Der Frühling der Vergangenheit

Humanost by mAvIs fAIrydUst
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Der Frühling der Vergangenheit
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Die Sonne verschwindet langsam hinter den Dächern der Altstadt. Die letzten
Sonnenstrahlen ragen über ihre Ränder empor und lassen uns noch eine Weile ihre
Wärme spüren. Ich sitze auf dem kleinen zum Innenhof gewandten Balkon auf
meinem froschgrünen Schaukelstuhl. Die Zeit vergeht ungeachtet, während ich die
Ruhe und das bisschen Natur geniesse, die sich mir darbietet.
Ein bekanntes Gefühl breitet sich in mir aus. Ganz sanft, wie ein Seidentuch, das
sachte meine Brust streift. Mein Atem stockt. Ich lasse mich auf dieses Gefühl ein.
Lasse es wachsen, bis sich meine Gedanken nur noch auf diese eine Emotion
fokussieren. Meine Umgebung rückt immer mehr in den Hintergrund. Die Geräusche
verstummen und immer mehr Bilder zeichnen sich vor meinem geistigen Auge ab.
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Zuerst nur verschwommen, so dass ich mit zusammengekniffenen Augen versuche zu
erkennen, welche Eindrücke sie mir zu offenbaren versuchen. Das anfangs
unscheinbare Gefühl hat mich komplett in den seinen Bahn gezogen und versetzt
mich Trance. Wie ein in einem alten Stummfilm reihen sich die Bilder nebeneinander
und lassen mich ihren Zusammenhang erkennen. Die Erinnerung ist zum Leben
erwacht und offenbart sich mir in all ihrer Vertrautheit.
Viele Frühlinge sind seither vergangen. Doch jedes Jahr, wenn die Natur erwacht und
die Sonne unsere Gemüter belebt, erinnere ich mich an diesen Tag.
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„Die Welt war schon lange wach.“
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Verknittert und noch schlaftrunken nach einer durchzechten Nacht stand ich
schwermütig auf, rieb mir meine müden Augen und setzte einen Kaffee auf. Während
ich auf das Aufkochen des Wassers wartete, zündete ich mir bereits die erste Zigarette
an und beobachtete vom Küchenfenster aus das rege Treiben in meiner Strasse. Es
war schon spät am Nachmittag. Die Welt war schon lange wach und die Menschen
gingen ihren „Schönes Wetter“ -Plänen nach. Nicht so ich. Was der Tag auch immer
bringen möge, ich würde es hinnehmen und über mich ergehen lassen. Doch
irgendwie war etwas anders als sonst. Heiterkeit, Energie und das muntere Erwachen
aus einem tiefen Schlaf lagen in der Luft. Erst jetzt realisierte ich vollends, dass die
Sonne schien und der Himmel stahlblau war. Der eisige Winter war vorüber. Die
langersehnten Sonnenstrahlen färbten die Häuserfassaden und die noch etwas
kahlen Bäume einige Nuancen wärmer. Die Gesichter sowie die Gangart der
Menschen wirkten entspannter, ja sogar einwenig sorgloser. Auch ich spürte es und
liess mich von diesen Naturschauspiel und ihren mitgebrachten Emotionen
mitreissen.
Nach dem letzten Schluck meines schwarzen, bitteren Morgenkaffees stellte ich mich
unter die Dusche. Ich liess die Wassertropfen eine Weile einfach über mein Haupt
herabprassen. Nicht mein Körper, sondern meinen Gedanken wurden gereinigt. Als
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würde ich alle schmerzerfüllten und tränendurchtränkten Tage von mir waschen. Ich
fühlte mich für diesen einen Augenblick befreit von meiner ganzen Vergangenheit.
Die nassen Haare hinterliessen Tropfspuren, die meinen Weg ins Schlafzimmer
zeichneten. Ein Griff in den Kleiderschrank und ich zog ein marineblaues Seidenkleid
heraus. Mein Lieblingskleid. Es war schlicht und etwas weiter geschnitten. Der flache,
bis zu den Schultern reichende Ausschnitt betonte schüchtern mein Dekolleté. Die
Formlosigkeit des Kleides überliess der Fantasie, was sich darunter verbarg. Meine
roten Haare band ich kurzum nach hinten in einen strengen Zopf. Mit dem Schwung
einer kleinen Pirouette stand ich vor dem Spiegel und betrachtete mich. Etwas scheu,
als stände ein Fremder vor mir. Ich traute mich kaum, mir selbst in die Augen zu
sehen. Langsam hob ich den Blick in Richtung meines Hauptes. Was ich erkannte,
war für mich in Vergessenheit geraten. Mein Lächeln. Mir gefiel, was ich sah.
