Zschopau Empfang Der Zug hielt an, wir stiegen aus und starrten

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Zschopau
Empfang
Der Zug hielt an, wir stiegen aus und starrten auf etwa vierzig uniformierte Jungen. Diese standen zu unserem Empfang bereit. Als
sich der Zug wieder in Bewegung gesetzt hatte, rief einer von diesen
laut: „Alle neuen LBA-Schüler sofort draußen vor dem Bahnhof
antreten!“ Aus alter Gewohnheit gehorchten wir sofort. Beim
Anstellen bemerkten wir, dass unter uns ein schwarzes Schaf war, ein
Junge in Zivil. Doch kein Blitz zuckte vom Himmel. Zwei Kameradschaftsführer versteckten den Übeltäter so geschickt in Reih und
Glied, dass er gar nicht mehr auffiel. Ein Scharführer begrüßte uns
kurz und übernahm darauf das Kommando. Zu meiner Überraschung wurden weder Helme noch Gewehre ausgegeben. Der Befehl
lautete nur: „Rechts um! Ohne Tritt marsch!“ und los ging’s. Vor uns
marschierten singend die Alteingesessenen. Wir Neuankömmlinge
schlurften schwitzend mit unserem Gepäck hinterher. Doch schon
nach wenigen Minuten hatten wir unser Ziel erreicht. Es waren wirklich jene drei graugrünen Gebäude, die uns so freundlich zugenickt
hatten. Vor dem mittleren machten wir halt. Gleich darauf wurde
jedem von uns einer der Älteren zugeteilt. Ich bekam einen freundlichen Kerl, dessen Vorfahren sicher einst aus Süditalien eingewandert waren. Er nannte mir zunächst alle Regeln, die hier unbedingt
beachtet werden müssen, wenn man nicht gleich von vornherein
unangenehm auffallen wollte. Zunächst müssten wir uns beim
Direktor folgendermaßen vorstellen: Anklopfen. Bei „Herein“ eintreten. Stillgestanden. Arm hoch. Deutscher Gruß. Aufforderung
zum Nähertreten abwarten. Fragen militärisch kurz beantworten. Bei
Kommando „Wegtreten“ Grundstellung und deutscher Gruß.
Rückwärts zur Tür und diese ganz leise schließen. Ich starrte ihn misstrauisch an. Seine offenen Züge verrieten jedoch keine Hinterlist.
Ich schwieg. Was sollte ich auch sagen?
Da das ganze Theater alphabetisch ablief, hatte ich noch etwas Zeit.
Ich schaute mich ein wenig um und war sofort fasziniert von der
Schönheit der Landschaft. Die altehrwürdigen Schulgebäude im
Rücken blickte ich auf eine gepflegte Parkanlage. Gewundene Wege
führten hinab bis zur Zschopau, die sich silbern glitzernd durch das
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noch enge Tal wand und direkt vor uns rauschend über ein breites
Wehr stürzte. Der gegenüberliegende Hang war steil und zum Teil
bewaldet. An seinem Fuße lag still und verträumt der Friedhof.
Dieses Bild von Ruhe und Harmonie besteht jedoch nur noch in
meiner Erinnerung. Heute ist diese einst so wundervolle Landschaft
durch billige Zweckbauten nachfolgender Generationen fast völlig
zerstört.
Doch zurück zum Vorplatz. Überall wimmelte es von Uniformierten. Auf der breiten Freitreppe erschien eine Gruppe schon
älterer, athletisch gebauter Kerle mit den Rangabzeichen der HJFührer. Der höchste Dienstgrad, mit grün-weißer Schnur an der
Schulter, war Gefolgschaftsführer Siegfried Birkner. Da er wie
Heinz Rühmann aussah, fand ich ihn und auch die anderen recht
sympathisch. Ich hatte mir Seminaristen eigentlich ganz anders vorgestellt, mehr etwas lang, dürr, krumm und bleich vom vielen
Hungern und fleißigen Studieren bei Kerzenlicht bis in die tiefe
Nacht.
Plötzlich sah ich ihn, den einzigen, den ich nicht sehen wollte, das
Stromliniengesicht von Annaberg mit seinem wirren ungekämmten
Haar. Er starrte gedankenverloren ins Leere. Würde er sich wieder
an mich klammern mit seinem altklugen Geschwätz? Ich stellte mich
so, dass ich ihm verdeckt blieb.
