Humanost by mAvIs fAIrydUst www.bloggdichaus.one __________________________ Der Frühling der Vergangenheit __________________________ Die Sonne verschwindet langsam hinter den Dächern der Altstadt. Die letzten Sonnenstrahlen ragen über ihre Ränder empor und lassen uns noch eine Weile ihre Wärme spüren. Ich sitze auf dem kleinen zum Innenhof gewandten Balkon auf meinem froschgrünen Schaukelstuhl. Die Zeit vergeht ungeachtet, während ich die Ruhe und das bisschen Natur geniesse, die sich mir darbietet. Ein bekanntes Gefühl breitet sich in mir aus. Ganz sanft, wie ein Seidentuch, das sachte meine Brust streift. Mein Atem stockt. Ich lasse mich auf dieses Gefühl ein. Lasse es wachsen, bis sich meine Gedanken nur noch auf diese eine Emotion fokussieren. Meine Umgebung rückt immer mehr in den Hintergrund. Die Geräusche verstummen und immer mehr Bilder zeichnen sich vor meinem geistigen Auge ab. ! ! 1! ! ! Humanost by mAvIs fAIrydUst www.bloggdichaus.one Zuerst nur verschwommen, so dass ich mit zusammengekniffenen Augen versuche zu erkennen, welche Eindrücke sie mir zu offenbaren versuchen. Das anfangs unscheinbare Gefühl hat mich komplett in den seinen Bahn gezogen und versetzt mich Trance. Wie ein in einem alten Stummfilm reihen sich die Bilder nebeneinander und lassen mich ihren Zusammenhang erkennen. Die Erinnerung ist zum Leben erwacht und offenbart sich mir in all ihrer Vertrautheit. Viele Frühlinge sind seither vergangen. Doch jedes Jahr, wenn die Natur erwacht und die Sonne unsere Gemüter belebt, erinnere ich mich an diesen Tag. __ „Die Welt war schon lange wach.“ __ Verknittert und noch schlaftrunken nach einer durchzechten Nacht stand ich schwermütig auf, rieb mir meine müden Augen und setzte einen Kaffee auf. Während ich auf das Aufkochen des Wassers wartete, zündete ich mir bereits die erste Zigarette an und beobachtete vom Küchenfenster aus das rege Treiben in meiner Strasse. Es war schon spät am Nachmittag. Die Welt war schon lange wach und die Menschen gingen ihren „Schönes Wetter“ -Plänen nach. Nicht so ich. Was der Tag auch immer bringen möge, ich würde es hinnehmen und über mich ergehen lassen. Doch irgendwie war etwas anders als sonst. Heiterkeit, Energie und das muntere Erwachen aus einem tiefen Schlaf lagen in der Luft. Erst jetzt realisierte ich vollends, dass die Sonne schien und der Himmel stahlblau war. Der eisige Winter war vorüber. Die langersehnten Sonnenstrahlen färbten die Häuserfassaden und die noch etwas kahlen Bäume einige Nuancen wärmer. Die Gesichter sowie die Gangart der Menschen wirkten entspannter, ja sogar einwenig sorgloser. Auch ich spürte es und liess mich von diesen Naturschauspiel und ihren mitgebrachten Emotionen mitreissen. Nach dem letzten Schluck meines schwarzen, bitteren Morgenkaffees stellte ich mich unter die Dusche. Ich liess die Wassertropfen eine Weile einfach über mein Haupt herabprassen. Nicht mein Körper, sondern meinen Gedanken wurden gereinigt. Als ! ! 2! ! ! Humanost by mAvIs fAIrydUst www.bloggdichaus.one würde ich alle schmerzerfüllten und tränendurchtränkten Tage von mir waschen. Ich fühlte mich für diesen einen Augenblick befreit von meiner ganzen Vergangenheit. Die nassen Haare hinterliessen Tropfspuren, die meinen Weg ins Schlafzimmer zeichneten. Ein Griff in den Kleiderschrank und ich zog ein marineblaues Seidenkleid heraus. Mein Lieblingskleid. Es war schlicht und etwas weiter geschnitten. Der flache, bis zu den Schultern reichende Ausschnitt betonte schüchtern mein Dekolleté. Die Formlosigkeit des Kleides überliess der Fantasie, was sich darunter verbarg. Meine roten Haare band ich kurzum nach hinten in einen strengen Zopf. Mit dem Schwung einer kleinen Pirouette stand ich vor dem Spiegel und betrachtete mich. Etwas scheu, als stände ein Fremder vor mir. Ich traute mich