Filippo Focardi Falsche Freunde?

Filippo Focardi
Falsche Freunde?
Filippo Focardi
Falsche Freunde?
Italiens Geschichtspolitik und die Frage
der Mitschuld am Zweiten Weltkrieg
übersetzt von Antje Peter
Ferdinand Schöningh
Titelbild:
Gino Boccasile: La Germania é veramente vostra amica,
Propagandaplakat 1944, Archivio GBB/Contrasto
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
Il cattivo tedesco e il bravo italiano.
La rimozione delle colpe della seconda guerra mondiale
Copyright © 2013, Gius. Laterza & Figli,
All rights reserved
Die Übersetzung dieses Buches wurde mit Unterstützung des
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© 2015 Ferdinand Schöningh, Paderborn
(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.schoeningh.de
Einbandgestaltung: Nora Krull, Bielefeld
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-506-78118-5
Inhalt
Einleitung
I. Italien und der Achsenkrieg in der Propaganda
der Alliierten
II. Wer hat das Vaterland verraten?
9
25
39
1. Der »infame Verrat« durch den Monarchen und die Loyalität
gegenüber dem »deutschen Kameraden« (39) – 2. Mussolinis
Verrat und die Entlarvung des »falschen deutschen Verbündeten«
(45) – 3. Die antifaschistische Verurteilung der »wahren
Verräter« (51)
III. Am Ursprung der Kriegserinnerung
60
1. »Deutsches Kommando, Italien herrscht nicht«.
Mobilmachung gegen Deutschland (60) – 2. Der Kampf
gegen den »gemeinsamen deutschen Feind« und die internationale
Rehabilitierung Italiens (69)
IV. »Auch Italien hat gewonnen.«
Buße und Befreiung eines »befleckten Volkes«
V. »Die Achse vergessen.«
82
111
1. Das »unnatürliche Bündnis« zwischen Hitler und Mussolini
(111) – 2. Die Italiener als »Opfer« (122) – 3. Die angebliche
deutsche »Kameradschaft« (132)
VI. »Gute Italiener« und »böse Deutsche«
147
1. Italienische Humanität gegen deutsche Brutalität (147) –
2. Die Italiener als Retter der Juden (154) – 3. Kriegsverbrecher
– wir? (164) – 4. »Italianski charascho!« (192) – 5. Das »versäumte
italienische Nürnberg« (197)
6
Inhalt
VII. Menschen oder Deutsche?
201
1. Die »Nazibestie« (201) – 2. Das Phantasma des »guten
Deutschen« und die »Narbe« der Erinnerung (214)
Schlusswort
233
Anmerkungen
251
Anmerkung zu den Quellen
338
Danksagungen
340
Abkürzungsverzeichnis
343
Namensregister
344
Für meine Eltern Carla und Leonardo,
und für meinen Bruder Francesco
Einleitung
Es war der britische Historiker Tony Judt, der vor rund zehn Jahren im Rahmen eines intellektuell anregenden Vergleichs vom
»verfluchten Erbe« (vicious legacy) sprach, das der Zweite Weltkrieg in ganz Europa hinterlassen habe.1 Ein Erbe, das aus den
dramatischen Ereignissen des totalen Krieges hervorging, jenem
Kampf der Kulturen, der die Nationen in zwei Blöcke gespalten
hatte, und zugleich tief in jener Welt verwurzelt war, die die Geschehnisse des Krieges überhaupt erst möglich gemacht und sie
mythisch überhöht hatte. Judt bezog sich damit auf die Konstruktion der Erinnerung, die in den ersten Nachkriegsjahren, zwischen
1945 und 1948, allenthalben zu beobachten war, sowohl in Westeuropa als auch in Mittel- und Osteuropa, auch wenn die einzelnen Länder vor dem Hintergrund des Kalten Krieges unterschiedliche Wege beschritten. Im Wesentlichen war diese Erinnerung
durch zwei Elemente bestimmt: durch »die allgemein anerkannte
Ansicht«, Deutschland und die Deutschen trügen die alleinige
Schuld »am Krieg, seinen Leiden und Verbrechen«2 einerseits und
die Verherrlichung des »Widerstandsmythos« im Sinne eines
Kampfes des gesamten Volkes gegen die deutschen Besatzer andererseits.3 Dabei waren diese beiden Kernpunkte der europäischen
Erinnerung an den Krieg eng miteinander verbunden: Der Schuld
der Deutschen (»›They‹ did it«) entsprach die angebliche Unschuld der anderen Länder, und der direkte Vergleich mit Nazideutschland unterstrich diesen Zusammenhang noch. Den Deutschen die Schuld an allem zuzusprechen, was der Krieg mit sich
gebracht hatte, war in gewisser Hinsicht nicht von der Hand zu
weisen. Denn: Wer, wenn nicht das »Dritte Reich«, hatte den
Konflikt und seine fürchterlichen Verbrechen zu verantworten?
Freilich wurden die Gewalttaten, die auf Seiten der Siegermächte
begangen worden waren, damit zugleich in den Hintergrund gedrängt oder gar gerechtfertigt, so etwa die Massenvertreibungen
von Millionen von Deutschen, Hunderttausenden von Ungarn
und Ukrainern, die am Endes des Krieges gewaltsam aus Polen,
der Tschechoslowakei und dem Balkanraum entfernt wurden und
die Gestalt Mitteleuropas grundlegend veränderten.4 In ähnlicher
10
Einleitung
Weise hatte der nationale »Mythos des Widerstands« gegen die
Deutschen im Osten wie im Westen dazu gedient, das Ausmaß der
Kollaboration, von der die nationalsozialistischen Besatzer überall profitiert hatten, zu verschleiern und den gewalttätigen Charakter des Bürgerkrieges, den der Kampf in den jeweiligen Ländern angenommen hatte, herunterzuspielen.5 Judt zufolge war der
Mythos einer antideutschen Gemeinschaft des Vaterlands ein bequemer Deckmantel für all diejenigen – im Übrigen die Mehrheit
der Bevölkerung –, die sich in Wirklichkeit damit abgefunden hatten, unter dem NS-System zu leben.6 Aber auch die »echten Widerstandskämpfer« beförderten diesen Mythos, sei es aus Gründen der politischen Legitimation (so im Falle der Kommunisten),
sei es im Namen einer höheren Notwendigkeit, wenigstens ein
Mindestmaß sozialen Zusammenhalts wiederherzustellen sowie
die Autorität und Legitimität des Staates nach den Irrwegen des
Bürgerkrieges neu zu begründen.7
Auch in Italien wurde die öffentliche Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg auf diese Art geformt: Man betonte die Unschuld
des italienischen Volkes, indem man den Deutschen die vollständige Verantwortung für Krieg und Verbrechen aufbürdete und die
Erinnerung an die Resistenza zur nationalen Erzählung schlechthin machte. Allerdings weist der italienische Fall eine Besonderheit im Vergleich zu jenem Modell auf, das Tony Judt für Europa
skizziert hat. Immerhin handelt es sich hier um das Land, das den
zweifelhaften Ruhm in Anspruch nehmen darf, den Faschismus
gewissermaßen erfunden zu haben, das Land, das seit Mitte der
1930er Jahre – nach dem Überfall auf Äthiopien – an der Seite des
nationalsozialistischen Deutschlands stand, systematisch an der
Zerstörung der europäischen Ordnung mitwirkte, wie sie nach
dem Ersten Weltkrieg in Versailles entstanden war, und auf eine
radikale Neudefinition der internationalen Machtverhältnisse
hinarbeitete.8 Um dieses Ziel zu erreichen, war Mussolini wie Hitler zur Konfrontation mit den großen Demokratien – Großbritannien und Frankreich – bereit, von denen man voller Verachtung
annahm, sie seien dem Niedergang geweiht. Mit der Aussicht,
eine Rolle als Großmacht zu spielen und eine »neue Mittelmeerordnung« zu schaffen, befand sich das monarchisch-faschistische
Italien bereits seit 1935 beinahe durchgehend im Krieg: Dem
Überfall auf Äthiopien (1935/36) folgten eine massive Interventi-
Einleitung
11
on an der Seite Frankreichs im spanischen Bürgerkrieg (19361939) und die Besetzung Albaniens (April 1939). Nach Überwindung einer kurzen Phase der »Nicht-Kriegsführung« im Juni 1940
beteiligte Mussolini – mit Zustimmung des Königs – das Land
schließlich als wichtigster Bündnispartner des »Dritten Reichs«
am Zweiten Weltkrieg. Obwohl die Strategie eines »parallelen Eroberungskrieges«, bei dem Italien bewusst mit Deutschland
Schritt halten sollte, rasch scheiterte, konnte das Regime des Duce
doch Südfrankreich und (mit deutscher Hilfe) einen Großteil
Griechenlands und Jugoslawiens (April 1941) besetzen. Es nahm
am nationalsozialistischen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion
teil und kämpfte in Nordafrika fast drei Jahre lang intensiv gegen
die Alliierten.9 Nach dem Sturz Mussolinis am 25. Juli 1943 verblieb das Land unter der Führung von Marschall Badoglio zwar
noch weitere 45 Tage an der Seite Berlins, bereitete unter der
Hand allerdings bereits die Kapitulation vor. Nach Ausrufung des
Waffenstillstands am 8. September wechselte Italien die Fronten.