Doch es war keine Zeit zum Verstecken, denn laut tönte es über den
Vorplatz: „Preuß und Quinger, zum Direktor!“ Wir eilten die Freitreppe hoch, unsere beiden Begleiter als Wegführer voran, links
herum zur Tür. Ein letztes eindringliches Ratgeben, dann klopften
wir an. Auf das Kommando „Herein“ betraten wir ein hohes und
schmales Zimmer. Wir erstarrten zu Salzsäulen, hoben die Hand
zum Gruß und riefen „Heil Hitler!“. Er, der bis dahin hinter seinem
schräggestellten Schreibtisch saß, erhob sich elastisch und antwortete mit heller scharfer Stimme. „Hei-ittler!“, wobei er mit seiner rechten Hand zwei ruckartige Bewegungen steil in die Luft machte. Jetzt
erst sah ich seine Augen, hell, starr und herrisch. Mich überlief es
kalt. Solche Augen hatte ich noch nie gesehen. Er musterte uns
beide scharf. Seine Züge wurden dabei ein wenig weicher, denn wir
waren ohne Zweifel nordische Rasse. Die Mängel an unseren
Uniformen traten dadurch in den Hintergrund. Zuerst sprach er mit
mir. Es waren allgemeine Fragen, die er oft selbst beantwortete, über
Führer, Volk und Reich, über den Lehrerberuf und die Rolle der
Gemeinschaft.
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Während dann mein Kamerad an der Reihe war, konnte ich mir diesen Direktor Poerschke etwas genauer ansehen. Voller Bewunderung
betrachtete ich seine SA-Uniform, an der alles funkelte. Neben mehr
oder weniger bekannten Orden fiel mir die Olympiaspange auf. Er
war also 1936 dabei gewesen. Meine Ehrfurcht vor diesem Manne
stieg ins Grenzenlose. Dieser große, schlanke und glattrasierte Athlet
mit dem kurzgeschorenen Haupthaar war ein Auserwählter, ein
Kämpfer für Deutschlands Ehre.
Die Audienz war beendet. Wir grüßten stramm und begannen den
schwierigsten Abschnitt, den Rückwärtsgang zur Tür. In meiner
Aufregung stieß ich an einen in der Nähe stehenden Stuhl und geriet
nach hinten tastend genau daneben. Scheu blickte ich zu dem uns
immer noch mit scharfen Blicken verfolgenden Direktor, doch zu
meinem Erstaunen bemerkte ich, wie die Augen des gewaltigen SAMannes belustigt aufblitzten. Mein Freund hatte mehr Glück. Im
Krebsgang huschten wir hinaus. Die erste Hürde war genommen.
Einrichten
Draußen standen die beiden freundlichen Wegweiser mit unserem
Gepäck. Sie halfen beim Tragen und führten uns über verwinkelte
Gänge und Korridore zunächst zum Wohnzimmer. In diesem standen vier Dreiertische und zwei große sechstürige Schränke. Hier
wurde das Schulzeug untergebracht.
Dann ging es eine Treppe höher zum Schlafsaal. Er war groß und
hell. In zwei Reihen hintereinander standen sechsunddreißig Betten.
Wir drei Bernsdorfer hatten Glück, denn unsere standen dicht beieinander an einem der großen Fenster. Wieder schaute ich fasziniert
auf den Fluss und das Wehr. Nun hieß es Bettenbauen. Das ging bei
mir schnell und sicher, denn zu Hause machte ich das schon seit
Jahren. Ich war jedoch völlig platt, als mein Helfer es als saumäßig
bezeichnete und behauptete, dass es in mindestens einer Stunde auf
dem Bauche liegen würde. Zuerst begriff ich gar nichts, aber dann
bedeutete er mir, dass jedes winzige Fältchen ein Zeichen furchtbarer Schlamperei sei, die uns hier restlos ausgetrieben würde. Doch
zunächst schafften wir es gemeinsam, wir strichen, zupften und
zogen. Etwas Glatteres hatte ich bis dahin noch nie gesehen und war
hellauf begeistert. Doch schon nach wenigen Tagen war ich in der
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Lage ein noch glatteres Glatt zu glätten. Zu dieser künstlerischen
Tätigkeit brachte uns der jeweilige Unterführer vom Dienst, kurz
U.v.D. Ein Griff, ein Ruck an der Matratze und alles flog herum.
Anschließend verordnete er uns gymnastische Übungen, zwanzig
Warme. Heute sagt man dazu Liegestütze.