kaum, mir selbst in die Augen zu sehen. Langsam hob ich den Blick in Richtung meines Hauptes. Was ich erkannte, war für mich in Vergessenheit geraten. Mein Lächeln. Mir gefiel, was ich sah. Zurück in der kleinen Küche setzte ich mich auf mein Lieblingsplätzchen. Ein alter quietschenden Stuhl, der weder bequem noch schön war und richte meinen Blick wieder auf die Strasse. Im Radio spielten sie Lieder aus meiner Jugendzeit, die mich mitrissen, so dass ich jede Zeile mitsang und jede Melodie mit meinem wachen Geist aufsog. Auch wenn ich mich immer noch in meiner Wohnung versteckte, hatte ich das Gefühl, zum Leben, welches draussen statt fand, dazu zugehören. Zu den Menschen, welche auf ihren Fahrrädern vorbeisausten. Zu denen, die gemütlich vorbeischlenderten, bis sie ihre müden Beine bei einem kühlen Getränk an der Sonne ausruhten. Ja, ich gehörte dazu, irgendwie. Es fehlte mir der Mut, mich zu ihnen zu begeben. Lange ist es her, vergessen wie es geht. Obschon ich grosse Lust verspürte, den Schritt nach Draussen zu wagen, war meine Angst zu gross. Wovor ich mich fürchtete? Das wusste ich selbst nicht. Bereits der Gedanke trieb mir die Tränen in die Augen und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich habe gelernt mich mit wenig zufrieden zu geben, so dass schon nur dieses unbeschreibliche Gefühl des SichLebendig-Fühlens diesen Tag vollkommen zu machen schien. Ich erwischte mich dabei, wie ich immer wieder auf mein Handy blickte. Als würde ich insgeheim darum beten, dass genau an diesem Tag, in diesem Moment jemand an mich dachte. Jemand der mir einen Schubs gab die Unsicherheit zu überwinden und mich aus meiner Wohnung befreite. Der Winter war hart und trotz ! ! 3! ! ! Humanost by mAvIs fAIrydUst www.bloggdichaus.one der vielen Menschen, denen ich irgendwo verloren begegnete, sehr einsam. Ich wurde zunehmend unruhiger und verlor mich in Fantasien an die verschiedensten Orte, an denen ich gerne den Tag verbringen würde. Die Tagträume waren die verzweifelte Flucht aus der einsamen Realität. Sie waren zu meiner Medizin geworden, die mich seelisch über Wasser hielt. Plötzlich bemerkte ich, dass sich unter die dröhnende Musik des Radios ein fremder Ton mischte. Ich realisierte, dass mein Handy klingelte. Fast vom Stuhl gefallen, rannte ich suchend in der Wohnung umher, um mein es zu finden, das ich aus Wut weggelegt hatte, um es nicht ständig anzustarren. Ich liess es noch einige Male klingeln, damit ich mich beruhigen konnte und nicht zu aufgebracht klang. Auf keinen Fall wollte ich den Eindruck machen, als hätte ich nichts mehr als diesen Anruf herbeigesehnt. Das Gespräch war kurz und ich wurde eingeladen den Tag gemeinsam mit einem Bekannten zu verbringen. So wie wir das Telefonat beendet hatten, kamen die alten Gefühlte und Unsicherheiten in mir hoch. Am liebsten hätte ich gleich wieder abgesagt. Hier in meiner Wohnung war ich sicher. Was mich Draussen erwarten würde, wusste ich nicht. Selbstzweifel auf allen Ebenen machten sich breit. Sehe ich abgespannt und traurig aus? Bin ich unpassend angezogen? Was ist die Absicht dieses Treffens? Werden da noch andere Menschen sein? Was soll ich erzählen ohne verzweifelt und asozialisiert zu wirken? Doch bevor mich all die Fragen unter sich begraben konnten, klingelte es an der Tür. __ „Sein Wesen strahlte Seelenfrieden aus.“ __ Ich drehte langsam das Türschloss um und öffnete vorsichtig, schon fast verängstigt, die Haustüre. Ich versteckte mich so halb dahinter und brachte nicht mehr als ein leises, unsicheres „Hallo“ heraus. Er war einer dieser Menschen, die ich nie bei Tageslicht gesehen hatte und meine Erinnerungen, aufgrund der stets narkotisierten Zustände, nur verschwommen und wage waren. Nun stand er vor mir. Ich konnte ihn zum ersten Mal richtig betrachten. Sein ganzes Wesen strahlte den Seelenfrieden aus, ! ! 