Zurück in der kleinen Küche setzte ich mich auf mein Lieblingsplätzchen. Ein alter
quietschenden Stuhl, der weder bequem noch schön war und richte meinen Blick
wieder auf die Strasse. Im Radio spielten sie Lieder aus meiner Jugendzeit, die mich
mitrissen, so dass ich jede Zeile mitsang und jede Melodie mit meinem wachen Geist
aufsog. Auch wenn ich mich immer noch in meiner Wohnung versteckte, hatte ich
das Gefühl, zum Leben, welches draussen statt fand, dazu zugehören. Zu den
Menschen, welche auf ihren Fahrrädern vorbeisausten. Zu denen, die gemütlich
vorbeischlenderten, bis sie ihre müden Beine bei einem kühlen Getränk an der Sonne
ausruhten. Ja, ich gehörte dazu, irgendwie. Es fehlte mir der Mut, mich zu ihnen zu
begeben. Lange ist es her, vergessen wie es geht. Obschon ich grosse Lust verspürte,
den Schritt nach Draussen zu wagen, war meine Angst zu gross. Wovor ich mich
fürchtete? Das wusste ich selbst nicht. Bereits der Gedanke trieb mir die Tränen in
die Augen und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich habe gelernt mich mit wenig
zufrieden zu geben, so dass schon nur dieses unbeschreibliche Gefühl des SichLebendig-Fühlens diesen Tag vollkommen zu machen schien.
Ich erwischte mich dabei, wie ich immer wieder auf mein Handy blickte. Als
würde ich insgeheim darum beten, dass genau an diesem Tag, in diesem Moment
jemand an mich dachte. Jemand der mir einen Schubs gab die Unsicherheit zu
überwinden und mich aus meiner Wohnung befreite. Der Winter war hart und trotz
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der vielen Menschen, denen ich irgendwo verloren begegnete, sehr einsam. Ich wurde
zunehmend unruhiger und verlor mich in Fantasien an die verschiedensten Orte, an
denen ich gerne den Tag verbringen würde. Die Tagträume waren die verzweifelte
Flucht aus der einsamen Realität. Sie waren zu meiner Medizin geworden, die mich
seelisch über Wasser hielt.
Plötzlich bemerkte ich, dass sich unter die dröhnende Musik des Radios ein fremder
Ton mischte. Ich realisierte, dass mein Handy klingelte. Fast vom Stuhl gefallen,
rannte ich suchend in der Wohnung umher, um mein es zu finden, das ich aus Wut
weggelegt hatte, um es nicht ständig anzustarren. Ich liess es noch einige Male
klingeln, damit ich mich beruhigen konnte und nicht zu aufgebracht klang. Auf
keinen Fall wollte ich den Eindruck machen, als hätte ich nichts mehr als diesen
Anruf herbeigesehnt. Das Gespräch war kurz und ich wurde eingeladen den Tag
gemeinsam mit einem Bekannten zu verbringen. So wie wir das Telefonat beendet
hatten, kamen die alten Gefühlte und Unsicherheiten in mir hoch. Am liebsten hätte
ich gleich wieder abgesagt. Hier in meiner Wohnung war ich sicher. Was mich
Draussen erwarten würde, wusste ich nicht. Selbstzweifel auf allen Ebenen machten
sich breit. Sehe ich abgespannt und traurig aus? Bin ich unpassend angezogen? Was
ist die Absicht dieses Treffens? Werden da noch andere Menschen sein? Was soll ich
erzählen ohne verzweifelt und asozialisiert zu wirken? Doch bevor mich all die Fragen
unter sich begraben konnten, klingelte es an der Tür.
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„Sein Wesen strahlte Seelenfrieden aus.“
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Ich drehte langsam das Türschloss um und öffnete vorsichtig, schon fast verängstigt,
die Haustüre. Ich versteckte mich so halb dahinter und brachte nicht mehr als ein
leises, unsicheres „Hallo“ heraus. Er war einer dieser Menschen, die ich nie bei
Tageslicht gesehen hatte und meine Erinnerungen, aufgrund der stets narkotisierten
Zustände, nur verschwommen und wage waren. Nun stand er vor mir. Ich konnte ihn
zum ersten Mal richtig betrachten. Sein ganzes Wesen strahlte den Seelenfrieden aus,
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nach dem sich viele Menschen sehnten. Die Lässigkeit und die Ruhe, die von ihm
ausgingen, umarmten mich. Sein Lächeln sprach Bände der Toleranz und über die
Liebe zum Leben. Ich brachte kein weiteres Wort über die Lippen. Nie zuvor bin ich
solch einem Menschen begegnet.