Tasche und Rucksack waren inzwischen leer. Nun ging es hinaus auf
den Gang zum Spind. Hier standen doppeltürige Metallschränke. Ich
bekam die linke Tür und die rechte mein späterer Freund Walfried
Neumann aus Reichenhain. Er war schon überm Einräumen. Auch
hier rieten unsere Begleiter zu peinlichster Ordnung. Jedes Stück
musste mit einer Kante genau senkrecht über das andere gelegt werden. Links und rechts je ein Stapel. In der Mitte hatte ein Abstand
von genau zehn Zentimetern zu verbleiben Damals ahnten wir beide
nicht, dass man hier Winkel und Maße sehr genau nahm. Auftretende
Mängel wurden uns nicht mit Worten erklärt, sondern dadurch, dass
der Spind urplötzlich auf dem Bauche lag. Schaffte man das
Einräumen nicht innerhalb kurzer Zeit, fand man auch seine
Matratze bäuchlings auf dem Bett. Eine bessere Zuarbeit konnte sich
der Mathematiklehrer kaum wünschen.
An diesem ersten Tag waren wir noch unwissend und einfältig, freuten uns des Lebens und hatten keine Ahnung, dass wir alle eine
Herde von Schlampen und Schmutzfinken waren. Eine große Kur
stand uns bevor, eine Kur, an deren Ende der fertige Edelmensch
herausgefiltert sein würde.
Nun galt es noch den Schuhputz- und den Waschraum kennen zu
lernen. Letzterer lag im Erdgeschoss und war über eine wendeltreppenartige Turmstiege zu erreichen. Hier verstauten wir unsere restlichen Habseligkeiten in die dafür vorgesehenen Fächer und
Behältnisse, sauber und korrekt, aber wie gesagt, was sauber und korrekt war, lernten wir dann sehr schnell. Mein freundlicher Italiener
brachte mich noch bis an die Tür unseres Wohnzimmers.
Neue Gesichter
Etwas unsicher stand ich an der Schwelle meiner neuen Heimat, des
Zimmers Nr.5 „Fichte“. Hier trug jedes Wohnzimmer den Namen
eines berühmten Sachsen. Es herrschte reges Treiben. Einige packten
aus und andere ordneten ein. Nur Werner Martin saß still an seinem
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Platz und kaute gedankenverloren auf seinen Zähnen. Verlegen
lächelnd ging ich herum, gab jedem die Hand und sagte leise das
übliche „Heidler“.
Günther Linke, ein dürrer sommersprossiger Junge mit leicht rötlichem Haar und weinerlich nörgelndem Niederschlesisch, saß
zunächst am linken Dreiertisch allein. Gegenüber, am rechten, fiel
mir sofort ein bildhübscher Knabe auf. Er hieß Ullrich Löser und
konnte, wie wir erst später feststellten, wunderschön Dichten und
Singen. Neben diesem kramte ein kräftiger Kerl in seinem
Tischkasten herum. Es war Manfred Lohse, auch ein Reichenhainer
und dazu noch ein begabter Turner. Mir gefiel seine ruhige und
sichere Art. Wir blieben die einzigen, deren Beziehung auch fünfzig
Jahre später noch immer besteht. Neben diesem saß, wie schon
erwähnt, kauend unser Werner Martin. Den Dreiertisch gleich rechts
neben der Tür belegte unsere Intelligenz: Manfred Neubauer und
Lothar Neubert, waren Mittelschüler. Das Kleeblatt wurde ergänzt
von Günther Eugen Müller, einem sehr selbstbewussten und redegewandten Schwärmer der nordischen Rasse, der er sich auf Grund seiner äußeren Erscheinung selbstgefällig zuordnete. Nach dem Kriege
hat er einen mir wenig sympathischen Beruf ausgeübt, war ohne
Skrupel von arisch zu proletarisch und vom Rassenkampf zum
Klassenkampf übergelaufen. Vor diesem, genau in der Mitte des
Zimmers mit Blick zum Fenster, saßen schließlich wir beiden
Eberhards und mein Spindnachbar Walfried Neumann, dessen
gemütlich breites Lächeln weder ein ü noch ein ö hervorbringen
konnte. Für ihn gab es deshalb nur Griene Gleese.
Wir zehn Jungen schauten uns zunächst neugierig und verstohlen an
und dachten im Stillen: Das ist nun für die nächsten Jahre meine
Familie. Da wir uns in kleinen Gruppen bereits vorher kannten,
gewöhnten wir uns sehr schnell aneinander und wurden bald ein
prächtiger Haufen, etwas später sogar das Lieblingszimmer unseres
Direktors.