4! ! ! Humanost by mAvIs fAIrydUst www.bloggdichaus.one nach dem sich viele Menschen sehnten. Die Lässigkeit und die Ruhe, die von ihm ausgingen, umarmten mich. Sein Lächeln sprach Bände der Toleranz und über die Liebe zum Leben. Ich brachte kein weiteres Wort über die Lippen. Nie zuvor bin ich solch einem Menschen begegnet. Wir fuhren ein Stück in Richtung des Flusses, der unsere kleine Stadt durchquerte. Nachdem wir die Seitengasse verliessen, in der ich wohnte, prassten die Eindrücke nur so auf mich herein. Wir sprachen nicht viel während der Autofahrt. Zu sehr faszinierte mich alles, was ich um mich Obschon herum Alles sah. altbekannt, entdeckte ich alles neu. Die Strassen, die Häuser, die Bäume, die wolkenlose Berge, der Himmel. Ich realisierte erstmals, wie blind ich durchs Leben ging. Mein Kopf war stets zum Boden gesenkt, um nicht zu sehen und nicht gesehen zu werden. Wir verliessen die Stadt und die Umgebung wurde immer grüner. Bauernhöfe, Getreidefelder und die Tiere, die sich wie wir Menschen am schönen Wetter erfreuten. Zwei Kälber spielten auf einer Wiese miteinander und neckten sich gegenseitig. Die ersten Blumen hatten ihren Weg an die Oberfläche gefunden und verliehen der Natur ihre individuellen Farbtupfer. Er parkierte das Auto unter einer grossen alten Eiche, die durch ihre breiten Äste und die ersten Blätter grosszügig Schatten spendete. Bereits aus der ferne hörte ich den Fluss rauschen. Die Strömung war stark. Die Wassermassen suchten sich ihren Weg über die Felsen im Flussbeet hinweg und tänzelten um die Baumstümpfe, die seit jeher dort lagen. An einer kleinen Lichtung am Flussufer liessen wir uns nieder. Wir legten uns in den Rasen und ab dem Zeitpunkt blieb die Zeit für mich stehen. ! ! 5! ! ! Humanost by mAvIs fAIrydUst www.bloggdichaus.one Stundenlang lagen wir da und genossen die Natur. Wir erzählten uns lustige Anekdoten, disputierten über Themen, bei welchen wir unterschiedlicher Meinung waren und philosophierten über die Gesellschaft und den Sinn des Lebens. Vergessen waren alle Selbstzweifel, mein Selbsthass sowie die Unsicherheit und Angst vor Menschen. Ich fühlte mich frei. Obschon ich einen wunderbaren interessanten Menschen kennenlernen durfte, war eines für mich noch viel eindrücklicher. Ich hatte eine Begegnung mit mir selbst und lernte mich wieder kennen. Ich hörte auch mir selbst zu. Ich sprach, jedoch ohne darüber nachzudenken, was ich ihm erzählte. Als die Nacht hereinbrach und die Luft kühler wurde, machten wir uns auf den Heimweg. Er hielt vor meiner Haustüre an und liess mich aussteigen. Er schenkte mir ein Lächeln zum Abschied und fuhr davon. Zuhause setzte ich mich auf meinen quietschenden Stuhl in der Küche, schloss die Augen und liess den Tag bei einem Gläschen Wein Revue passieren. Meine Gedanken waren gefüllt mit wunderbaren Bildern, mein Herz erblüht und meine Seele befreit, da ich meinen Ängsten die Stirn bieten konnte. Langsam verblassen die Bilder wieder und ich kehre aus meiner Trance zurück in die Gegenwart. Die Sonne ist hinter den Dächern verschwunden. Es ist still geworden, doch die Ruhe ist sanft und beruhigend. Ich lehne mich schaukelnd zurück und lasse das Gefühl ganz sachte ausklingen. Jedes Jahr wenn der Frühling Einzug hält, erinnere ich mich an diesen einen besonderen Tag, der mich zurück ins Leben holte. Der mir zeigte, dass unser Dasein keinen Sinn braucht, sondern lediglich uns selbst als Teil des Ganzen. Diesen besonderen Tag, an dem ich das erste Mal wieder von Herzen lachte und glücklich war auf Erden sein zu dürfen. Vollkommene Zufriedenheit und die Glückseligkeit in ihrer Perfektion. Ich wäre heute nicht mehr hier, hättest er mich nicht befreit. Danke. ! ! 6! ! !
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