Der Sklarek‐Skandal 1929. 1 Einleitung - Hiko

Demokratie in Nöten – Der Sklarek‐Skandal 1929. 1 Einleitung: Am 27. September 1929 meldet die sozialdemokratische Zeitung Vorwärts:
Gebrüder Sklarek verhaftet. Die Stadt Berlin um große Summen geschädigt.
Die bekannten Kaufleute und Rennstallbesitzer, die Gebrüder Max, Leo und Willi Sklarek sind unter dem
Verdacht umfangreicher Betrügereien, die in die hunderttausende gehen, von der Kriminalpolizei verhaftet
und ins Polizeipräsidium gebracht worden. Die Verhaftung der drei Brüder erfolgte ganz überraschend. Wie
es heißt sollen weitere Verhaftungen bevorstehen.
Was war passiert? Wie war es den Sklareks gelungen, die Stadt Berlin so zu schädigen? Was
hat der Rennstall mit der ganzen Sache zu tun und wie konnte sich daraus ein
Korruptionsskandal entwickeln, der die Demokratie in Nöte bringt?
Bevor wir uns diesen Fragen widmen können, bedarf es eines kurzen Blickes auf die Lage der
Republik und im Besonderen der Hauptstadt Berlin am Vorabend des Sklarek-Skandals:
Im Vergleich zu den turbulenten Anfangsjahren der Republik, die von von innen- wie
außenpolitischen Auseinandersetzungen und wirtschaftlichen Talfahrten geprägt waren,
scheint sich die Lage in den ›goldenen Zwanzigern‹ beruhigt zu haben. Die Währungsreform
1923 führt zur Stabilisierung der Wirtschaft, die Außenpolitik Stresemanns zum Nachlassen
der außenpolitischen Spannungen. Diese Stabilität erweist sich jedoch in vielen Bereichen als
trügerisch:
Die Politik ist von einem immer stärkeren Auseinanderdriften nach rechts und links bestimmt.
Die deutsche Wirtschaft war zwar gestärkt und auch für ausländische Investoren attraktiv
gemacht worden, trotzdem sind selbst in den Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs die Folgen
der Inflationszeit weiterhin deutlich spürbar. So hatte der Zusammenbruch der Wirtschaft zum
Untergang zahlreicher etablierter Betriebe geführt. Er hatte gleichzeitig aber auch
Möglichkeiten für neue Investoren geschaffen, die innerhalb kurzer Zeit große Konzerne
zusammenkaufen können und über gute Verbindungen zu Politik und Finanzwelt verfügen.
Gerade jüdisch-osteuropäische Geschäftsleute – wie die Sklarek-Brüder – werden in diesem
Zusammenhang gern als ›Schieber‹ und ›Inflationsgewinnler‹ stigmatisiert. Umgekehrt trifft
die
Landwirtschaft
und
Industrie
nahestehenden
Reichsregierungen
seitens
der
Arbeiterparteien der Vorwurf, solche Fälle bewusst zu skandalisieren, um so Korruption in
den eigenen Reihen zu verschleiern.
Berlin Berlin kommt nicht nur als Sitz des Reichstages und des Preußischen Landtages eine
besondere Rolle zu: Groß-Berlin, wie es zum Zeitpunkt des Sklarek-Skandals existiert, war
im April 1920 in Folge des Gesetzes über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin
Dr. Annika Klein, Goethe‐Universität Frankfurt am Main Demokratie in Nöten – Der Sklarek‐Skandal 1929. 2 entstanden. Durch Beschluss des Preußischen Landtags werden sechs kreisfreie Städte und
zahlreiche kleinere Gemeinden in das Berliner Stadtgebiet eingemeindet und bilden nun eine
Kommune, die auf Grund ihrer einzigartigen Ausmaße die Stadtverwaltung in den folgenden
Jahren vor völlig neue Probleme und Herausforderungen stellen wird.
