Alternative Invaliditätsprodukte

Markt und Meinung
Alternative Invaliditätsprodukte
Potenzial erkannt,
Markt verfehlt
Warum alternative
Invaliditätsprodukte bisher
nicht zünden
Seit Jahren wird im deutschen Markt über
alternative Invaliditätsprodukte diskutiert.
Erfolgreich etabliert sind sie nach wie vor
nicht. Dabei gibt es neben dem BU-Markt
noch jede Menge Potenzial und inzwischen
auch eine Fülle von Alternativangeboten.
Doch selbst in Summe leisten diese Produkte
bislang keinen substanziellen Beitrag zum
Geschäftsergebnis. Warum das so ist,
zeigt eine Analyse der Marktlage. Aus dem
Ergebnis lässt sich nur eines ableiten:
ein Plädoyer für neue Strategien in der
Positionierung und Vermarktung.
Munich Re Daktylos 2015
von Florian Weihe
Leiter Business Development bei Munich Re
Laut GDV ist gerade mal knapp ein Drittel der
deutschen Haushalte mit einem Haupteinkommensbezieher jünger als 65 Jahre gegen
die finanziellen Folgen von Berufsunfähigkeit
(BU) abgesichert. Dabei bewegt sich die
Höhe der Absicherung im Vergleich zum
Arbeitseinkommen auf niedrigem Niveau.
Zudem sind überwiegend Personen ver­
sichert, deren BU-Risiko relativ niedrig
einzuschätzen ist – vor allem Akademiker
und Menschen mit Bürotätigkeit. Für diese
Zielgruppen sind BU-Produkte durch die
zunehmend granulare Berufsklassendifferenzierung nach wie vor attraktiv. Für viele
andere Gruppen, darunter etwa für Hand­
werker oder Produktionsmitarbeiter in der
Industrie, war diese Absicherung schon
immer kaum erreichbar und hat sich durch
die zunehmende Differenzierung zu einem
nicht mehr finanzierbaren Luxusgut ent­
wickelt. Die Folgen: Einerseits haben wir in
Deutschland ein massives Problem der
Unterversicherung, andererseits gibt es
dadurch neben dem BU-Segment ein riesiges
Marktpotenzial für die Lebensversicherungsindustrie.
Alternativen zur BU –
ein Flickenteppich ohne eigenständige Positionierung
Warum ist es aber bisher nicht gelungen,
dieses Marktpotenzial in aktives Geschäft
umzuwandeln? Am mangelnden Appetit der
Anbieter liegt es nicht. Dies bestätigt schon
ein Blick auf die Fülle der bereits entwickelten Alternativprodukte. Das Spektrum reicht
von der Erwerbsunfähigkeitsversicherung
über Grundfähigkeitspolicen bis hin zu
Produkten zur Absicherung bei unfallbedingter Invalidität, bei bestimmten Organschäden
oder schweren Krankheiten. Hinzu kommen
verschiedene Kombinationsformen, die unter
dem Sammelbegriff Multi-Risk-Produkte
firmieren. So ist nach und nach ein Flickenteppich aus diversen Alternativlösungen
entstanden, deren unterschiedliche Leistungsbestandteile für den Endverbraucher
weitgehend intransparent bleiben und die
daher weder vom Vertrieb geschweige denn
von den Endkunden verstanden werden. Das
Marktpotenzial liegt deshalb bis auf Weiteres
brach, ein nennenswertes Geschäftswachstum mit alternativen Invaliditätsprodukten
gibt es nicht, obwohl die Produktangebote als
solche durchaus überzeugen können. Woran
liegt das?
Bei der Suche nach Antworten könnte sich
ein Seitenblick auf Branchen lohnen, in
denen es ähnliche Herausforderungen gibt
(vgl. Markt-Exkurs „Elektro-Automobilität“).
Denn als nicht involvierte Beobachter
erkennen wir strukturelle Probleme und
mögliche Lösungsansätze hier oft viel
schneller als im eigenen Markt – und haben
die Chance zum Erkenntnistransfer.
Bei der Suche nach Antworten
könnte sich ein Seitenblick
auf andere Branchen lohnen.
Produktionsstraße bei Tesla Motors in Fremont.