Die beiden Plätze neben Günther Linke waren noch immer frei,
jedoch mit Heften und Schreibzeug belegt. Wer würde dort wohl sitzen?
Plötzlich trat ein kleiner beweglicher Mann ins Zimmer und stellte
sich als unser Heimleiter vor. Mit ihm erschienen zwei ältere Jungen
und besetzten die noch freien Plätze. Wir alle waren aus alter
Gewohnheit sofort aufgesprungen und hörten gespannt auf die
Hinweise und Erläuterungen dieses energisch auftretenden
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Zivilisten. Leider habe ich seinen Namen vergessen. Er wurde von
allen Piefke genannt und erteilte das Fach Geschichte. Zuletzt stellte
er uns die beiden Neuankömmlinge vor und umriss kurz deren
Aufgaben. Das waren also unsere Aufpasser. Ich betrachtete sie kritisch und fand sie eigentlich recht sympathisch. Der eine war
Kameradschaftsführer, ein ruhiger und kräftiger Sportlertyp. Wie wir
später erfuhren, war er Sachsenmeister im Weitsprung. Er hieß
Wiedlitzka, wurde aber von allen stets Weid genannt. Dieser athletische „Wikinger“ lebte nur noch ein halbes Jahr, dann starb er für
Deutschland. Der Zweite war etwas kleiner, aber lebhafter und hieß
Grafe. Als Scharführer hatte er den höheren Dienstgrad und war
damit auch unser Stubenältester. Nachdem Piefke mit eleganter
Körperdrehung verschwand, machten uns beide mit den Gepflogenheiten dieser Anstalt vertraut. Ich hörte mit gemischten Gefühlen zu
und tauschte vielsagende Blicke mit Eberhard Quinger.
Doch zum Glück hatten wir die beiden besten Kerle bekommen.
Wenn wir nicht so recht spurten, mussten wir Gedichte lernen und
abends vortragen. Wer darüber lachte, war gleich der Nächste. Ich
musste das zweimal erfahren. Ich lachte hinter vorgehaltener Hand,
als unser Günther Linke „Augen, meine lieben Fensterlein, einmal
werdet ihr verdunkelt sein“ in seinem Niederschlesisch herunterleierte. Ein zweites Mal blickte ich eigentlich nur etwas spöttisch, als
Günther Eugen Müller mit feierlichem Pathos und verdrehten Augen
deklamierte:„Der Königin Stirn ward weiß, wie des Saales marmorne
Fliesen. Ihr Blick traf dunkel und heiß den blonden deutschen
Riesen.“ Statt Stirn sagte er Stern und statt blond blarnd und
Deutsche Riesen nannte man doch Roland Walters Kaninchen. Da
ich, wie gesagt, sehr leicht lernte, machten mir der „Zauberlehrling“
und der „Erlkönig“ viel Freude, besonders letzterer, wenn man nach
jeder Zeile „mit aufgekrempelten Hosen“ hinzufügte. Das taten wir
natürlich nur, wenn wir Jungen unter uns waren.
Plötzlich ertönte dumpfer Gongschlag. Wir spitzten die Ohren. Das
war das Zeichen zum Mittagessen. Ohne Hast betraten wir den
Speisesaal im Erdgeschoss. Dort mussten wir zunächst an die Seite
treten, denn auch hier hatte man uns die Plätze bereits vorher zugeteilt. Wir saßen jeweils sieben an einem Tisch. Auch hier gab es einen
Aufpasser. Unserer war ein ruhiger, etwas unnahbarer älterer Junge,
der bereits das Parteiabzeichen trug. Mein Nachbar war, wie bereits
am Spind, Walfried Neumann. Am unteren Ende waren Lothar
Neubert und Eberhard Quinger platziert. Mir gegenüber saßen zwei
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völlig ungleiche Typen aus Zimmer 6 „Wagner“. Jeder ein Original für
sich. Der eine war Heiner Riedel, genannt Dux, der vielseitigste und
begabteste Sportler unter uns allen. Nach dem Kriege spielte er, sein
Vater war schon in Einsiedel ein ortsbekannter Fußballer gewesen,
erfolgreich in der Bundesliga. Doch weitaus stärker als sein
Bewegungsdrang war sein außergewöhnlicher Appetit. Während des
Tischspruches, jeder war damit einmal dran, mussten wir uns die
Hände reichen und anschließend setzen. Noch ehe der letzte bequem
saß, hatte Dux mit ungeheuerem Geschick die Vorsuppe an alle verteilt. Dann raste er wie ein Besessener zum Aufzug, um als erster mit
Nachschlag versehen zu werden. Wieder am Platze, jagte er seinen
Tellerinhalt in den Magen und begann schon wieder flink mit der zweiten Verteilung, um, wenn möglich, noch eine dritte Schüssel zu ergattern, was ihm meist gelang. Er fraß wie ein hungriger Wolf und war
dabei recht lustig anzuschauen mit seinen Platzbacken und dem kurzgestutzten Krauskopf. Ich habe ihn später oft an die Tafel gemalt, als
Dackel mit Riedelkopf, in dessen Maul ein halbes Brot steckte. Später,
als wir in Chemnitz die Oberschule besuchten, sind wir gute Freunde
geworden.