Oberbürgermeister dieser noch aus Kriegszeiten hochverschuldeten Riesenstadt ist seit 1921
der ehemalige Stadtkämmerer Gustav Böß. Böß ist anfangs parteilos und tritt später in die
DDP ein. Er wird aber auch von den Sozialdemokraten gerade auf Grund seiner
verwaltungstechnischen Fähigkeiten unterstützt. In den folgenden Jahren finden unter Böß
umfangreiche Reformen und Neuordnungen der Berliner Stadtverwaltung statt, die zum Teil
auf erheblichen öffentlichen Widerstand stoßen - beispielsweise in der Frage der
Zentralisierung und Neugestaltung der Berliner Stadtbezirke. Hinzu kommen weitere
Maßnahmen, die das effizientere Funktionieren des neuen Groß-Berlin unterstützen sollen. So
soll
beispielsweise
das
Nahverkehrsnetz
durch
die
Gründung
der
Berliner
Verkehrsgesellschaft und den Bau der Untergrundbahn ausgeweitet und modernisiert und das
Stadtgebiet durch den Ankauf und die Eingliederung einiger letzter Bezirke abgerundet
werden.
Ähnlich wie der Reichstag ist auch die Berliner Stadtverordnetenversammlung in diesem
Zeitraum von einem Auseinanderdriften nach rechts und links bestimmt. Die SPD ist die mit
weitem Abstand stärkste Partei und hätte theoretisch gemeinsam mit der KPD eine absolute
Mehrheit gehabt. Die Zusammenarbeit beider Parteien ist zum Teil erfolgreich, häufig kommt
es aber auch zu erbitterten Auseinandersetzungen. Obwohl die SPD also in der
Kommunalpolitik definitiv die dominierende Kraft ist, ist sie zu jedem Zeitpunkt auf die
Zusammenarbeit mit den übrigen Parteien angewiesen.
Die Hauptstadt dient also nicht nur als Kulisse des größten Korruptionsskandals dieser Zeit.
Sie verkörpert die Parteikonflikte der Politik ebenso wie die immer größer werdende Kluft
zwischen den Gewinnern und den Verlierern der wirtschaftlichen und politischen Umbrüche.
Berlin ist für die einen das Symbol der wirtschaftlichen und kulturellen Blütezeit der goldenen
Zwanziger. Für die anderen ist es dagegen die Verkörperung von politischer und moralischer
Dekadenz, denn auch die soziale und finanzielle Situation Berlins spitzt sich trotz der
Modernisierungsmaßnahmen Mitte der zwanziger Jahre weiter zu. Der Reiz der Hauptstadt
führt ohnehin schon zu hohen Zuzugs- und damit auch Arbeitslosenzahlen, die Inflation der
Jahre 1922/1923 verstärkt diese Tendenz und führt außerdem dazu, dass der Abstand
zwischen der wachsenden Masse der Geringverdiener und Arbeitslosen auf der einen Seite
und den wenigen gut Verdienenden auf der anderen stetig größer wird. In letztere Gruppe
Dr. Annika Klein, Goethe‐Universität Frankfurt am Main Demokratie in Nöten – Der Sklarek‐Skandal 1929. 3 fallen nicht nur die städtischen Beamten und Magistratsmitglieder, sondern auch diejenigen
Geschäftsleute, denen es gelungen ist, ihr Vermögen über die Hyperinflation hinwegzuretten
oder die wirtschaftlichen Missstände gar gewinnbringend auszunutzen, – Unternehmer wie
die Sklarek-Brüder.