Doch während die Partisanen ihren Widerstand ausweiteten, entstand in Norditalien die Repubblica Sociale Italiana mit dem
Duce an der Spitze, ein faschistisches Regime, von den Deutschen
eingesetzt und bis zum endgültigen Zusammenbruch im Frühjahr
1945 unterstützt.
Hält man sich all dies vor Augen, wird deutlich, inwiefern der
»italienische Weg«, die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu
konstruieren, einen besonderen Verlauf genommen hat. Auch
wenn er zu ähnlichen Ergebnissen geführt hat wie in anderen Ländern, die von den Deutschen angegriffen wurden, ist er doch singulär. Und er ist, aufgrund der historischen Rolle, die der Faschismus spielte, und aufgrund des keinesfalls nachrangigen Anteils,
den das Land an den Kriegshandlungen hatte, auch nicht mit dem
Weg der sogenannten kleineren Verbündeten (Bulgarien, Ungarn,
Rumänien, Finnland) zu vergleichen. Im italienischen Fall ging es
nicht nur darum, Rechenschaft über Kollaboration und Bürgerkrieg abzulegen, wie Judt annimmt, sondern den historischen Ort
eines immerhin zwanzig Jahre währenden autoritären Regimes zu
bestimmen, das von vielen Vertretern der Rechte innerhalb und
außerhalb Europas als Vorbild betrachtet wurde. Ein Regime, das
sich mit dem nationalsozialistischen Deutschland zusammentat,
um die europäische Ordnung umzuwälzen, und für Aktionen ver-
12
Einleitung
antwortlich war, die die internationale Politik torpedierten. Ein
Regime, das als Hauptverbündeter des Dritten Reichs und Japans
am Zweiten Weltkrieg teilnahm, drei Jahre lang einen Angriffskrieg gegen demokratische Staaten führte und zahlreiche wehrlose Länder besetzte, wo es sich – speziell auf dem Balkan – schwerer Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung schuldig machte.
Indem es die Motive, Gründe und Bedingungen im Einzelnen
untersucht, möchte dieses Buch die besondere Art und Weise darstellen, mit der eine solche Deutung des Zweiten Weltkrieg zum
Fundament der nationalen öffentlichen Erinnerung wurde (master narrative).10 Mit anderen Worten: Es ist der Versuch zu zeigen,
wie die beiden »Säulen« der europäischen Erzählung des Krieges,
von Tony Judt skizziert, in Italien weiterentwickelt und abgewandelt worden sind: die Schuldzuweisung an die Deutschen und die
Konstruktion des Widerstandsmythos.
Zweifellos hat das Bild des »bösen Deutschen« auch in Italien
eine wichtige Funktion für die Erinnerung an den Krieg gespielt,
in enger (jedoch nicht ausschließlicher) Verbindung zu jener Überhöhung des Widerstands, wie sie von verschiedenen politischen
Lagern innerhalb des Antifaschismus bewerkstelligt worden ist.
Jens Petersen, der deutsche Historiker, der sich am stärksten mit
den Mechanismen der wechselseitigen Wahrnehmung zwischen
Italien und Deutschland beschäftigt, hat von einem »negativen
und apokalyptischen Stereotyp des Deutschen« gesprochen, das
mit der Geschichtsschreibung der Resistenza verbunden sei.11 Ein
ähnlicher Standpunkt wird von Antonio Missiroli vertreten, demzufolge es speziell die Resistenza war, die die »entscheidende Prägung« für jene Sichtweise auf die Deutschen gewesen sei, wie sie,
getragen von Misstrauen und Anklage, nach 1945 vorherrschend
wurde.12 Enzo Collotti, der wohl angesehenste Experte für das
zeitgenössische Deutschland, hat hingegen auf das zähe Engagement gerade der »besten Vertreter« des Antifaschismus verwiesen, zwischen dem deutschen Volk und dem nationalsozialistischen Regime zu unterscheiden. Dennoch hat auch er es nicht
unterlassen hervorzuheben, auf welche Weise die schrecklichen
Kriegsereignisse und die nationalsozialistische Besatzung in der
öffentlichen Meinung ein negatives Bild der Deutschen erzeugt
haben, das während der 1950er Jahre aufgrund der Ängste rund
um die deutsche Wiederbewaffnung wiederauflebte.13 Geprägt
Einleitung
13
von den dämonisierenden Zügen der Kriegspropaganda, die sich
gegen den »nationalsozialistischen Unmenschen« und den »barbarischen Besatzer« richtete, vermochte dieses Bild lange Zeit die
kollektive Vorstellungswelt zu beherrschen, trotz der zahlreichen
Bemühungen von Seiten vieler gebildeter Menschen (unter ihnen
an vorderster Stelle Collotti selbst), nach 1945 das »andere
Deutschland« wiederzuentdecken und bekanntzumachen, ein demokratisches, antifaschistisches und von den Braunhemden verfolgtes Deutschland.14
Das Klischee des »bösen Deutschen«, das in ganz Europa verbreitet ist, ist kein isolierter Faktor, der die öffentliche Erinnerung
und die Gedankenwelt der Italiener nach dem Ende des Krieges
kennzeichnet.15 Tatsächlich ist dieses Klischee von Anfang an mit
seiner spiegelbildlichen Entsprechung, dem Bild des »guten Italieners«, verbunden gewesen. Dem düsteren Klischee des deutschen
Soldaten als diszipliniertem und blutrünstigem Kämpfer, als unnachsichtigem und sadistischem Unterdrücker Wehrloser, wurde
das normative Bild des italienischen Soldaten gegenübergestellt,
der den Krieg zutiefst verachtete und sich weigerte, Gewalttaten
und Übergriffe auszuführen, der bereit war, sich mit der wehrlosen Zivilbevölkerung zu solidarisieren und ihr zu helfen – sogar
als Besatzungssoldat. Die gleiche spiegelbildliche Entsprechung
wurde für die Beschreibung der beiden Regime und der beiden
Völker verwendet.16 Dem niederträchtigen »Angesicht« des deutschen Soldaten entsprach die einflussreiche Darstellung des dämonischen »Angesichts« des nationalsozialistischen Deutschlands, gewissermaßen Ausdruck einer perfekten Verbindung
zwischen dem Hitlerregime und dem ideologisierten und fanatischen deutschen Volk. Dagegen entsprach das positive Bild des
»guten« italienischen Soldaten dem Bild des italienischen Volks
als Opfer des Faschismus und des ungeliebten, von Mussolini herbeigeführten Krieges, das, ebenso wie seine Soldaten, von einer
angeborenen Gutherzigkeit und der christlichen Bereitschaft zur
Nächstenliebe geprägt war. Tugenden, wie sie sich etwa in der
Hilfe für verfolgte Juden ausdrückten, die von den Faschisten
zwar rechtlich diskriminiert, von den hemmungslosen deutschen
Verbündeten jedoch der Vernichtung preisgegeben wurden.17
Die miteinander verflochtene Darstellung des »bösen Deutschen« und des »guten Italieners« wurde so zur dominierenden
14
Einleitung
Lesart, mit deren Hilfe sich das nationale Gedenken an den Krieg
nicht nur auf der Ebene der politischen und kulturellen Eliten,
sondern auch in der Populär- und Massenkultur, in Illustrierten,
Kinofilmen, Fernsehen und Schlagern, ausformte. Dieses Narrativ
erschien als einziges verbindendes Element angesichts der vielen
»zerbrochenen Erinnerungen«18, die, oftmals »unvereinbar« und
»antagonistisch«19, von den unterschiedlichen Kriegserfahrungen
der Italiener herrührten, vor allem nach der dramatischen Kehrtwende des 8. September 1943. Der revisionistischen, von der Niederlage geprägten Erinnerungspolitik der faschistischen Republik
von Salò, einer Erzählung neofaschistischen Ursprungs20, wurde
die antifaschistische Erinnerung der Resistenza gegenübergestellt.