Neben ihm saß das andere Original, Dietmar Richter, der Führer
durchs Abschlussprogramm von Annaberg. Er war das ganze
Gegenteil vom flinken Dux, langsam und behäbig, aber ungeheuer
begabt. Was Dux in sich hineinschüttete, das goss er daneben. An seiner Uniform klebten von jeder Malzeit ein paar Andenken, gleich
einem Speiseplan für Analphabeten. Er kaute mit der Ruhe einer satten Kuh. Wenn er fertig war, leckte er Messer und Gabel gründlich ab
und rieb sie an der Manchesterhose trocken. So nachlässig wie seine
Kleidung sahen auch Bett und Spind aus. Beide lagen nach jeder
Kontrolle bäuchlings. Unerschüttert brachte er dann einigermaßen
Ordnung ins Chaos und drückte bereitwillig seine Warmen. War seine
Kraft erschöpft, entwaffnete er den Peiniger mit verlegen gutmütigem
Lächeln und blieb liegen wie ein Klotz. Auch das Schimpfen seines
Spindnachbarn Dux, der stets wieder mit einrichten musste, nahm er
von der lustigen Seite. Später arbeitete er beim staatlichen Forstbetrieb
und erhielt für seine hervorragenden Leistungen den Nationalpreis
Nach dem Essen machten wir einen Rundgang durch Zschopau.
Unsere Zimmerältesten zeigten uns alles Sehenswerte des Städtchens,
die Felsen am „Stern“, das Bodemerhaus, die Brücke, den Wasserweg,
das Rathaus, Schloss Wildeck mit dem „Dicken Heinrich“ und der
„Schlanken Margarete“.
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Ich begann dieses mir bis dahin völlig unbekannte verträumte Nest zu
lieben, mit seinen engen verwinkelten Gassen und den anspruchslosen,
geduckten Häusern unter anheimelnden Dächern. Auch heute noch,
obwohl inzwischen laut und lärmend, verspüre ich den Zauber jener
Tage.
Erste Nacht
Abends war frei. Wir schnüffelten überall herum, aber noch ruhig
und erwartungsvoll. Da die drei Hauptgebäude durch brückenartige
Gänge miteinander verbunden waren, erschien uns die Schule als ein
endlos verwinkelter gewaltiger Bau. Erst nach Tagen fanden wir uns
zurecht. Hinter dem Mittelgebäude, groß und behäbig, fast den ganzen Hof einnehmend, lag die Massentoilette, ein Ort ständiger
Betriebsamkeit. Er war bestimmt der älteste Teil der Anstalt und
zeigte Verfallserscheinungen an Türen, Wänden und den ewig
beschmutzten Sitzgelegenheiten. Ich hasste dieses Gemäuer, jedoch
alles Andere war wunderschön. Der gepflegte Schulgarten diente
ausschließlich wissenschaftlicher Arbeit. Damals war es den
Hausmeistern nicht gestattet, diesen für ihre persönlichen
Bedürfnisse zu entfremden. Vor der großen geräumigen Turnhalle
befand sich der Sportplatz, schweißgetränkt durch lust- und leidvolles Bemühen. Hell begeistert waren wir vom Park, der sich von der
Freitreppe bis zur Zschopau hinunterzog. Wir Bernsdorfer erforschten ihn schon an diesem ersten Abend gründlich. Dabei fanden wir
einen dunklen Pfad, der auf halber Höhe am Hang entlang lief. Wir
drangen neugierig durch überhängendes Buschwerk, bis wir steil
unten die Zschopau rauschen hörten. Bereits am nächsten Tag wurde
uns mitgeteilt, dass wir dort nichts zu suchen hätten. Er gehörte
einem Unternehmer, der es nicht gerne sah, wenn das Volk sich dort
tummelte. Der schönste Platz war eine weit vorragende Plattform
mit bequemen, durch Generationen von Seminaristen glattgescheuerten Bänken. Dort saßen wir ein Weilchen, starrten in die
Dämmerung und sprachen kaum ein Wort. Was würde uns die
Zukunft bringen?
