Der kleinste Engel und der Weihnachtsstern

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Der kleinste Engel
und der Weihnachtsstern
Vor vielen, vielen Jahren war einmal im Paradies ein sehr unglücklicher, kleiner
Kerl, der im ganzen Himmel als der kleinste Engel bekannt war.
Er war so klein, dass der doppelt so lange brauchte wie die andern, um zum
Abendgebet zu kommen. Er verspätete sich jedes Mal und wenn er an seinen
Platz eilte, stieß er die Flügel der anderen durcheinander. Noch schlimmer aber
war, dass sein Heiligenschein immerzu trübe und glanzlos wurde, weil er ihn beim
Rennen mit seinen Patschhändchen festhielt. Und er rannte fortwährend. Stand
er dann einmal still, so saß ihm der Heiligenschein nicht so, wie es sich gehörte
auf dem Kopf. Oder er rutschte aus Bosheit davon hinunter und rollte die goldene
Straße hinab.
Eines Tages musste er vor dem Friedensengel erscheinen. Der kleinste Engel
nahm seinen Heiligenschein ab, hauchte ihn an, rieb ihn mit seinem Hemdzipfel
blank und ging auf Zehenspitzen hinein. Der Engel des Verstehens, wie man den
Friedensengel auch nannte, schaute auf ihn nieder, und der kleinste Engel
versuchte, sich unsichtbar zu machen.
„Aha, du bist also derjenige, der den Himmel so unhimmlisch gemacht hat. Komm
her und erzähl mir alles!“
Schüchtern wagte der kleinste Engel einen Blick hinter seinem Gewand hervor.
Plötzlich, ehe er sich’s versah, saß er auf dem Schoß des verständnisvollen Engels
und erklärte, wie schwer es für einen kleinen Jungen war, sich als Engel
verwandelt zu sehen. Es gab für ihn nichts zu tun im Himmel. Natürlich wäre es
ganz schön im Paradies, aber er hatte Heimweh nach der Erde.
Der Engel des Verstehens lächelte. Dann fragte er den kleinsten Engel, was ihn im
Paradies denn am glücklichsten machen würde. Das Englein überlegte eine Weile,
dann flüsterte er: „Die Schachtel. Ich hab sie zu Hause unter meinem Bett
gelassen. Ob ich die wieder bekommen könnte?“ Der Engel des Verstehens nickte.
„Du sollst sie bekommen.“
Dann geschah es, dass Jesus, der Sohn Gottes, in Bethlehem von Maria geboren
werden sollte. Erzengel und Engel ließen ihre gewöhnliche Arbeit ruhen, um ihre
Geschenke für das heilige Kind vorzubereiten. Alle – außer dem kleinsten Engel.
Der saß auf der goldenen Treppe und wartete gespannt auf eine gute Idee. Was
nur konnte ein so kleiner Engel schenken? Endlich entschied er sich.
An dem großen Tag holte er seine Gabe stolz aus ihrem Versteck hinter einer
Wolke hervor. Bescheiden, mit gesenkten Augen legte er sie vor den Thron
Gottes. Eine kleine, ungehobelte, unscheinbare Schachtel. Sie lag nun zwischen
all den anderen herrlichen Geschenken der Engel.
Plötzlich erkannte der kleinste Engel, dass sein Geschenk für Gottes Kind
unpassend war und er hätte seine schäbige Gabe gerne zurück-genommen. Es
war jedoch zu spät.
Der kleinste Engel erzitterte, als die Schachtel geöffnet wurde und vor den Augen
Gottes und all seiner himmlischen Heerscharen sichtbar war, was er dem
Christkind darbot: da war ein Schmetterling mit goldenen Flügeln, den er an
einem Sommertag gefangen hatte. Und ein himmelblaues Ei aus einem
Vogelnest. Ja, und zwei weiße Steine von einem schlammigen Flussufer, an dem
er und seine Freunde wie braune Biber gespielt hatten.
Der kleinste Engel weinte heiße, bittere Tränen. Wie hatte er die Schachtel nur
so wundervoll finden können? Verzweifelt und entsetzt drehte er sich um und lief
davon. Aber er stolperte, fiel hin und mit einem Schreckensschrei und
Heiligenscheingeklapper rollte er wie ein Häufchen Elend direkt vor Gottes Thron.
Da erklang plötzlich wie Himmelsmusik die Stimme Gottes: “Von allen Gaben der
Engel gefällt mir diese kleine Schachtel am besten. Dies sind Dinge, die auch mein
Sohn kennen, lieben und wertschätzen wird, und trauernd wird er sie
zurücklassen, wenn seine Aufgabe auf Erden vollendet ist. Ich nehme diese Gabe
im Namen des Jesuskindes an.“
Eine atemlose Pause entstand. Und dann erstrahlte die ungehobelte,
unscheinbare Schachtel des kleinsten Engels in hellem, unirdischem Licht. Das
Licht wurde ein strahlender Stern, der in hohem Bogen über das
Himmelsgewölbe flog, stehenblieb und sein klares, weißes, lockendes Licht über
dem armseligen Stall ausgoss, in dem das Kind geboren ward.
Dort leuchtet er in der Wundernacht, und sein Licht strahlte durch die
Jahrhunderte tief in die Herzen der Menschen …
nach Charles Tazewell