Die Sklareks Die drei Brüder Max, Willi und Leo Sklarek hatten 1921 in Berlin gemeinsam eine
Textilhandelsfirma gegründet. Durch ihre erfolgreichen Geschäfte, die später den Grundstein
für den Sklarek-Skandal legen, waren sie dabei schnell zu außerordentlichem Reichtum
gekommen. Sie besitzen den schon genannten Rennstall, außerdem Villen in Berlin und ein
Jagdhaus in Mecklenburg. Die Brüder nutzen ihre luxuriösen Lebensumstände aber nicht nur
für sich selbst, sie investieren auch strategisch in die Etablierung und Pflege ihrer zahlreichen
Geschäftskontakte in und um Berlin. Die rauschenden Feste der Sklareks, ihre Einladungen zu
Pferderennen, bei denen sie auf eigene Kosten Wetten für ihre Gäste abschließen, die
Einladungen zur Jagd und die teuren Geschenke an ihre Freunde, all dies ist in der Berliner
Öffentlichkeit schon vor dem Herbst 1929 wohl bekannt. Die Empfänger dieser zahlreichen
Annehmlichkeiten und Unterhaltungen sind über das gesamte politische und institutionelle
Spektrum Berlins verteilt, der kommunistische Stadtrat Gustav Degner zählt ebenso dazu wie
Stadtrat Wilhelm Benecke von der SPD, der Direktor der Berliner Anschaffungsgesellschaft,
Felix Kieburg und viele weitere. Die Brüder selbst sind Mitglieder in der DDP (Max) und der
SPD (Willi und Leo), unterstützen daneben aber auch die kommunistische Rote Hilfe und die
DNVP.
Dank ihrer Textilgeschäfte und sicher auch Dank dieser gesellschaftlichen und politischen
Aktivitäten besitzen die Sklareks faktisch ein Monopol auf die Belieferung der städtischen
Einrichtungen mit Textilien. Sie versorgen außerdem auch eine hohe Anzahl von städtischen
Beamten mit Kleidung. Manche, aber bei weitem nicht alle, so wird sich später herausstellen,
zu ausgesprochenen Vorzugspreisen. Zur Finanzierung ihrer Textilgeschäfte bekommen sie
von der Berliner Stadtbank Kredite, deren Höhe beständig steigt und die scheinbar durch
ebenso beständig ansteigende Bestellungen der Berliner Bezirksämter gedeckt sind.
Die Sklareks stehen also im Mittelpunkt eines dichten Netzes aus geschäftlichen, politischen
und persönlichen Beziehungen, das einen recht großen Teil der Berliner Polit-Gesellschaft
umfasst und schon für die Zeitgenossen – und die ermittelnden Instanzen – schwer zu
überblicken ist. Bis zum Herbst 1929 scheint dieses Netzwerk recht reibungslos zu
funktionieren: Die Kredite steigen, etwaige Beschwerden werden von den mit den Sklareks in
Dr. Annika Klein, Goethe‐Universität Frankfurt am Main Demokratie in Nöten – Der Sklarek‐Skandal 1929. 4 Verbindung stehenden Stadträten abgewiegelt und den Brüdern war es sogar gelungen, ihren
Textilbelieferungsvertrag mit der Stadt bis ins Jahr 1935 zu verlängern.
Die Aufdeckung des Falles: Trotzdem werden die Sklareks am 26. September 1929 – zumindest nach Aussage des
Vorwärts „völlig überraschend“ – verhaftet. Was war passiert?
Anfang September 1929 findet eine planmäßige Revision bei der Berliner Stadtbank statt.
Dabei werden auch die Kredite der Sklareks bei dieser Bank überprüft. Dem Revisor Otto
Fabian, einem ehemaligen Angestellten des Bezirksamts Spandau fallen in den Unterlagen
jedoch die ausgesprochen hohen Bestellungen eben dieses Amtes auf, die zudem von einer
dafür nicht berechtigten Person unterschrieben zu sein scheinen. In der Tat stellen sich diese
Bestellungen, wie auch zahlreiche weitere, schnell als Fälschungen heraus. Die
Hauptprüfungsstelle beschlagnahmt schließlich das gesamte Aktenmaterial der SklarekKredite. Einen Tag später werden Max, Willi und Leo Sklarek sowie der Oberbuchhalter der
Firma Sklarek, Friedrich Lehmann, unter dem Verdacht des Betruges und der
Urkundenfälschung verhaftet.
Mit der Verhaftung der Sklareks wird die bis zu diesem Zeitpunkt interne Stadtbank-Affäre
gleichsam über Nacht zum Skandal. Bereits die ersten Zeitungsmeldungen über die
Verhaftung der Brüder berichten auch über den enormen Schaden für Stadt und Stadtbank
durch die Sklarek’schen »Betrügereien«.