Sie war ihrerseits, im Großen wie im Kleinen, von zahlreichen
Brüchen gekennzeichnet, die mit regionalen Unterschieden, mit
internen Differenzen und widersprüchlichen Interpretationsansätzen der politischen und kulturellen Kräfte zu tun hatten.21
Überdies schufen die Erfahrungsräume an den verschiedenen
Fronten bei den Soldaten divergierende Erinnerungen, je nachdem ob sie beispielsweise am Don gegen die russische Armee, in
Nordafrika gegen die Truppen Montgomerys oder auf dem Balkan gegen Griechen und Jugoslawen kämpften.22 Ähnliches gilt
für die Erinnerungen an die Kriegsgefangenschaft: Die Erfahrung
der sogenannten internierten italienischen Militärs (IMI), die
nach dem Waffenstillstand23 in die Hände der Deutschen gerieten,
hat Spuren hinterlassen, die sich von denen der Soldaten, die von
den Alliierten gefangengenommen wurden, erheblich unterscheiden.24 Beide Gruppen waren dabei von der Frage bestimmt, entweder mit Mussolini zusammenzuarbeiten oder mit der Völkergemeinschaft, aber auch von den materiellen Bedingungen der
Kriegsgefangenschaft. In ähnlicher Weise hat auch die Gewalt
gegen Zivilisten eine Bandbreite sehr unterschiedlicher Erinnerungen erzeugt: Bei Menschen, die aus rassischen oder politischen
Gründen verfolgt wurden, andere als bei Opfern von Razzien und
blutigen Übergriffen der Nazifaschisten, Opfern der Bombenangriffe und der Vergewaltigungen der Alliierten, Opfern der »Foibe-Massaker« oder der Vertreibung aus Istrien und Dalmatien.25
Es handelt sich um ein verworrenes Universum aus individuellen
und kollektiven Erfahrungen und Erinnerungen, für das, von der
historischen Wasserscheide des 8. September beeinflusst, der My-
Einleitung
15
thos des »guten Italieners« und der des spiegelbildlich »bösen
Deutschen« gewissermaßen den kleinsten gemeinsamen Nenner
darstellt, auf dem das nationale Gedenken an den Krieg ruhte. Es
bildete den Hauptbezugspunkt aller Identitätsdebatten und erfreute sich außerordentlicher Langlebigkeit.
Aber wie ist das Begriffspaar »böser Deutscher« und »guter
Italiener« überhaupt entstanden? Wann hat diese Entwicklung
begonnen? Wer hat an ihr mitgewirkt, und aus welchen Gründen?
Unsere Hypothese lautet, dass das Fundament hierfür in der Phase zwischen der Ausrufung des Waffenstillstandes im September
1943 und den ersten beiden Nachkriegsjahren bis 1947 gelegt
worden ist – eine historisch bedeutsame Phase, in der der Friedensvertrag vorbereitet und ausgehandelt wurde (und die zugleich
mit den Gründungsjahren der Republik zusammenfällt). Die
Grundlage bildeten politische Notwendigkeiten, die sowohl von
der Antifaschistischen Front als auch von der Krone und der Regierung Badoglio geteilt wurden, ebenso wie von den verschiedenen, an die Parteien des CLN gebundenen politischen Kräften.
Allesamt hatten sie sich die Unterscheidung zwischen Italien und
Deutschland zum Zwecke der politischen Selbstlegitimierung, der
militärischen Aufrüstung und vor allem des Schutzes nationaler
Interessen zunutze gemacht, ganz wie es die Propaganda der Alliierten bereits seit Kriegsbeginn getan hatte. Die Slogans der Sendungen von Radio London und der von den angloamerikanischen
Flugzeugen abgeworfenen Flugblätter, die den Achsenkrieg als
einen von den Italienern ungeliebten, von Mussolini und den
Deutschen aufgezwungenen Krieg darstellten, wurden prompt
weiterverwendet.
Die ebenso grundlegende wie berechtigte Sorge des monarchischen Establishments und der antifaschistischen politischen Eliten
bestand darin, Italien, das als Verlierer aus dem Krieg hervorgegangen war, einen harten Friedensvertrag zu ersparen. Alle Regierungen der nationalen Einheit, wie sie aus der Verbindung von
CLN und Monarchie im Frühjahr 1944 entstanden war, folgten
dabei dem Kurs der ersten Badoglio-Regierung, die italienischen
Verdienste im Krieg gegen Deutschland in den Mittelpunkt zu rücken. Mittels dieser Strategie sollte der ambivalente Status als
kriegführendes Land überwunden, die Aufnahme in die Vereinten
Nationen bewerkstelligt oder, nachdem dieser Versuch gescheitert
16
Einleitung
war, zumindest eine drakonische Behandlung von Seiten der Siegermächte abgewehrt werden. Dies schlägt sich in einer beeindruckenden Aktivität auf allen Ebenen der Kommunikation (Radio,
Presse, Werbung, Memoiren, Ausstellungen, Kino und Literatur)
nieder, die einerseits darauf zielte, die Resistenza als erfolgreichen
Kampf für die Unabhängigkeit des gesamten italienischen Volkes
und Urheber eines »zweiten Risorgimentos« hervorzuheben und
andererseits eine klare Trennlinie zwischen dem militärischen Gebaren Italiens und dem des »barbarischen nationalsozialistischen
Deutschlands« zu ziehen, dem die gesamte Verantwortung für die
von den Achsenmächten begangenen Verbrechen zugeschoben
wurde. Dem Bild des verabscheuenswürdigen deutschen Soldaten, der für Übergriffe und Gewalttaten aller Art verantwortlich
war, wurde das Bild des guten, ja humanen italienischen Soldaten
gegenübergestellt, der sich, wenn auch in der Gestalt des Aggressors, für die Rettung der Juden und für die Unterstützung der von
seinem deutschen »Kameraden« bedrohten Zivilbevölkerung aufopferte. Auf diese Weise entstand eine »dominante Erzählweise«,
bei der die Beteiligung des italienischen Volkes am Faschismus
und die Verantwortung des Landes im faschistischen Krieg und
seinen zahlreichen Verbrechen, die vor allem auf dem Balkan begangen wurden, verschwiegen, verharmlost oder geleugnet wurden. Die ablehnende Haltung, die das italienische Volk angeblich
gegenüber Mussolinis Krieg eingenommen habe und die Gegenüberstellung seiner Verdienste sowie der Freveltaten des nationalsozialistischen Deutschlands wurden auch von der unpolitischen
Rechten beansprucht, die auf diese Weise dazu beitrug, die Fundamente eines kollektiven Selbstbewusstseins zu legen, das sich
auf den Vergleich zwischen dem italienischen und dem deutschen
Fall und der nachfolgenden Relativierung der italienischen Schuld
gründete. Die Tatsache, dass es kein »italienisches Nürnberg« gegeben hat, also keine bewusste strafrechtliche Verfolgung der italienischen Kriegsverbrechen, sanktionierte dieses Ergebnis.