Etwas beklommen gingen wir auf unser Zimmer. Hier brannte
schon Licht. Die anderen sprachen leise miteinander oder kramten in
ihren Kästen und Fächern. Um neun Uhr ertönten laute Pfeifsignale.
Wir eilten zu unseren Spinden, zogen uns aus und rannten nur mit
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Turnhosen bekleidet die Feuertreppe hinab zum Waschraum, machten Toilette und eilten schon wieder hinauf zum Schlafsaal. Hier war
es bedenklich laut. Jeder versuchte sein Heimweh durch kraftvolles
Röhren zu verdrängen und sich aber auch gleichzeitig vor den anderen ins rechte Licht zu rücken, bis der laute Pfiff des U.v.D. uns jäh
unterbrach. Dieser erklärte in ruhigen Worten, dass man draußen auf
dem Turnplatz herrlich exerzieren könne. Er sei auf alle Fälle gern
dazu bereit. Wir verstanden und schwiegen. Bis um zehn Uhr durften wir noch leise sprechen oder lesen, dann tauchte er erneut auf,
erinnerte uns an den Turnplatz und löschte das Licht. Dieser Jüngling
sprach ruhig und gelassen. Wir alle verstanden ihn sehr wohl. Seine
Wortwahl ließ keine Zweifel aufkommen. Vielleicht lauerte er vor der
Tür und horchte? Nur hier und da wurde ganz leise geflüstert, bald
war alles still.
Ich aber blieb noch lange wach. Meine Gedanken durcheilten immer
wieder den zu Ende gegangenen Tag. So pingelig exakt hatte ich mir
das Leben in einem Seminar wahrhaft nicht vorgestellt. Ich spürte im
Innersten, dass für mich ein völlig neuer, genau geregelter
Lebensabschnitt beginnen würde und schlief erst spät ein.
Erster Morgen
Plötzlich ertönten schrille Pfiffe. Ich schreckte hoch und sah an der
Tür den U.v.D.: „Aufstehen! ,Eins, zwei, drei, vier . . .“ Ich sprang aus
dem Bett, ergriff meine Hausschuhe und jagte barfuß hinaus.
Instinktiv erfasste ich, dass bei „zehn“ irgendeine Gefahr drohte. Der
größte Teil von uns begriff das auch. Wir, die Flinken, eilten hinab
zum Waschraum. Etwas später kamen auch die Trödler, mit langen
Gesichtern. Sie mussten erst noch zusehen, wie jener Jüngling mit
geübtem Griff ihre Bettmatratze samt Zubehör hochriss und diese
dabei in der Luft wendend auf das leere Eisengestell niedersausen ließ.
Wer auch immer von den Großen U.v.D. war, wurde durch dieses
Amt zum Sadist. Sie überboten sich förmlich im Erfinden neuer
Gängeleien und Strafen. Einen der rabiatesten sollten wir gleich am
nächsten Tag kennen lernen, den Kameradschaftsführer Gärtner.
Dieses bösartige und spindeldürre Gerippe jagte uns zum Frühsport
über den Turnplatz, bis dass uns allen die Lunge platzen möge.
Zumindest war er der Meinung, alles Schlechte in uns könne am
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besten über die Haut oder durch die Lunge herausgetrieben werden,
und er fand viel Schlechtes an uns. Für mich war diese frühsportliche
Tortur jedoch nichts anderes als eine Fortsetzung meiner einstigen
Langläufe bei den Führeranwärtern.