Dann wird bekannt, dass sich unter den von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmten
Dokumenten auch Aufzeichnungen über die Kunden der Sklareks befinden. Zwar handelt es
sich bei dieser „Kleiderliste“ – wie die Presse sie gern bezeichnet –um eine Liste aller
Privatkunden der Firma (daher die in der Presse genannte hohe Zahl von 1700 SklarekKunden), es finden sich jedoch auffällig viele Magistratsmitglieder und sonstige höhere
Beamte auf der Liste.
In den folgenden Wochen und Monaten fördern die Ermittlungen – an denen mit Berliner
Magistrat, Preußischem Landtag und der Staatsanwaltschaft zeitweise drei Institutionen
gleichzeitig beteiligt sind – immer neue Verbindungen der Sklareks zu Personen und
Institutionen, die mit der Stadt Berlin in Verbindung stehen zutage.
Mehrere Stadtverordnete, die Direktoren der Stadtbank, die Mitglieder des Kreditausschusses
der Bank, die ehemaligen Direktoren zweier städtischer Textilgesellschaften, die Direktoren
der Berliner Verkehrsgesellschaft und der Berliner Hafen- und Lagergesellschaft, zwei
Bürgermeister und sogar der Oberbürgermeister Gustav Böß selbst sollen von den Brüdern
Dr. Annika Klein, Goethe‐Universität Frankfurt am Main Demokratie in Nöten – Der Sklarek‐Skandal 1929. 5 mit verbilligten Textilien und konkreten Geldbeträgen bestochen worden sein. Im Gegenzug
sollen sie den Sklareks entweder aktiv geholfen oder zumindest über die Unregelmäßigkeiten
ihrer Geschäfte hinweggesehen haben.
Der Fall steht in den folgenden Wochen und Monaten im Zentrum der öffentlichen
Aufmerksamkeit,
in
der
Presse
überschlagen
sich
Artikel
mit
immer
neuen
Sensationsmeldungen über angeblich in den Fall verwickelte Personen, Bestechungs- und
Schadenssummen
und
das
angeblich
süße
Leben
der
Sklareks
im
Moabiter
Untersuchungsgefängnis.
Eine Reihe von Faktoren tragen dazu bei, dass gerade dieser Fall so hohe Wellen schlägt:
1. Die Ermittlungen fördern zwar immer neue mögliche Schuldige zutage, bis es allerdings zu
konkreten Ergebnissen kommt, vergeht viel Zeit (2 Jahre bis zum Prozessbeginn, ein weiteres
Jahr bis zur Urteilsverkündung). Den Gerüchten bietet sich also viel Entfaltungsraum, zum
Zeitpunkt der Urteilsverkündung ist das öffentliche Interesse dagegen weitestgehend erlahmt.
2. Am 17 November 1929 stehen in Berlin Kommunalwahlen an, alle politischen Parteien
haben also ein verstärktes Interesse daran, ihre Gegner möglichst stark zu diskreditieren
und/oder die Schuld von den Mitgliedern der eigenen Partei abzuweisen. In der Presse werden
daher oft Nachrichten über den Sklarek-Fall mit Hinweisen auf die anstehende Wahl
verknüpft.
3. „Korruption“ hat sich in der Weimarer Zeit schon früher als produktives Schlagwort
erwiesen, ist der Begriff doch einerseits klar negativ besetzt („Wer korrupt ist, ist auch
schlecht“), aber andererseits schwammig genug, um auf eine Vielzahl von Delikten
angewendet werden zu können.
4. Die Sklareks lassen sich durch die NSDAP- und DNVP-nahe Presse als stereotype jüdischosteuropäische Geschäftemacher und Opportunisten stilisieren. Der Fall Sklarek kann so auch
in eine Reihe früherer, angeblich „jüdischer“ Korruptionsskandale eingeordnet werden. Die
»ausländische« Herkunft der – in Berlin geborenen – Sklareks wird allerdings auch in vielen
anderen Zeitungen thematisiert. Von den Gegnern der Republik wird dabei oft angedeutet,
„Demokratie“ und „Korruption“ stünden zwangsläufig in Verbindung.