Wir fuhren ein Stück in Richtung des Flusses, der unsere kleine Stadt durchquerte.
Nachdem wir die Seitengasse verliessen, in der ich wohnte, prassten die Eindrücke
nur so auf mich herein. Wir sprachen nicht viel während der Autofahrt. Zu sehr
faszinierte mich alles, was ich
um
mich
Obschon
herum
Alles
sah.
altbekannt,
entdeckte ich alles neu. Die
Strassen, die Häuser, die
Bäume,
die
wolkenlose
Berge,
der
Himmel.
Ich
realisierte erstmals, wie blind
ich durchs Leben ging. Mein
Kopf war stets zum Boden
gesenkt, um nicht zu sehen
und nicht gesehen zu werden. Wir verliessen die Stadt und die Umgebung wurde
immer grüner. Bauernhöfe, Getreidefelder und die Tiere, die sich wie wir Menschen
am schönen Wetter erfreuten. Zwei Kälber spielten auf einer Wiese miteinander und
neckten sich gegenseitig. Die ersten Blumen hatten ihren Weg an die Oberfläche
gefunden und verliehen der Natur ihre individuellen Farbtupfer.
Er parkierte das Auto unter einer grossen alten Eiche, die durch ihre breiten Äste und
die ersten Blätter grosszügig Schatten spendete. Bereits aus der ferne hörte ich den
Fluss rauschen. Die Strömung war stark. Die Wassermassen suchten sich ihren Weg
über die Felsen im Flussbeet hinweg und tänzelten um die Baumstümpfe, die seit
jeher dort lagen. An einer kleinen Lichtung am Flussufer liessen wir uns nieder. Wir
legten uns in den Rasen und ab dem Zeitpunkt blieb die Zeit für mich stehen.
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Stundenlang lagen wir da und genossen die Natur. Wir erzählten uns lustige
Anekdoten, disputierten über Themen, bei welchen wir unterschiedlicher Meinung
waren und philosophierten über die Gesellschaft und den Sinn des Lebens. Vergessen
waren alle Selbstzweifel, mein Selbsthass sowie die Unsicherheit und Angst vor
Menschen. Ich fühlte mich frei. Obschon ich einen wunderbaren interessanten
Menschen kennenlernen durfte, war eines für mich noch viel eindrücklicher. Ich
hatte eine Begegnung mit mir selbst und lernte mich wieder kennen. Ich hörte auch
mir selbst zu. Ich sprach, jedoch ohne darüber nachzudenken, was ich ihm erzählte.
Als die Nacht hereinbrach und die Luft kühler wurde, machten wir uns auf den
Heimweg. Er hielt vor meiner Haustüre an und liess mich aussteigen. Er schenkte
mir ein Lächeln zum Abschied und fuhr davon.
Zuhause setzte ich mich auf meinen quietschenden Stuhl in der Küche, schloss die
Augen und liess den Tag bei einem Gläschen Wein Revue passieren. Meine Gedanken
waren gefüllt mit wunderbaren Bildern, mein Herz erblüht und meine Seele befreit,
da ich meinen Ängsten die Stirn bieten konnte.
Langsam verblassen die Bilder wieder und ich kehre aus meiner Trance zurück in die
Gegenwart. Die Sonne ist hinter den Dächern verschwunden. Es ist still geworden,
doch die Ruhe ist sanft und beruhigend. Ich lehne mich schaukelnd zurück und lasse
das Gefühl ganz sachte ausklingen.
Jedes Jahr wenn der Frühling Einzug hält, erinnere ich mich an diesen einen
besonderen Tag, der mich zurück ins Leben holte. Der mir zeigte, dass unser Dasein
keinen Sinn braucht, sondern lediglich uns selbst als Teil des Ganzen.
Diesen
besonderen Tag, an dem ich das erste Mal wieder von Herzen lachte und glücklich
war auf Erden sein zu dürfen. Vollkommene Zufriedenheit und die Glückseligkeit in
ihrer Perfektion.
Ich wäre heute nicht mehr hier, hättest er mich nicht befreit. Danke.
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