2. Die Last der Vergangenheit. Transgenerationale Wirksamkeit von Krisen Maria Six-Hohenbalken in Kooperation mit Elise Richter Scholar In diesem Workshop wird auf politische und humanitäre Krisen und ihre Langzeiteffekte Bezug genommen. Hierbei wird vor allem auf die Auswirkung von Gewalterfahrung auf die nachfolgenden Generationen fokussiert. Die Anthropologie von Gewalt und die Erinnerungsforschung haben in den letzten Jahren begonnen, die Langzeiteffekte von Genozid und Formen extremer Gewalt zu untersuchen und auf das Leiden und die Herausforderungen der nächsten Generationen aufmerksam zu machen. Die Formen von Übertragungen traumatischer Erlebnisse sind in den letzten Jahren vor allem von PsychologInnen untersucht worden (Kogan 2009, Moré 2013). Aus diesen Forschungen geht hervor, dass es oft nicht die Erzählungen und Erinnerungen sind, sondern das Schweigen der Betroffenen, alternative Ausdrucksformen und Formen von tacit knowledge (Polanyi), die die nächste Generationen prägen (Kidron 2003). In diesem Workshop sollen die möglichen Beiträge der Sozialanthropologie zur Untersuchung der individuellen, transgenerationalen Wirksamkeit, der kollektiven Bedeutung und der diskursiven Verhandlung wie auch coping-Strategien diskutiert werden. In den Beiträgen sollen empirische Untersuchungen und methodische Zugänge vorgestellt und spezifische sozialanthropologische Herangehensweisen in der Untersuchung von Langzeitauswirkungen von Krisen diskutiert werden. Vorträge: Katja Seidel, National University of Ireland Maynooth Die produktive Kraft von Abwesenheit. H.I.J.O.S. und die Bedeutung des Argentinischen Genozids Dieser Vortrag beschäftigt sich mit H.I.J.O.S. (Kinder für Identität und Gerechtigkeit, gegen Vergessen und Schweigen), der Organisation der Kinder der ‚Verschwundenen’ des Argentinischen Staatsterrors. Im Rahmen einer kontinuierlichen Repräsentation des Staatsterrors als Völkermord kämpft diese junge Generation heute für Gerechtigkeit, die Anerkennung der sozio-politischen Ideale ihrer Eltern und fordert auf der Straße und vor Gericht die Bestrafung der Täter. Als Akteure der sozio-politischen und kognitiven Transformation gestalten sie dabei aktiv Erinnerungspolitik und kreieren gleichzeitig ihre eigene Zugehörigkeit und Identität als ‚Volk’ einer ermordeten Generation. In meinem Vortrag diskutiere ich meine theoretische Analyse zu post-memories und politischer Gewalt, die nicht nur Trauma erzeugt, sondern der über den Weg der ‚Präsenz von Abwesenheit’ auch eine produktive Kraft innewohnt. Basierend auf meiner Feldforschung, erörtere ich den Prozess des post-transitorischen Genozid-diskurses in Argentinien und analysiere, wie die nachfolgende Generation der Verschwundenen Besitzschaft (Ownership) über die Vergangenheit und ihre eigene Identität und Zugehörigkeit generiert. Anne Wermbter, Freie Universität Berlin Die Vergangenheit in der Gegenwart. Kommunikation über Gewalt zwischen den Generationen In der Provinz Teso, im Nordosten Ugandas, kam es in der jüngsten Vergangenheit zu einer Vielzahl von Konflikten. Zwischen 1979 und 1992 erlitt die Bevölkerung einen Bürgerkrieg zwischen lokalen Rebellen (UPA) und den Soldaten der Regierungsarmee (NRA). Seite 1 von 2 2003 fiel die paramilitärische Lord Resistance Army (LRA), die zuvor hauptsächlich im Norden Ugandas gegen die Regierung Musevenis kämpfte, in die Region Teso ein und beging dabei zahllose schwere Verbrechen gegen die Bevölkerung. Die Kommunikation über erlittene Gewalt in Teso ist