Die Unterscheidung zwischen Italien und Deutschland und die
Gegenüberstellung von »bösem Deutschen« und »gutem Italiener« stützte sich auf einige durchaus historisch begründete Fakten: Die Häufung der Gräueltaten und Verbrechen, die auf den
Schultern der Deutschen lastete, war nicht vergleichbar mit dem,
was sich die Italiener vorzuwerfen hatten. Sie hatten sich während
Einleitung
17
des Krieges zwar zahlreicher Verbrechen, jedoch nicht des Völkermordes schuldig gemacht. Ebenso hatten die Truppen des königlichen Heeres in den besetzten Ländern tatsächlich Tausende vom
Tod durch den deutschen Verbündeten und die kroatische Ustascha bedrohten Juden und Serben unterstützt und gerettet. Hinter
dem Stereotyp steckte also ein Stückchen Wahrheit. Allerdings
diente das Stereotyp dazu, eine Seite der Medaille zu verdecken,
die zwar nicht über die Maßen bedeutsam, aber deutlich unerfreulicher war: die Beteiligung etlicher Italiener am »imperialistischen Krieg« des Faschismus und die zahlreichen Kriegsverbrechen, die in den besetzten Gebieten von den Schwarzhemden und
vom königlichen Heer an Partisanen und Zivilpersonen begangen
wurden. Dies gilt auch für die Beteiligung an der Judenverfolgung
durch die Deutschen nicht allein von Seiten der Regierung von
Salò nach 1943, sondern bereits zuvor durch die italienischen
Streitmächte in Russland und auf dem Balkan. Dort hatten sich
zwar viele Italiener als »Judenretter« hervorgetan, nicht wenige
jedoch auch ihr »böses Gesicht« gezeigt, indem sie sich bereitwillig an den Verfolgten bereicherten oder sie sogar dem deutschen
Henker auslieferten.
»Es macht jedoch das Wesen einer Nation aus, dass alle Individuen etwas miteinander gemein haben, auch, dass sie viele Dinge
vergessen haben«, stellte Ernest Renan fest.26 Das Doppelporträt
des »guten Italieners« und des »bösen Deutschen« hat sich zu einem gemeinsamen Erinnerungsvermächtnis verdichtet, allerdings
auch dazu beigetragen, dass viele Ereignisse der Nationalgeschichte dem Vergessen anheim fielen und so die unangenehmen,
beklagenswerten Seiten der italienischen Vergangenheit verdeckt
wurden. An der Entstehung dieses Bildes wirkten viele Akteure
ganz unterschiedlicher Couleur mit, deren Motivation breitgefächert war: zunächst die Alliierten mit ihrer Propaganda, die darauf gerichtet war, den inneren Zusammenbruch der faschistischen
Diktatur und einen Austritt Italiens aus dem Achsenkrieg herbeizuführen. Sodann die Monarchie und der institutionelle Apparat
von Armee und Diplomatie, die, wenngleich am Regime und dessen militärischen Abenteuern beteiligt, nach dem 8. September die
»antideutsche Karte« gewiss auch zum Wohle des Landes zogen,
in erster Linie jedoch aus offensichtlich opportunistischen Gründen, wollten sie doch ihr eigenes Schicksal (durchaus auch im
18
Einleitung
persönlichen Sinn, um bei Badoglio anzufangen) von dem des geschlagenen monarchistisch-faschistischen Italien abtrennen. Darüber hinaus die mit einer ganz anderen moralischen und politischen Glaubwürdigkeit auftretenden Vertreter von Antifaschismus
und Restistenza, die vordergründig mit dem erbitterten Kampf
gegen den deutschen Besatzer und den »alten« Feind im Schwarzhemd beschäftigt waren, sich aber, zumal sie in die Regierungsverantwortung gezogen wurden, zugleich um das Schicksal ihres
Landes und darüber hinaus um ihre eigene politische Legitimation sorgten, die durch einen möglichen »entstellten Frieden« zunichte gemacht werden drohte, was sich durch eine Welle des
reaktionären Nationalismus ankündigte. Und schließlich die unpolitische Rechte, die (sich selbst gegenüber) nachsichtig mit der
eigenen faschistischen Vergangenheit umging und es ebenfalls für
notwendig erachtete, die Verantwortung Italiens von der des ehemaligen deutschen Verbündeten zu separieren, um einen Straffrieden zu vermeiden, und die ebenso wie der König und Badoglio
dazu tendierte, die Last der Schuld, die in erster Linie mit dem
Tatbestand gleichgesetzt wurde, das Schicksal Italiens leichthin
mit dem des deutschen Reiches verknüpft zu haben, auf Mussolini und seine Parteifunktionäre abzuladen. Das exkulpatorische
und selbstvergewissernde Bild des »guten Italieners«, das aus dem
Zusammentreffen dieser unterschiedlichen Faktoren hervorging,
entsprach nichtsdestoweniger den psychologischen Notwendigkeiten des Landes, das auf diese Weise nach vorne schauen und
die schwierige Aufgabe des Wiederaufbaus beginnen konnte, und
zwar ohne die Last irgendeiner Schande aus der eigenen Vergangenheit, in der es viele »dunkle Seiten« und Wunden gab, die der
mildernden Behandlung des Vergessens anheimgegeben wurden.
Mitte der 1970er Jahre richtete Giorgio Amendola, einer der
Hauptvertreter der Resistenza und der kommunistischen Partei
PCI, den Blick erneut auf die »drei Hauptziele«, die die Basis der
antifaschistischen Einheitsallianz während des Krieges gebildet
hatten, und wies sie als »eigenständige Beteiligung Italiens an seiner Befreiung«, als »Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung« und wegweisend für die »Unterzeichnung eines Friedensvertrages« aus, der Italien aus dem Zustand eines besiegten
Landes herausbringen sollte.27 Neben dem Ziel, auf diesen neuen
demokratischen Fundamenten den Pakt der Bürgerschaft zu grün-
Einleitung
19
den, unterstrich Amendola die militärische Anstrengung für die
Unabhängigkeit des Landes und seine internationale Befreiung als
grundlegende Motive für die antifaschistische Zusammenarbeit.
