkenden Laien nicht mehr durchdringbar. Gibt es beispielsweise einen Zusammenhang zwischen der Finanzkrise 2008 und dem Ausbruch der Ebola-Epidemie? Wir können ihn jedenfalls nicht ausschließen, denn mangels attraktiver Anlagealternativen nahm in der Krise die Spekulation mit Nah rungsmitteln rasant zu. Steigende Weltmarktpreise für Reis und Getreide waren die Folge. Daraufhin mussten sich gerade die ärmsten Länder weiter verschulden, um ihre Bevölkerungen zu ernähren. Diese finanzielle Notlage zwang viele Staaten West afrikas dazu, vorerst auf nahezu alle Investitionen in Infrastruktur projekte und das Gesundheitswesen zu verzichten. Mit verheeren den Folgen, wie wir heute wissen. Dieses Beispiel macht deutlich: Systemische Risiken sind für einen in unmittelbaren Kausalketten denkenden Laien nicht mehr durchdringbar. Selbst Experten tun sich bislang schwer, systemische Risiken auch nur annähernd präzise zu modellieren und daraus verlässliche Handlungsempfeh lungen etwa für das Risikomanagement abzuleiten. Der Appell an dieser Stelle kann deshalb nur lauten: Wir müssen uns als Individuen und Organisationen der Tatsache bewusst sein, dass wir uns oft vor dem Falschen fürchten. Gelingt uns dies, haben wir die Chance unsere Kausalitätswahrnehmung um eine statistisch begründete und strukturell abgesicherte Risikowahr nehmung zu ergänzen. Nur so wird es möglich sein, komplexe, weltweit vernetzte und nicht lineare Risiken zu erkennen und ihnen langfristig erfolgreich zu begegnen. Prof. Dr. Dr. h.c. Ortwin Renn ist Ordinarius für Umwelt- und Techniksoziologie, Dekan der wirtschafts- und sozialwissen schaftlichen Fakultät sowie Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung an der Universität Stuttgart. Er leitet zudem das von ihm gegründete gemeinnützige Forschungsinstitut DIALOGIK und ist Präsident der internationalen Society for Risk Analysis. Zu seinen zahlreichen Publikationen zählt unter anderem das 2014 veröffentlichte Buch „Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten“. Munich Re Daktylos 2015
© Copyright 2024 ExpyDoc