Nach dem Frühstück hatte ich dann doch den Eindruck, hier Schüler
einer höheren Lehranstalt zu sein. Man führte uns in das
Klassenzimmer. Auch hier war unser künftiger Platz bereits festgelegt. Wir saßen je zu sechs an sechs langen Tafeln. Ich hatte auf der
zweiten Reihe den vorletzten Stuhl am Fenster zwischen Quinger
und Neumann und blickte halb umgedreht interessiert über die
Klasse zur Tür. Wir alle schwiegen erwartungsvoll. Plötzlich öffnete
sich diese und irgendjemand schrie: „Achtung!“ Wir sprangen
gewohnheitsmäßig auf und standen stramm. Da kamen sie alle,
voran SA-Führer Poerschke in voller Uniform, dahinter in Zivil der
Heimleiter Piefke und alle Lehrer. Das technische Personal verharrte
respektvoll an der Tür und wurde nach kurzer Vorstellung wieder
entlassen. Zurück blieben nur die Lehrer. Wir erfuhren deren Namen
und Fächer. Hier hörte ich zum ersten Male in meinem Leben
Biologie, Physik, Chemie und Mathematik, bei uns damals Mathese
genannt. Für mich klang das alles gleich und ich hatte tagelang große
Mühe, das eine vom anderem zu unterscheiden. Einmal fragte ich
sogar einen größeren Schüler was der Unterschied zwischen
Mathematik und Mathese sei. Zuerst sah er mich argwöhnisch an,
dann lachte er ob meiner Naivität und klärte mich schließlich auf.
Nachdem alle weiteren organisatorischen Aufgaben erledigt waren,
konnten wir wieder zurück in die Wohnzimmer, um alles auf den nun
bald beginnenden Unterricht vorzubereiten. Endlich schien sich die
Kaserne in eine Schule umzuwandeln. Mir wurde leichter ums Herz.
Kurzes Zwischenspiel
Nach dem Mittagessen überraschte uns Herr Poerschke mit der
Bekanntgabe von zwei freien Tagen, dem morgigen Sonntag und
dem darauffolgenden Montag, dem 1. Mai, damals „Tag der
Nationalen Arbeit“ genannt. Wer hätte das gedacht. Am Freitag im
Morgengrauen war ich bedrückt talabwärts getrabt, für immer in die
Fremde, und bereits zwei Tage später stapfte ich die Heppe aufwärts
wieder der Heimat entgegen. Als ich vor der Tür stand, verschlug es
meiner Mutter fast die Sprache. Sie dachte zuerst ich sei ausgerissen,
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beruhigte sich aber schnell als ich alles erklärte. Ich hatte zwei Tage
Urlaub, der mir aber nicht so recht bekam. In trüber Stimmung saß
ich herum und wusste nichts mit mir anzufangen. Lustlos begann ich
mein Fahrrad in Ordnung zu bringen, denn wir hatten die Erlaubnis
bekommen, dieses nach Zschopau mitnehmen zu dürfen. Ich putzte
und flimmerte es bei trübem Wetter unten im düsteren Keller. Diese
Umgebung übertrug sich langsam auch auf mein Gemüt. Zusätzlich
würgte in mir die immer näher rückende Abschiedsstunde. Als es
dann so weit war, kämpfte ich verzweifelt mit den Tränen. Doch
meine Mutter, der es ganz ähnlich erging, hatte dann einen prächtigen Einfall. Sie brachte die Flasche Wermutwein, die ich zu meiner
Konfirmation geschenkt bekommen hatte. Über diese machten wir
uns zu viert her, und siehe da, die Medizin begann zu wirken. Bald
war der Abschiedsschmerz verflogen. Beschwingt und fröhlich
bestieg ich mein Rad und auf ging’s nach Zschopau, das wir drei
Bernsdorfer bei herrlichem Abendschein nach einer guten Stunde
erreichten. Die Anstrengung der Fahrt und der süße Wein verhalfen
mir zu einem erquickenden Schlaf, dessen Ende genau mit dem Pfiff
des U.v.D. zusammenfiel. Das Gefühl von Heimweh war von da an
für immer verschwunden.
Neue Fächer
Unser Klassenzimmer lag im ersten Stock des unteren Gebäudes. Ich
saß in der Nähe eines Fensters mit wunderbarem Blick ins herrliche
Zschopautal. Der Frühling hatte bereits überall das erste Grün hervorgelockt. Da entdeckte ich am rechten Flusshang mitten im Wald
eine einsame Fahne. Was hatte das wohl zu bedeuten? Neugierig
geworden schaute ich ständig hin und vergaß dabei völlig den
Unterricht. Wir hatten gerade Mathese. Die einführenden Worte des
Lehrers glitten ungehört an mir vorbei. Zur Abwechslung blickte ich
dann doch einmal an die Tafel. Was war denn das für ein heilloses
Durcheinander von Zahlen und Buchstaben. Mein erstaunter Blick
über diesen Blödsinn wurde jedoch von keinem erwidert. Ich war ein
hervorragender Rechner und wusste genau, dass man dazu Zahlen
braucht. Was sollten aber diese Buchstaben bedeuten? Da stand
a+a+a+a = 4a ! Was sollte ich zum Donnerwetter mit 4a anfangen?