Markt-Exkurs
Elektro-Automobilität
Richtungsweisende Impulse für die Lebensversicherung könnten aus dem im Aufbau
befindlichen Markt für Elektrofahrzeuge
kommen. Der US-Anbieter Tesla hatte Mitte
2014 entschieden, alle seine patentierten
Technologien ohne Auflagen für sämtliche
Wettbewerber freizugeben. Die Gründe für
diesen ungewöhnlichen Schritt erläuterte
Tesla-Gründer und Marktpionier Elon Musk
in einem Blog-Beitrag. Ziel der Maßnahme
sei es, die Verbreitung strom­getriebener
Fahrzeuge zu beschleunigen. „Bisher fühlten
wir uns gezwungen, Patente zu beantragen,
weil wir Sorge hatten, die großen Autokonzerne würden unsere Technologie kopieren
und dann ihre Macht bei Produktion, Verkauf
und Marketing nutzen, um Tesla zu besiegen.“ Heute, so Musk weiter, weiß Tesla:
„Unsere wahre Konkurrenz sind nicht die
wenigen Elektro­autos, die nicht von Tesla
kommen, sondern die Flut der Wagen mit
Verbrennungsmotor, die jeden Tag die Werke
verlassen.“
Munich Re Daktylos 2015
Markt und Meinung
Alternative Invaliditätsprodukte
Der Marktvorsprung
für den First-Mover fiele
nur minimal aus.
Zurück also zur Ausgangsfrage: Wie lässt
sich das Dilemma der Alternativprodukte
im deutschen Lebensversicherungsmarkt
erklären? Ursächlich erscheinen aus heutiger
Sicht vor allem zwei Phänomene: nicht
belohnter Pioniergeist, wenn es um den
Aufbau ganz neuer Produktsegmente geht,
einerseits und eine dem Produktlebenszyklus
echter Neuentwicklungen nicht angemessene strategische Positionierung und
Vermarktung der alternativen Konzepte
andererseits. Das zweite Phänomen ist
unmittelbar auf das erste zurückzuführen.
Differenzierung in einem
kaum entwickelten Markt ist
kontraproduktiv
Zur Erklärung: Für ein neues Produktsegment, das sich an bisher nicht erreichte Ziel­­gruppen richtet, müsste im ersten Schritt
zunächst einmal ein Markt aufgebaut
werden. Dazu bedarf es Unternehmen, die
eine konsequente Pionierstrategie verfolgen
und bereit sind, diesen Markt als First-Mover
zu entwickeln. Weitgehend verhindert wird
dies durch ein strukturelles Problem im
deutschen Lebensversicherungsmarkt. Denn
durch die hohe Wettbewerbsintensität und
eine große Anzahl von Marktteilnehmern
bringen nur wenige Anbieter die Marktmacht
für grundlegende Innovationen mit. Dies
zeigt schon ein Blick auf die hohen Eintrittsbarrieren: Wer eine neue Produktkategorie
erfolgreich etablieren will, benötigt nicht nur
ein innovatives und überzeugendes Produkt­
design, sondern muss auch ganz neue Ver­kaufsansätze, die dazu passenden Beratungsprozesse und -systeme entwickeln
und nicht zuletzt den Vertrieb umfassend
schulen. Und: Um ein entsprechendes
Umdenken und Handeln zu erreichen, sind
Zeit und ein langer Atem nötig.
Munich Re Daktylos 2015
Die Vorteile als First-Mover fallen im Vergleich zu diesem Aufwand sehr überschaubar aus. Nicht nur, weil ein First-Mover die
Risiken etwa aus möglichen Produktdesignfehlern, Anlaufschwierigkeiten oder Markt­
änderungen schultern müsste, sondern vor
allem, weil die Eintrittsbarrieren für potenzielle Follower sehr gering sind. Denn anders
als etwa in der Pharmaindustrie oder bei
technischen Neuentwicklungen gibt es in der
Versicherungsindustrie keinen über Jahre
andauernden Patentschutz. Gelänge es
einem Pionier, eine neue Produktkategorie
erfolgreich im Markt zu platzieren, könnten
und würden andere Anbieter sehr schnell
nachziehen. Der Marktvorsprung für den
First-Mover fiele nur minimal aus.
Diese strukturellen Probleme verhindern
Pionierstrategien weitgehend und führen zu
einem kollektiven Follower-Verhalten im
Markt. Deshalb werden Alternativprodukte
bisher meist nicht als eigenständige
Deckungsarten in einem neuen Marktsegment positioniert, sondern lediglich als
Ausweichprodukte im gesättigten BU-Markt
(vgl. Abb. 1). Die Anbieter setzen dafür in
stringenter Weise auf Vermarktungsstrategien, die sich für etablierte Produkte in einem
gesättigten Markt eignen – also u. a. auf
starke Produktdifferenzierung mit einem
intensiven Preis- und Bedingungswettbewerb. Dies hat Auswirkungen auch auf das
Risikomanagement: Letzteres erfordert bei
Produktneuheiten eigentlich hinreichend
große Margen, um Risiken aus dem noch
nicht vorhandenen Kollektiv und der fehlenden Datenbasis auszugleichen. Bei den
bisher verfolgten Marketingstrategien für
Alternativprodukte gibt es diese Margen
aufgrund der Positionierung nur bedingt; die
Produkte schwimmen bei geringen Verkaufszahlen irgendwie im BU-Markt mit.