Meiner Auffassung nach waren es die gleichen Erfordernisse im
Zusammenhang mit der militärischen Mobilmachung gegen
Deutschland und vor allem mit der Wahrung der nationalen Interessen, die das Hauptmotiv dafür bildeten, im Prozess des Wiederaufbaus eine ganz bestimmte öffentliche Erinnerung an Krieg
und Resistenza zu formen, die die Wahrnehmung der beiden Jahrzehnte des faschistischen Regimes erfasste und prägte. Die Geschichtsschreibung, allen voran die italienische, die sich mit diesen Themen befasst hat, orientierte sich bislang an anderen
Interpretationsansätzen, die den internationalen Kontext bis auf
wenige Ausnahmen28 gar nicht oder nur nachrangig betrachtete.
Dies liegt möglicherweise an der in Italien nach wie vor gängigen
strikten Trennung zwischen dem Forschungsgebiet der Zeitgeschichte und dem der Geschichte der internationalen Beziehungen, die zwei verschiedenen Fachbereichen zugeordnet sind. Mehr
ins Gewicht fällt hier jedoch vermutlich das grundsätzlich mangelnde Interesse von Wissenschaft und öffentlicher Meinung an
den verschiedenen Aspekten des Friedensvertrags, denen erst in
den letzten Jahren gebührende Aufmerksamkeit zuteil geworden
ist.29
Wenn man die zahlreichen, auf einzelne, durchaus wichtige
Themen ausgerichteten Studien zur italienischen Erinnerung an
den Krieg (etwa Resistenza, Kriegsgefangenschaft, Deportationen, nationalsozialistische Gräueltaten, Erfahrungen an den verschiedenen Kriegsfronten, Bombardements durch die Alliierten,
Foibe-Massaker, Erinnerung der Frauen) einmal außer acht lässt,
so ist festzustellen, dass in allgemeineren Darstellungen der Fokus
eher auf die Akteure und die Mechanismen der Konstruktion von
Erinnerung im Sinne einer Aufarbeitung und Überwindung der
Vergangenheit gerichtet sind, wie sie die innere Dynamik des Landes erforderte. Diesem Ansatz entsprechend verfügen wir über
herausragende, auch vergleichende Arbeiten zur Rolle der Parteien und der politischen Milieus30, der Intellektuellen31, der Neudefinition des nationalen Feiertagskalenders32, zur Erinnerung wie
sie von Zeitschriften33 oder in Traueransprachen überliefert
wird.34
20
Einleitung
Ein grundlegender Interpretationsansatz vieler dieser Studien
führt die Definition der etablierten nationalen Erinnerung, also
die Verdrängung des Konsenses mit dem Faschismus und die Weigerung, die Resistenza als Bürgerkrieg zu betrachten, auf die
drängenden Notwendigkeiten der politischen Legitimierung der
antifaschistischen Parteien zurück. Diese hätten – im Bewusstsein
des Grads an Zustimmung der Bevölkerung zum Regime, der
Grenzen der Resistenza und auch deren bürgerkriegsähnlichen
Charakters – eine ungeschminkte Bilanzierung der Vergangenheit
verhindert, weil dies zu einer Erschütterung in der Gesellschaft
geführt und dem Konsens der Wählerschaft geschadet hätte.
Stattdessen vertraten sie die Idee, die Italiener hätten den Faschismus einhellig abgelehnt, stellten sich also gleichsam als Vertreter
eines unschuldigen Volkes dar, als Hauptakteure eines siegreichen
Kriegs der nationalen Befreiung unter antifaschistischer Führung.
Pier Giorgio Zunino hat in einem der sorgfältigsten Essays zum
»Gründungsmythos« von der »Resistenza als Revolution des Volkes gegen äußere und innere Barbaren« gesprochen und sie als
einen »obligatorischen Übergang« für die antifaschistischen Kräfte beurteilt.35 Seinem Urteil nach gelte dies gleichfalls für den
zweiten, damit verbundenen Gründungsmythos der republikanischen Erinnerung, wonach der Faschismus, wie Croce meinte,
gleichsam als Parenthese in der Geschichte zu sehen sei – ein »notwendiger Schwindel«, den man angenommen habe, um das Bewusstsein der Italiener nicht zu erschüttern und mit dem Wiederaufbau des Landes ohne Traumata beginnen zu können.36 Die
These der Verdrängung hat dagegen eine stark polemische Aufladung bei jenen Vertretern der historischen Forschung erfahren,
die sich seit Ernesto Galli della Loggia und Renzo de Felice37 selektiv auf die kommunistische Partei konzentrierten, die beschuldigt wird, den Mythos der Resistenza (»ein Volk in den Wäldern«)
erfunden zu haben, um sich als nationale und demokratische
Kraft zu etablieren und zugleich die engen ideologischen und politischen Verbindungen mit Moskau zu verheimlichen. Als Reaktion auf diese Positionen unterstrich Gianni Oliva den instrumentellen Gebrauch dieses Mythos, der nicht nur von der Linken
befördert wurde, um ihre politische Selbstlegitimierung zu befördern, sondern vor allem von denjenigen moderaten Kräften, die
daran interessiert waren, die Beteiligung des italienischen Volkes
Einleitung
21
am Regime (vor allem die engmaschige Verknüpfung mit den politischen und wirtschaftlichen Eliten) herunterzuspielen, indem
alle Schuld Mussolini und seinen treuesten Anhängern zugeschrieben wurde. So wurde ein politischer Übergang ermöglicht, der
durch einen milden Säuberungsprozess ohne traumatische Erlebnisse verlief.38
Auch Leonardo Paggi hat sich eingehend mit dem bewussten
Prozess des Vergessens befasst, wobei er die Mängel im kollektiven republikanischen, auf dem Antifaschismus basierenden Gedächtnis unterstrich, das unfähig sei, wichtige Aspekte der Kriegserfahrung einzubeziehen, die in lokale oder familiäre Erinnerungen
eingebunden sind, (die Oral History erwarb sich hier große Verdienste), wie die »geteilten Erinnerungen« an die nationalsozialistischen Blutbäder, die Erinnerung an die Foibe-Massaker, die
Bombenangriffe der Alliierten sowie die besonderen Erinnerungen in Süditalien.39 Das Paradigma der »versäumten Gewissensbefragung« wird von Guri Schwarz in seiner innovativen Studie
über Trauerrituale und -rhetorik aufgegriffen, wobei er den Fokus
seines Interesses – wie schon zuvor Paggi – von den Institutionen
und Parteien auf Einzelpersonen und Familien verschiebt.40 Der
Autor hebt die Schwächen des traditionellen kulturellen Codes
hervor, der den Heldentod für das Vaterland verherrlichte. Von
den neuen Institutionen und Parteien des CLN (Comitato di Liberazione Nazionale) unter antifaschistischem Vorzeichen übernommen, wurde er gewissermaßen von unten durch neue Rituale
konterkariert, die die unschuldigen Opfer des totalen Kriegs
durch die Deutschen oder die Alliierten in den Mittelpunkt stellten. Der daraus resultierende Übergang vom Helden- zum Märtyrerkult habe zu einem »Sühnepatriotismus«41 geführt, der sich
durch eine stark christliche Kulturprägung auszeichne, demzufolge der Schmerz und das Unglück, das die Nation im Krieg zu erleiden hatte, als moralisches Lösegeld (»Wiederauferstehung«)
für das Freikaufen von der Schuld durch den Faschismus herhalten konnte, die auf diese Weise ad acta gelegt wurde.42
Einige wichtige Arbeiten jüngeren Datums haben das Paradigma der »versäumten Gewissensbefragung« kritisch unter die
Lupe genommen. Mariuccia Salvati etwa konnte in den Blättern
der antifaschistischen römischen Presse die Entstehung einer Reflexion über das »schwerwiegende Erbe des Faschismus« ausma-
22
Einleitung
chen, die zwischen der Befreiung der Hauptstadt (Juni 1944) und
dem Ende des Konflikts in Italien (April-Mai 1945) geführt wurde.43 Für Salvati ist die »angeschobene Reflexion über die politische und moralische Schuld des Faschismus« durch die »Entdeckung der Grausamkeit der von den Faschisten der RSI, die mit
den Deutschen verbündet waren, sowie dem Heldentum der italienischen Widerständler« an untergeordnete Stelle gerückt worden. Nach dem 25. April habe dieses Heldentum die faschistische
Schuld »ausgewaschen oder zumindest verdunkelt«. In seiner inhaltsreichen Arbeit über die italienischen Intellektuellen und Jugendlichen im Übergang zum Postfaschismus spricht Luca La Rovere von einer aufrichtigen und angemessenen italienischen
Debatte »über Schuld«, die am Tag nach dem 25. Juli 1943 begann und über die Zeit der Befreiung hinausging.44 Gemeinsam
mit dem »Mythos des Antifaschismus« habe sich dem Autor zufolge ein »Anti-Mythos« entwickelt, der sich auf die Anklage einer »tiefen Verbindung zwischen der italienischen Gesellschaft
und dem System der totalitären Macht« als notwendiger Akt für
eine wahrhaft demokratische Erneuerung des Landes stützte.45
Die »Gewissensbefragung« zur Vergangenheit sei von Seiten der
Antifaschisten angesichts des Aufkommens von Volksprotesten
gegen Säuberungen unterbrochen worden, die ein Zeichen dafür
gewesen seien, wie verzweigt die »Verbindungen« tatsächlich waren.46 Nur sei damals der »Anti-Mythos« der Schuld zerbröckelt,
um den Weg für einen tröstlichen antifaschistischen Mythos von
der Unschuld des italienischen Volkes freizumachen.