5. Der dekadente Lebenswandel der (neureichen) Berliner Oberschicht, zu der die Sklareks
und viele der von ihnen Bestochenen gehören, lässt sich mit seinen Sektgelagen und
Pferderennen – denken Sie an den schon im ersten Artikel erwähnten Rennstall – als krasser
Gegensatz zum Alltag der Berliner Bevölkerung darstellen. Obwohl die genaue Stoßrichtung
je nach politischer Gruppierung unterschiedlich ist, üben alle Seiten heftige Kritik an der
Berliner Stadtverwaltung, die sich im Skandal als von politischen Interessen und eigener
Dr. Annika Klein, Goethe‐Universität Frankfurt am Main Demokratie in Nöten – Der Sklarek‐Skandal 1929. 6 Raffgier beflügelt darstellt und scheinbar nicht willens oder in der Lage ist, die Stadt im
Interesse ihrer Bewohner zu verwalten.
Der Fall Böß Exemplarisch für all diese Argumentationslinien ist der Fall des Oberbürgermeisters Gustav
Böß, der nach und nach in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit rückt, und dass,
obwohl Böß weder an den Textilgeschäften noch den Kreditangelegenheiten der Sklareks
direkt beteiligt war.
Böß (DDP) befindet sich in der Anfangsphase des Sklarek-Falles außer Landes, er war
Anfang September 1929 auf Einladung des New Yorker Oberbürgermeisters zu einer
ausgedehnten Amerika-Rundreise aufgebrochen. Neben der Hoffnung, Berlin als touristisches
Ziel etablieren zu können, geht es Böß bei seiner Reise auch um die Aufbesserung der
desolaten Berliner Finanzen mittels amerikanischer Auslandsanleihen.
Nach der Verhaftung der Sklareks wird der Oberbürgermeister durch Telegramme
fortwährend, wenn auch sicher nicht detailliert genug – immerhin war der Platz begrenzt und
jede andere Form der Kommunikation hätte Wochen in Anspruch genommen – über den
Fortgang der Ermittlungen unterrichtet. Böß sieht sich offenbar nicht als möglicherweise
selbst vom Skandal betroffen. In der Stadtverordnetenversammlung werden dagegen
zunehmend Stimmen laut, die angesichts der sich offenbarenden massiven Probleme in der
Berliner Stadtverwaltung die umgehende Rückkehr des Oberbürgermeisters fordern. Böß
lehnt dies ab. Schnell heißt es außerdem, Böß habe bereits geraume Zeit vor der
entscheidenden Revision von Unstimmigkeiten im Geschäftsgebaren der Sklareks gewusst
bzw. sei mehrfach darauf hingewiesen worden.
Nach dem Auftauchen der Sklarek’schen Kleiderliste verschärft sich die Situation in Berlin
zunehmend, stellt sich doch heraus, dass auch die Familie Böß zu den Kunden der Sklareks
zählte. Frau Böß hatte von den Sklareks eine Pelzjacke zu einem ausgesprochenen
Vorzugspreis erhalten, für ihren Mann existiert ein Konto unter einem Decknamen, auf das
möglicherweise Bestechungsgelder eingezahlt worden waren. Böß selbst bestreitet
kategorisch, den Sklareks irgendwelche Vorteile zukommen gelassen zu haben.
Bei ihrer Rückkehr am 1. November werden Böß und seine Frau schon am Bahnhof von einer
Menge in Empfang genommen, die den Oberbürgermeister als „Schieber“ und „Verbrecher“
beschimpft.
Böß bittet daraufhin um die Einleitung des Disziplinarverfahrens gegen sich selbst und
beantragt den vorzeitigen Ruhestand. Trotzdem werden in der Presse immer neue Vorwürfe
Dr. Annika Klein, Goethe‐Universität Frankfurt am Main Demokratie in Nöten – Der Sklarek‐Skandal 1929. 7 gegen den Oberbürgermeister erhoben, die sich mit dem Fortschreiten der Affäre auf immer
absurdere Gebiete ausdehnen, so werden dem Oberbürgermeister auch Butterschmuggel,
Teppichdiebstahl und die Nichtbezahlung der Hundesteuer vorgeworfen.