Thesen zur strategischen
Neuausrichtung
Abbildung 1
Invaliditätsabsicherung in Deutschland
Die geringe Marktdurchdringung der
aktuellen Alternativkonzepte zeigt, dass sich
das Potenzial mit den bisher verfolgten
Marketingstrategien nicht erschließen lässt.
Stattdessen wären Strategien erforderlich,
die zum Produktlebenszyklus neuer Angebote in einem neuen Marktsegment passen –
und zwar in allen vier Bereichen des Marketings, also mit Blick auf Produkt, Platzierung,
Preis und Promotion (vgl. Abb. 2).
€
Einführung
Wachstum
Reife
Alternative
Invaliditätsprodukte
Sättigung
Degeneration
BU-Produkt
Erlös
Alternative
Invaliditätsprodukte
Gewinn
t
Alternative Invaliditätsprodukte befinden sich
am Anfang des Produktlebenszyklus
Abbildung 2
Vermarktungsansätze für alternative
Invaliditätsprodukte
Neueinführung
Alternativprodukte
Pionier-Strategie –
Neueinführung
BU-WettbewerbsPraxis
Follower-Strategie –
reifer Markt
Struktur
Einfach verständlich
Komplex, differenzierend
Differentiation
Neues Risiko
Features in best. Kategorie
Place/
Kanal
Kanalauswahl
Selektiv: Fokus Kontrolle
Alle, mögl. breite Abdeckung
Volumen
Pilotierung
Maximales Volumen
Preis
Risikomarge
Risikopuffer
Aggressiv (wg. Wettbewerb)
Kollektivansatz
Breite(s) Kollektiv(e)
Starke Risikospreizung
Kategorie entwickeln
Differenzierung ggü. Wettb.
Endkunde und Kanal
Primär Kanal
Produkt
Promotion Fokus
Zielgruppe
Neue Produkte erfordern neue
Vermarktungsstrategien
Eine zentrale Voraussetzung
wäre der erklärte Wille zu einer
strategischen Neupositionierung
alternativer Invaliditätsprodukte.
Wie kann dies angesichts der strukturell
bedingten Follower-Mentalität gelingen?
Eine zentrale Voraussetzung wäre auf
Anbieterseite der erklärte Wille zu einer
strategischen Neupositionierung alternativer
Invaliditätsprodukte in einem klar von der
BU abgegrenzten Marktsegment. Welche
Produkte sich dafür in welcher Ausgestaltung
eignen, hängt jeweils vom Anbieter, seiner
internen Organisationsstruktur und den
Vertriebskanälen ab. Ein einziges richtiges
Alternativprodukt für die gesamte Branche
kann es nicht geben. Stattdessen kommt es
auf die unternehmensindividuell passende
Produktauswahl und den richtigen Marketing-Mix an. Damit er erfolgreich sein kann,
müssen aber auch eine kritische Masse und
entsprechende Aufmerksamkeit im Markt
erreicht werden. Als Einzelunternehmen
wären dazu in Deutschland wohl nur sehr
wenige große Lebensversicherer in der
Lage – aktuelle Beispiele zeigen, dass eine
solche echte Pionierstrategie, obwohl
produktseitig mit großem Nachdruck
verfolgt, nicht automatisch zum Erfolg führt.
Angesichts des massiven Unterversicherungsproblems in weiten Teilen der Bevölkerung ist es aber durchaus wahrscheinlich,
dass irgendwann der Staat aktiv wird und
als Regulator eine neue Produktkategorie
schafft. Bei ent­sprechender Förderung wäre
dies zwar begrüßenswert, dürfte aber mit
langwierigen und absehbar kostenintensiven
Umstellungs­prozessen verbunden sein.
Mittelfristig sind daher die Anbieter gefordert, gemeinsam einen eigenständigen Markt
für eine neue, alternative Produktkategorie
aufzubauen. Ein solches Vorgehen würde in
einer kollektiven Pionierstrategie münden in
Form von einfachen, klar verständlichen
Produkten ohne allzu starke Differenzierung.
Diese sollten mit den für eine neue Produktkategorie notwendigen Margen versehen sein
und forciert über gut kontrollierbare Vertriebskanäle vermarktet werden. So könnte
es gelingen, den Fokus sowohl des Vertriebs
als auch der Verbraucher auf alternative
Invaliditätsprodukte zu lenken und das
Marktpotenzial neben der BU-Versicherung
erfolgreich zu heben.
Munich Re Daktylos 2015