Sowohl Salvati als auch La Rovere leugnen demnach nicht das
rasche Überwiegen eines Verdrängungsmechanismus der Schuld,
sehen ihn jedoch als das Ergebnis eines Prozesses gegenläufiger
Versuche, über die faschistische Vergangenheit Rechenschaft abzulegen, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit aus innenpolitischen Gründen ausgesetzt wurde. Dass es derartige Bemühungen
gegeben hat, ist nicht zu leugnen, und es darf als das Verdienst der
beiden Autoren angesehen werden, sie ans Licht gebracht und
gründlich untersucht zu haben. Ebenso wichtig ist es jedoch zu
fragen, weshalb diese hellsichtig und ehrlich von ihren Initiatoren
unternommenen Bemühungen einer Abrechnung keinerlei Spuren
in der kollektiven Erzählung des Krieges hinterlassen haben, die
– es sei nochmals betont – seit 1940 maßgeblich von einer effizi-
Einleitung
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enten Kriegspropaganda durch die Alliierten beeinflusst war und
nach dem Waffenstillstand vor allem durch die Erfordernisse der
Mobilisierung und der Verteidigung nationaler Interessen geprägt
wurde. Das Ergebnis des ›Spiels‹ zwischen dem »Anti-Mythos«
der Schuld und dem Mythos der Unschuld des italienischen Volkes war also schon von Beginn an vorgegeben. Die Stimme dieser
»Gruppe von Intellektuellen«, die in der »kleineren Publizistik«
– um die Worte La Roveres47 zu verwenden – versuchte, mit dem
Faschismus abzurechnen, musste von den ersten Auseinandersetzungen an mit ungleichen Waffen gegen das propagandistische
Kriegstrommeln kämpfen, das das Land zum Kampf gegen die
Deutschen aufrief und die antifaschistische Reinheit des italienischen Volkes beteuerte.
Wie alle großen Konflikte der Geschichte hat auch der Zweite
Weltkrieg einen »konstituierenden« Effekt nicht nur auf die Struktur der internationalen Ordnung48 und die politische Ordnung der
einzelnen Länder gehabt, sondern auch auf die nationalen Selbstdarstellungen und auf die Erinnerungen an den Krieg, die diese
Darstellungen befördert haben. Wie im Rest Europas hat der Krieg
auch in Italien ein »perverses Erbe« hinterlassen, das sich hinter
dem gutwilligen und selbstzufriedenen Anschein des »guten Italieners« versteckte und im Vergleich zur düsteren Gestalt des »bösen
Deutschen« noch hervorgehoben wurde. Das Ausmaß der von den
Deutschen während des Kriegs verübten Verbrechen und Gewalttaten ist zweifellos nicht mit denen des italienischen Verbündeten
zu vergleichen. Die humanitären Verdienste der vielen Italiener, die
sich aufgeopfert haben, um vom Tode bedrohten Juden zu helfen,
sind nicht erfunden, ebenso wenig wie das Verdienst, gegen den
Nazifaschismus und für die Freiheit gekämpft zu haben. Ein kollektives Erinnern aufzubauen und zu nähren, das auf der Gegenüberstellung zwischen »bösem Deutschen« und »gutem Italiener«
beruht, hat jedoch den Effekt, dass bis heute kein kritisches Bewusstsein darüber entstehen konnte, welche Bedeutung der Faschismus – auch über Italien hinaus – tatsächlich hatte. Die deutsche Niederträchtigkeit hat, gewollt oder ungewollt, als perfektes
Alibi gedient und es erlaubt, eine öffentliche Reflexion über die
faschistische Gewalt in ihrer Gesamtheit zu vermeiden: die rassistische und antisemitische Politik, die Expansionsvorhaben, die militärischen Besatzungen, die Kriegsrepressionen und -verbrechen.
24
Einleitung
Die italienische und die internationale Geschichtsschreibung haben in den letzten Jahren deutliche Fortschritte gemacht, um die
Wissenslücken zum faschistischen Regime und seinen Kriegen zu
schließen und dabei auch den Schleier über lang verschwiegenen
und verdrängten Aspekten gelüftet.49 Der Ansatz dieses Buches ist
es, die Entstehung dieses eingeschränkten und zurückhaltenden
italienischen Nachkriegserinnerns zu untersuchen und so ein sachlich besser untermauertes und verantwortungsvolleres historisches
Bewusstsein zu fördern, mit dem sich die abgenutzten Mythen
überwinden lassen.
I
Italien und der Achsenkrieg in der
Propaganda der Alliierten
Am 16. Juli 1943, wenige Tage vor der Landung der alliierten
Truppen auf Sizilien, übermittelten der amerikanische Präsident
Roosevelt und der britische Premierminister Churchill über Radio
Algeri dem italienischen Volk eine wichtige Botschaft.1 Der Krieg,
der Italien zu zerreißen drohte – so behaupteten sie –, sei »die direkte Folge der beschämenden Regierung«, die den Italienern
»von Mussolini und seinem faschistischem Regime aufgezwungen« worden sei. In der Überzeugung, Hitler halte den Sieg längst
in der Hand, habe Mussolini die Italiener leichtfertig als »Satelliten« des Führers, jenes »brutalen Zerstörers der Völker und der
Freiheit«, in den Krieg gestürzt. Die »faschistischen Capos« hatten demnach das militärisch gänzlich unvorbereitete Italien, den
Angriffen der Feinde schutzlos ausgeliefert, in den Dienst des
Dritten Reichs gestellt, um diesem bei der Eroberung der Weltherrschaft behilflich zu sein. Das enge Bündnis mit Nazideutschland, wetterten die beiden alliierten Staatsmänner, sei »den alten
italienischen Traditionen von Freiheit und Kultur«, die dem britischen ebenso wie dem US-amerikanischen Volk gleichermaßen
am Herzen lägen, nicht würdig gewesen. Die italienischen Soldaten hätten zwar »mutig« gekämpft, aber zum alleinigen Vorteil
des deutschen Bündnispartners, der sie zum Dank »an der russischen Front und auf jedem afrikanischen Schlachtfeld, von El
Alamein bis zum Kap Bon, verraten und im Stich gelassen« habe.