Im Mai 1930 kommt der Bezirksausschuss zu dem Schluss, Böß habe durch seinen Umgang
mit den Sklareks in der Tat nicht nur seine Amtspflichten verletzt und er habe gar das »das
Ansehen des gesamten Beamtenstandes erheblich herabgemindert«. Böß wird mit
Dienstentlassung bestraft, hat allerdings Erfolg im Berufungsverfahren und erreicht die
Rücknahme der Dienstentlassung ebenso wie die der Kritik an seiner persönlichen
Ehrenhaftigkeit.
Prozess Während der Fall Böß somit lediglich im Rahmen eines Disziplinarverfahrens verhandelt
wird, ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen zahlreiche weitere Personen aus dem Umfeld der
Stadtverwaltung, der Stadtverordnetenversammlung und der Stadtbank wegen Bestechung.
Sie sollen von den Sklareks nicht nur verbilligte Textilien erhalten haben, es existieren
außerdem zahlreiche weitere Konten mit Decknamen (wie bei Böß), auf die die Sklareks
immer wieder hohe Geldbeträge eingezahlt hatten. Als der Prozess im Oktober 1931 endlich
beginnt, ist das Interesse der Berliner Öffentlichkeit jedoch längst abgeflaut. Im Gegensatz zu
den Skandalgeschichten, die wochen- und monatelang die öffentliche Aufmerksamkeit
beschäftigt hatten, bieten die vor Gericht behandelten kaufmännischen Abläufe und
Verwicklungen
zudem
–
und
darüber
klagt
auch
die
Presse
–
nur
wenig
Unterhaltungspotential. Allenfalls Besucher von auswärts könnten sich noch für die Vorgänge
im Gerichtssaal als Bestandteil eines Berlin-Besuchs begeistern: „Am Montag etwa Zeughaus
und die Museen, am Dienstag Sanssouci und vielleicht Theater, am Mittwoch SklarekProzeß“, spottet der Berliner Lokal-Anzeiger. Auch die Urteilsverkündung ein Jahr später
stößt nur noch auf vergleichsweise geringes Interesse, obwohl neben den Sklareks, die mit
Zuchthausstrafen von 4 Jahren bestraft werden, noch eine recht großer Teil der Beschuldigten
tatsächlich zu Haftstrafen zwischen 3 und 18 Monaten verurteilt wird.
Sonstige Konsequenzen: Was nehmen wir mit aus dem Sklarek‐Skandal? Grundsätzlich ist zu bemerken, dass im Sklarek-Fall Faktoren zusammentreffen, die schon
seit Beginn der Zwanziger Jahre immer wieder Gegenstand von Debatten in der Berliner
Stadtverordnetenversammlung gewesen waren. Gerade im Hinblick auf die nahenden Wahlen,
müssen sich nun aber alle politischen Gruppen vor dem Hintergrund des Skandals damit
Dr. Annika Klein, Goethe‐Universität Frankfurt am Main Demokratie in Nöten – Der Sklarek‐Skandal 1929. 8 auseinandersetzen. Ich werde hier nur einige Punkte kurz anreißen, die wir dann sicherlich in
der Diskussion noch weiter vertiefen können.
1. Berliner Stadtverwaltung:
Der Korruptionsskandal macht nochmals deutlich, dass die massiven strukturellen
Umstellungen und Herausforderungen, die das Projekt „Groß-Berlin“ mit sich gebracht hat,
zu sich überlappenden Strukturen und unklarer Kompetenzverteilung geführt haben. Vgl.
Uneinigkeit darüber, ob der Oberbürgermeister aktiv Einsicht in die konkreten Abläufe des
Verwaltungsapparates nehmen sollte, oder ob er sich – wie Gustav Böß es getan hatte – zwar
als Oberhaupt der Stadtverwaltung begreifen, aber nicht an den einzelnen Vorgängen im
Detail Anteil nehmen sollte.
2.
