11 Der kleinste Engel und der Weihnachtsstern Vor vielen, vielen Jahren war einmal im Paradies ein sehr unglücklicher, kleiner Kerl, der im ganzen Himmel als der kleinste Engel bekannt war. Er war so klein, dass der doppelt so lange brauchte wie die andern, um zum Abendgebet zu kommen. Er verspätete sich jedes Mal und wenn er an seinen Platz eilte, stieß er die Flügel der anderen durcheinander. Noch schlimmer aber war, dass sein Heiligenschein immerzu trübe und glanzlos wurde, weil er ihn beim Rennen mit seinen Patschhändchen festhielt. Und er rannte fortwährend. Stand er dann einmal still, so saß ihm der Heiligenschein nicht so, wie es sich gehörte auf dem Kopf. Oder er rutschte aus Bosheit davon hinunter und rollte die goldene Straße hinab. Eines Tages musste er vor dem Friedensengel erscheinen. Der kleinste Engel nahm seinen Heiligenschein ab, hauchte ihn an, rieb ihn mit seinem Hemdzipfel blank und ging auf Zehenspitzen hinein. Der Engel des Verstehens, wie man den Friedensengel auch nannte, schaute auf ihn nieder, und der kleinste Engel versuchte, sich unsichtbar zu machen. „Aha, du bist also derjenige, der den Himmel so unhimmlisch gemacht hat. Komm her und erzähl mir alles!“ Schüchtern wagte der kleinste Engel einen Blick hinter seinem Gewand hervor. Plötzlich, ehe er sich’s versah, saß er auf dem Schoß des verständnisvollen Engels und erklärte, wie schwer es für einen kleinen Jungen war, sich als Engel verwandelt zu sehen. Es gab für ihn nichts zu tun im Himmel. Natürlich wäre es ganz schön im Paradies, aber er hatte Heimweh nach der Erde. Der Engel des Verstehens lächelte. Dann fragte er den kleinsten Engel, was ihn im Paradies denn am glücklichsten machen würde. Das Englein überlegte eine Weile, dann flüsterte er: „Die Schachtel. Ich hab sie zu Hause unter meinem Bett gelassen. Ob ich die wieder bekommen könnte?“ Der Engel des Verstehens nickte. „Du sollst sie bekommen.“ Dann geschah es, dass Jesus, der Sohn Gottes, in Bethlehem von Maria geboren werden sollte. Erzengel und Engel ließen ihre gewöhnliche Arbeit ruhen, um ihre Geschenke für das heilige Kind vorzubereiten. Alle – außer dem kleinsten Engel. Der saß auf der goldenen Treppe und wartete gespannt auf eine gute Idee. Was nur konnte ein so kleiner Engel schenken? Endlich entschied er sich. An dem großen Tag holte er seine Gabe stolz aus ihrem Versteck hinter einer Wolke hervor. Bescheiden, mit gesenkten Augen legte er sie vor den Thron Gottes. Eine kleine, ungehobelte, unscheinbare Schachtel. Sie lag nun zwischen all den anderen herrlichen Geschenken der Engel. Plötzlich erkannte der kleinste Engel, dass sein Geschenk für Gottes Kind unpassend war und er hätte seine schäbige Gabe gerne zurück-genommen. Es war jedoch zu spät. Der kleinste Engel erzitterte, als die Schachtel geöffnet wurde und vor den Augen Gottes und all seiner himmlischen Heerscharen sichtbar war, was er dem Christkind darbot: da war ein Schmetterling mit goldenen Flügeln, den er an einem Sommertag gefangen hatte. Und ein himmelblaues Ei aus einem Vogelnest. Ja, und zwei weiße Steine von einem schlammigen Flussufer, an dem er und seine Freunde wie braune Biber gespielt hatten. Der kleinste Engel weinte heiße, bittere Tränen. Wie hatte er die Schachtel nur so wundervoll finden können? Verzweifelt und entsetzt drehte er sich um und lief davon. Aber er stolperte, fiel hin und mit einem Schreckensschrei und Heiligenscheingeklapper rollte er wie ein Häufchen Elend direkt vor Gottes Thron. Da erklang plötzlich wie Himmelsmusik die Stimme Gottes: “Von allen Gaben der Engel gefällt mir diese kleine Schachtel am besten. Dies sind Dinge, die auch mein Sohn kennen, lieben und wertschätzen wird, und trauernd wird er sie zurücklassen, wenn seine Aufgabe auf Erden vollendet ist. Ich nehme diese Gabe im Namen des Jesuskindes an.“ Eine atemlose Pause entstand. Und dann erstrahlte die ungehobelte, unscheinbare Schachtel des kleinsten Engels in hellem, unirdischem Licht. Das Licht wurde ein strahlender Stern, der in hohem Bogen über das Himmelsgewölbe flog, stehenblieb und sein klares, weißes, lockendes Licht über dem armseligen Stall ausgoss, in dem das Kind geboren ward. Dort leuchtet er in der Wundernacht, und sein Licht strahlte durch die Jahrhunderte tief in die Herzen der Menschen … nach Charles Tazewell
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