Vor diesem Hintergrund richteten Roosevelt und Churchill einen
ebenso großmütigen wie dringlichen Appell an das italienische
Volk. Die alliierten Mächte wollten nicht die Italiener bestrafen,
sondern nur die »falschen Anführer mit ihren Lehren, die Italien
in die jetzige Situation gebracht« hätten. Es sei vergeblich und
sinnlos, weiter das eigene Blut zu vergießen. Durch den Faschismus in den Krieg gezwungen, um der »bösen Macht der Nationalsozialisten« zu dienen, von der »außerordentlichen militäri-
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I Italien und der Achsenkrieg
sche Macht« der Alliierten besetzt und zerquetscht, bleibe Italien
nur noch eine einzige Möglichkeit, heil aus der Sache herauszukommen: indem es sofort »ehrenvoll kapituliere«.
All eure Interessen und all eure Traditionen wurden vom nationalsozialistischen Deutschland verraten, und auch von euren eigenen falschen und korrupten Anführern; nur wenn das eine wie die anderen
zunichtegemacht sind, darf ein neues Italien darauf hoffen, einen
respektablen Platz in der Familie der europäischen Nationen wiederzufinden. Dies ist der Moment für euch, Italiener, euch auf euch
selbst zu besinnen, auf eure Interessen und euren Wunsch, wieder zu
nationaler Würde zu gelangen, zu Sicherheit und Frieden; die Zeit ist
gekommen euch zu entscheiden, ob die Italiener für Mussolini und
Hitler sterben, oder für Italien und die Zivilisation leben sollen.
Tausendfach wurden die Flugblätter über Sizilien und den größten italienischen Städten abgeworfen, unter anderem am 17. Juli
über Rom.2 Die Botschaft von Churchill und Roosevelt enthielt
Formulierungen und Themen, von denen die Propaganda der Alliierten in den vorangegangenen Jahren schon hinlänglich Gebrauch gemacht hatte. Dabei wurde eine Trennlinie zwischen dem
italienischen Volk und dem faschistischen Regime gezogen, indem letzterem die alleinige Verantwortung für den Krieg zugesprochen wurde. Deutschland erschien dementsprechend als falscher Freund, dem es nur um die eigenen Interessen gegangen sei
und der nicht gezögert habe, den unvorsichtigen italienischen
Mitläufer zu verraten.
Seit Kriegsbeginn hatten erst die britische, dann auch die sowjetische und die amerikanische Regierung in Italien das »schwächste Glied« der Achse ausgemacht und eine intensive PropagandaAktion in Gang gesetzt, um den inneren Zusammenbruch des
Landes und seinen Austritt aus dem Konflikt herbeizuführen.3
Im September 1940, rund drei Monate nach der italienischen
Kriegserklärung an Frankreich und Großbritannien, hatten das
Foreign Office und das britische Informationsministerium die allgemeinen Richtlinien für die englische Italien-Propaganda definiert, die für den ganzen weiteren Konflikt Gültigkeit behalten
sollten.4 Aus Sicht Londons hatte sich die Propaganda in erster
Linie »gegen das Regime« zu richten und nicht »gegen Italien«.
Die Mehrheit der Italiener galt als antifaschistisch und dem
»unpopulären Krieg« gegenüber ablehnend eingestellt. Man be-
I Italien und der Achsenkrieg
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fleißigte sich also, »alle Kriegsübel auf das faschistische Regime
abzuwälzen«, immer wieder zu betonen, die »faschistischen Anführer« seien nichts als »Haifische, die dem Volk das Blut ausgesaugt und den Profit eingestrichen« hätten, als wollten sie das
Land in den Ruin treiben, als seien sie »von den Deutschen gekauft« worden.5 Ein besonderes Augenmerk galt dabei der antideutschen »Karte«.6 Weil »die Italiener die Deutschen weniger
liebten als vielmehr fürchteten«, war es lediglich erforderlich, sich
auf diese »bereits vorhandene Empfindung zu konzentrieren«
und für die eigenen Zwecke einzusetzen. Dafür gab es viele Gründe, an die man nun anknüpfte. So gemahnte man etwa an die
»historischen Gründe« der antigermanischen Einstellung der Italiener und hielt ihnen vor Augen, dass sie gerade im Begriff seien,
»für Deutschland zu kämpfen«, wobei man betonte, wie sehr »die
italienische Zivilbevölkerung unter den Entbehrungen litt, unter
Geschäfts-, Arbeits- und Zahlungsverlust usw.; auch dass sie halb
am Verhungern war, lag ausschließlich an Deutschland«. Ebenso
die Tatsache, dass Italien im Falle eines Siegs der Achse »unter der
Schirmherrschaft des Reichs« verbleiben würde. Sogar die Verpflichtung zu einer antikatholischen Haltung durch das nationalsozialistische »Neoheidentum« wurde als nützliches Argument
benutzt, um das Misstrauen Italiens gegenüber dem mächtigen
Bündnispartner zu schüren und die innere Geschlossenheit des faschistischen Gegners zu erschüttern.7
Nicht anders als die britische war auch die Haltung der Amerikaner. Am Tag nach der Kriegserklärung Italiens an die USA Ende
Dezember 1941 waren Außenminister Cordell Hull und Präsident
Roosevelt übereingekommen, dass es möglich sei, Italien aus dem
Konflikt herauszulösen, noch bevor Deutschland und Japan kapitulierten. Um dies zu erreichen, hatten sie beschlossen, den Italienern gegenüber nicht jene Unerbittlichkeit an den Tag zu legen
wie gegenüber Deutschen und Japanern, die sie für weitaus gefährlicher und entschlossener hielten.8 Wichtig in diesem Zusammenhang ist ein Dokument, das die amerikanische Regierung
dem italienischen Botschafter in Washington, Ascanio Colonna,
in dem Moment übermittelte, als dieser im Begriff war, nach der
Kriegserklärung den eigenen Posten zu räumen.9 In dem Dokument hieß es, »die Vereinigten Staaten betrachten die italienische
Nation in einem vollkommen anderen Licht als das Deutsche
28
I Italien und der Achsenkrieg
Reich«; aus amerikanischer Sicht lag »kein umfassendes Ressentiment gegen Italien vor, wie man es Deutschland und Japan gegenüber hegte«. Die Amerikaner hatten tatsächlich keinerlei »Grund
für eine Fehde mit dem italienischen Volk«, meinten sie doch, es
sei »auf Befehl der Deutschen in den Krieg hineingezogen worden«. Das vom State Departement ausgearbeitete, an den »König
von Italien« und andere »wichtige Institutionen Italiens« gerichtete Dokument, in dem es darum ging, die Perspektive eines Separatfriedens zu eröffnen, nahm die Grundzüge der späteren amerikanischen Propaganda bereits vorweg. Sie wurde auf einen
freundlicheren Ton hin ausgerichtet, als es die englische Regierung tat. Im Unterschied zu London, das darauf bedacht war, keinerlei Zugeständnisse gegenüber einem gefürchteten Rivalen zu
machen, der ihm die Vormachtstellung im Mittelmeerraum hatte
streitig machen wollen, beharrte Washington weitaus mehr auf
der Möglichkeit, die Italiener könnten sich von ihrer faschistischen Vergangenheit lossagen und an der Seite der Alliierten für
die eigene Befreiung kämpfen.10 Dennoch stützte sich die amerikanische Propaganda auf denselben Grundsatz wie die britische,
ging es ihr doch darum, eine Trennlinie zwischen dem italienischem Volk und dem faschistischen Regime zu ziehen und die Unterordnung der italienischen unter die deutschen Interessen Mussolini und dessen Führungsriege zuzuschreiben. Beide alliierten
Partner zielten letztlich darauf ab, den inneritalienischen Konsens
zu unterminieren und die Festigkeit des deutsch-italienischen
Bündnisses ins Wanken zu bringen.