eingebettet in emische Konzepte von Gewalt, Leid und Krankheit. Die intergenerative, innerfamiläre Kommunikation über Gewalt und Krieg beruht auf dem selektiven Erzählen oder dem Schweigen der Elterngeneration sowie auf nonverbalen Mitteilungen. Das scherzhafte, ironische und tröstende Sprechen über Gewalt stellt eine wichtige Strategie dar. Eine Umgangsstrategie mit Gewalterfahrungen ist das Geben und Erhalten von guten Ratschlägen (good advice). Viele Eltern sind nicht mehr in der Lage, ihren Kindern solche Ratschläge zu erteilen, weil sie aufgrund persönlicher und materieller Verluste Schwierigkeiten haben, sich selbst in der Nachkriegszeit zu verorten. Sanda Üllen, Universität Wien „Ich will meine Erinnerungen nicht verkaufen“. Das Zuhause als Ort der Erinnerung im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Zukunft Besonders bei Erinnerungen an Kriegsereignisse in Bosnien-Herzegowina scheint Gedächtnis im öffentlichen Diskurs noch immer als ein politisierbares Konzept für die Herstellung ethnischer Grenzen zu funktionieren. Die innerfamiliäre Erinnerungsarbeit kann als Mittler zwischen öffentlicher und privater Erinnerung gesehen werden (Boesen 2012), innerhalb welcher der prozessuale und konstruktive Charakter von Erinnerungsarbeit analysiert wird: welche Erinnerungen werden besonders betont, vernachlässigt (Climo & Catell 2002) oder verschwiegen (Kidron 2009)? Nach dem Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen haben Familien ihre während des Krieges von anderen geflüchteten Familien „besetzten“ Häuser zurückbekommen. Als Grund, die Häuser nicht verkaufen zu wollen, werden u.a. die ortsgebundenen Erinnerungen genannt. Die Häuser werden im Sommer als Orte der Zusammenkünfte genutzt, an dem sich Familien treffen, die in unterschiedlichen Ländern wohnen. Anhand der ethnographischen Studie von drei transnationalen Familien wird die Bedeutung des Familienhauses im Sinne eines affective space (Navaro-Yashin 2009) mit Kontinuitäten, Diskontinuitäten, Ambiguitäten und Differenzen dargestellt. Maria Six-Hohenbalken, Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien Der Fluss Munzur und die Musik. Die Rolle von Umweltinitiativen und Kunstproduktionen in der transgenerativen Erinnerungsarbeit Der Aufstand der Bevölkerung in Dersim richtete sich gegen die Türkisierungspolitik, die Militärverwaltung und sogenannten Modernisierungsbestrebungen. Die Niederschlagung des Aufstandes bedeutete massive Waffengewalt (Bombardierung von Dörfern, Einsatz von Giftgas) und die Deportation der Bevölkerung. Über Jahrzehnte war eine Politik der Verleugnung und des Schweigens verordnet; WissenschaftlerInnen, die darüber publizierten wurden zu hohen Haftstrafen verurteilt. Erst durch die Erinnerungsarbeit der 3. Generation, bei der die transnationale Kommunität eine große Rolle spielt, werden die Schicksale, die in den Familien tradiert wurden öffentlich gemacht. Neben oral history Projekten und politischen Forderung für eine Aufarbeitung und aktive Erinnerungspolitik, sind die Erinnerungsdiskurse oft eingebettet in künstlerische Ausdrucksformen (v.a. Musik) und Umweltinitiativen in Dersim. Hierbei spielt die traditionelle Musik (Rezitationen) und die Topographie von Dersim eine besondere Rolle. Basierend auf Interviews mit der dritten Generation in der kurdischen Transnation werden innerfamiliäre Erinnerungs- und coping Strategien sowie die agency der jungen Generation analysiert. Seite 2 von 2
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