Wirtschaftliche
Lage
vor
dem
Hintergrund
von
Krieg,
Inflation,
Weltwirtschaftskrise:
Auch hier sind viele Probleme offenkundig noch nicht gelöst: Die Auswirkungen der
kriegsbedingten Zwangswirtschaft hatten überhaupt erst zur Entstehung der zentralen Kleiderund Textilverwertungsstellen geführt hatte, die Notlage der Berliner Bevölkerung infolge der
Inflation und der Wirtschaftskrise macht ihre weitere Existenz nötig.
Das lässt einerseits Raum für den Missbrauch dieser Strukturen, wie es die Sklareks getan
haben und macht gleichzeitig das „Dekadenz“-Argument im Skandal so wirkmächtig, v.a. als
Waffe gegen SPD/KPD-Mitglieder.
3. Die Rolle der Sozialdemokratie:
Tatsächlich sind viele SPD-Mitglieder in den Skandal verwickelt (vgl. dominante Rolle in der
Stadtregierung) und die SPD hält, anders als z.B. die KPD, lange an der Unschuld ihrer
Mitglieder
fest.
Sie
befindet
sich
im
Skandal
daher
in
einer
permanenten
Verteidigungsposition und trägt mit weitem Abstand den größten Schaden (sowohl Vertrauen/Ansehen als auch Mandate) aus dem Skandal davon, vgl. fortwährende weitere Anknüpfung
an den Fall „Sklarek-Sozialdemokratie“.
4. Korruption und Republik:
Die Verstrickung der SPD als Hauptrepräsentantin des „System Weimar“ in den Skandal führt
nicht nur zu einem massiven Vertrauensverlust in die Partei, sondern auch in die Republik.
„Die Hauptstadt der Republik – die korrupteste Kommune“ urteilt der Völkische Beobachter.
Dieser Vertrauensverlust schlägt sich auch in den Wahlen 1929 und 1930 in
Stimmenverlusten für die Sozialdemokratie und Stimmengewinnen für die Republikgegner
nieder, vgl. Einzug der NSDAP in die Berliner Stadtverordnetenversammlung (wenn auch nur
mit 5,8%).
Dr. Annika Klein, Goethe‐Universität Frankfurt am Main Demokratie in Nöten – Der Sklarek‐Skandal 1929. 9 Sicherlich wäre es problematisch, diese Entwicklungen allein auf den Sklarek-Skandal
zurückzuführen. Die NSDAP war vor 1929 überhaupt nicht in der Hauptstadt präsent,
befindet sich aber in einer Phase stetigen Aufschwungs. In wie weit der NSDAP der Einzug in
die Stadtverordnetenversammlung auch ohne den Sklarek-Skandal gelungen wäre, ist daher
schwer zu beurteilen. Dass der Skandal sich schon bei der Kommunalwahl in höchstem Maße
schädigend auf die beteiligten Parteien, und allen voran auf die SPD auswirkt, steht jedoch
außer
Zweifel.
Er
vertieft
nicht
die
politischen
Gräben
in
der
Berliner
Stadtverordnetenversammlung, er gibt auch den Gegnern der SPD die Möglichkeit, ihre Kritik
an der Partei und dem von ihr repräsentierten System auf das eine Stichwort ›Sklarek‹ zu
reduzieren. Der sozialdemokratische Journalist und Reichstagsabgeordnete Friedrich
Stampfer fasst diese Entwicklung in seinem Rückblick auf »Die ersten 14 Jahre der
Deutschen Republik« zusammen:
Es entstand in der Phantasie breiter Massen das Bild einer ungeheuerlichen Korruptionswirtschaft, in deren
Mittelpunkt die Sozialdemokratische Partei stand. Es war ein Zerrbild, in dem das viele Gute völlig
verschwand, das Faule und Schlechte in ungeheurer Vergrößerung erschien.
Aus einem Fall korrupter Textillieferanten, wie er sich vielleicht auch in jeder anderen
deutschen Großstadt hätte zutragen können, wird so ein Skandal der zur Vertiefung der
politischen Gräben führt, das Vertrauen in das System weiter schwächt und die Notlage der
Weimarer Demokratie verstärkt.
Vielen Dank!
Dr. Annika Klein, Goethe‐Universität Frankfurt am Main