Die amerikanische Position fand Bestätigung in den allgemeinen Richtlinien für den »psychologischen Krieg« gegen Italien,
die die Regierung im Januar 1943 ausarbeiten ließ, zu einem Zeitpunkt also, da es kaum mehr Zweifel an der bevorstehenden italienischen Niederlage geben konnte.11 In diesen Richtlinien wurde
angeraten, Italien als »ein besetztes und zugleich verratenes Land«
zu begreifen. Den Fachleuten in Washington kam es darauf an zu
unterstreichen, dass dem italienischen Volk keinerlei Hilfe oder
Verteidigung durch den deutschen Verbündeten zuteil wurde,
sondern es im Gegenteil »von seinen faschistischen Anführern
und von den Nationalsozialisten ebenso ausgenutzt wurde wie die
Bevölkerung der anderen besetzten Länder«. Daher mussten die
Italiener ermutigt werden, »ihren Unterdrückern die Stirn zu bie-
I Italien und der Achsenkrieg
29
ten« und einem ebenso blutigen wie sinnlosen Krieg, der inzwischen unwiderruflich verloren war, ein Ende zu setzen.
Die angloamerikanischen Richtlinien empfahlen ebenso wie die
sowjetischen Vorgaben (sofern man dies dem überlieferten Propaganda-Material entnehmen kann) sehr intensive Propaganda- und
Gegenpropagandamaßnahmen, die im Medium Radio ihr effizientestes Kommunikationsinstrument fanden. Eine besondere Bedeutung hatten dabei die Sendungen von Radio London,12 die
US-amerikanischen Sendungen Voice of America und die von Palmiro Togliatti besorgten sowjetischen Sendungen, die über Radio
Moskau und Radio Milano-Libertà übertragen wurden.13 Diese
Sendungen hatten fundamentale Bedeutung bei dem Versuch, Italien flächendeckend mit Themen und Slogans der alliierten Propaganda zu überziehen. Tatsächlich wurden sie von einem ständig
wachsenden Radiopublikum gehört – von 995.000 Radiobesitzern zu Beginn des Krieges (eine von sieben Familien) stieg die
Zahl auf 1.838.000 im Dezember 194214. Und sie erreichten ein
Publikum, das nach Informationen gierte und bereit war, sich
trotz aller Verbote in Café-Bars, Osterien und sogar in faschistischen Einrichtungen vor einem Radio zusammenzufinden.15
Der Krieg, den Italien führte, wurde von den Rundfunksendern
der Alliierten einhellig als ein Krieg beschrieben, der dem italienischen Volk aufgezwungen worden sei, als ein antinationaler Krieg
zum Vorteil Deutschlands. Wie Churchill in seiner berühmten Ansprache vom 23. Dezember 1940 gesagt hatte, lag die Hauptverantwortung für die vom Land erlittenen Verluste und Zerstörungen bei »einem Mann, einem einzigen Mann«.16 Benito Mussolini
wiederum wurde als aufgeblasener Diktator beschrieben, der für
seine persönlichen Machtträume ein »unnatürliches« Bündnis mit
Deutschland eingegangen und in die Fänge des Führers geraten
sei. Mussolini und das faschistische Regime wurden beschuldigt,
sich in den Dienst des nationalsozialistischen Deutschlands gestellt zu haben, dem es ausschließlich darum gegangen sei, das
Ziel der Weltherrschaft zu verfolgen. Ihm hätte sich früher oder
später auch Italien unterordnen müssen. Der Duce wie der Faschismus insgesamt hätten daher die italienische Nation »verraten«. Ein Beweis dafür sei das Verhalten der Deutschen, die sich
jeden Tag feindseliger gegenüber Italien zeigten: durch die Ausbeutung der wirtschaftlichen Ressourcen des faschistischen Bünd-
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I Italien und der Achsenkrieg
nispartners, dessen Rohstoffe rationiert und dessen Arbeitskräfte
unentwegt nach Deutschland verbracht wurden, wo sie mit Arroganz und stumpfsinniger Härte behandelt wurden; durch den
Hochmut und die Verachtung, die die deutschen »Kameraden«
gegenüber ihren faschistischen Verbündeten fortwährend zur
Schau stellten; durch die aggressive und kriminelle Behandlung,
die man den Soldaten in der graugrünen Uniform entgegenbrachte, die verlacht und auf dem Schlachtfeld verheizt wurden, um die
waghalsigen Aktionen der hochmütigen Hitlertruppen zu decken.
All dies wurde hundertfach und effizient wiederholt, ebenso wie
die Slogans, die allenthalben zu hören war: »Befreiung vom Faschismus«, »Warum für Hitler sterben?«, »Deutsche raus!«17
Bohrende Parolen, die begleitet waren von der stets wiederholten
Verurteilung der »Barbarei«, die die Deutschen nicht nur ihren
Feinden auf dem Schlachtfeld gegenüber an den Tag legten, sondern auch der Zivilbevölkerung im gesamten besetzten Europa.
Damit war zugleich die nationalsozialistische Judenverfolgung
gemeint, die von der Propaganda der Alliierten bei allen möglichen Anlässen angeprangert wurde.18
Den größten Einfluss hatte Radio London, der von der BBC für
Italien betreute Rundfunkdienst, der seit Dezember 1939 tätig
war.19 Die oben genannten Themen und Parolen wurden durch
den Londoner Sender flächendeckend verbreitet, wobei er auf die
Mitarbeit zahlreicher italienischer Antifaschisten zählen konnte,
unter ihnen viele jüdischer Herkunft, die nach Einführung der
»Rassengesetze« im Jahr 1938 nach Großbritannien geflohen waren – von den Brüdern Piero und Paolo Treves bis zu Livio Zeno
Zencovich, von Umberto Calosso bis zu Unaldo Limentani, von
Ruggero Orlando bis zu Elio und Renzo Nissim. Sie alle wurden
sowohl als Sprecher als auch für die Redaktion der Texte eingesetzt.20
Am Tag der italienischen Kriegserklärung, am 10. Juni 1940,
sprach Harold Stevens, der neben Candidus zu einer der berühmtesten Stimmen von Radio London werden sollte, in seinem
abendlichen Kommentar einige jener Themen an, auf die sich
bald auch die BBC insgesamt berufen sollte.21 Seiner Ansicht nach
war es allein der »grausamen Böswilligkeit des Deutschen« zuzuschreiben, das italienische und das britische Volk, die durch tiefe
historische Bande geeint seien, entzweit zu haben. Beiden sei der