Wo blieb da der Sinn? Trotz eifrigen Nachdenkens kam ich nicht
dahinter. Wieder starrte ich zu jener Fahne. Die musst du heute noch
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finden! Während meine Kameraden mit Buchstaben rechneten und
nichts Außergewöhnliches dabei fanden, vernagelten die kommenden Entdeckerfreuden mir den Rest meines mathematischen
Verstandes. Na wartet nur, wenn erst wieder mit richtigen Zahlen
gerechnet wird, werde ich euch schon zeigen was ich kann. Ich wartete ein halbes Jahr auf meine große Stunde. Dann kam sie in Gestalt
der Note Fünf. Ehe ich begriff, dass auch ein Buchstabe einen Wert
ausdrücken kann, befreite mich das unfreiwillige Ende des Seminarlebens vor der unvermeidlichen Katastrophe.
Die Mathematik wurde zum Alptraum. Ich plätscherte an der
Oberfläche herum und klammerte mich verzweifelt an die
Leistungen meiner beiden Nachbarn, die zwar zuerst auch nur hilflos
herumsaßen, aber meine Begriffsstutzigkeit nicht erreichten, sondern
allmählich in den richtigen Kategorien zu denken begannen. Ich
jedoch, der wegen dieser Fahne den mathematischen Zug verpasst
hatte, blieb restlos auf der Strecke.
Vielleicht lag es auch ein klein wenig mit am Lehrer, denn Herr Uhlig,
unser großer Botaniker, musste dieses Fach notgedrungen erteilen,
bis er nach einigen Wochen von einem mathematischen Genie abgelöst wurde.
Herr Ludwig, ein kleiner, etwas beleibter, aber lebhafter Mensch
schleuderte gleich einem Marktschreier Zahlen, Buchstaben,
Formeln und Beweise auf uns herab, dass es mir förmlich die
Sprache verschlug. Da ich addieren, subtrahieren, multiplizieren, dividieren und wie das alles hieß immer noch nicht auseinanderhalten
konnte, verlor ich langsam die Geduld und strich die Segel. Mein ganzes Interesse richtete sich fortan nur noch auf seine Person. Bald
konnte ich ihn zum Gaudium meiner Zimmergenossen hervorragend nachahmen und zitieren: „Also Junnngs! Die Mazzemazick ist
eine ex-akkte Wissenschaft!“ Sein messerscharfer Verstand jedoch
blieb mir für die nächste Zeit verschlossen. Ganz anders war es dagegen in Physik, das ich zunächst für Chemie hielt, oder Biologie, oder
Botanik. Hier war ich begeistert bei der Sache. Zum ersten Male sah
ich richtige Experimente mit Gewichten, Hebeln, Steinen oder
Gläsern voll Wasser unter denen Gas brannte ohne dass sie platzten.
Warum wir jedes Mal in dieses eigens dafür eingerichtete Zimmer
gehen mussten, begriff ich nie so recht, da Herr Ludwig gleich einem
Zauberkünstler Messer, Korkenzieher, Kugeln Bleistifte, Radiergummis und andere Gegenstände aus seinen Westentaschen hervorbrachte und mit diesen so ziemlich alles erklärte. Ich saß bei ihm
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gespannt wie ein Kind im Kaspertheater und freute mich über jeden
Versuch, ganz gleich ob er gelang oder nicht, vor allem, wenn er nicht
gelang, weil Herr Ludwig dann immer wieder von vorn begann bis
die Klingel ihn erlöste.
Eines Tages wollte er uns beweisen, dass auch Glas elastisch sei. Er
nahm ein langes, dünnes Rohr und begann es mit selbstbewusst triumphierenden Blicken vor uns zu biegen. Plötzlich machte es Klick
oder Klirr, ich weiß es heut nicht mehr so genau, aber ich sehe noch
immer, wie seine lebhaften Mausaugen ungläubig über die beiden
Glasreste huschten, die er in den Händen hielt. Mit einer ärgerlichen
Geste unterband er geschickt unser teils erschrecktes, teils aber auch
schadenfrohes Gelächter.
Einmal, beim Thema „Wärmeströmung“, wollte er wissen, aus welcher Gegend der Nordeuropa beheizende Golfstrom wohl käme.
Zunächst glitten seine flinken Augen suchend über unsere erhobenen
Hände, dann jedoch hafteten sie fest am Stromliniengesicht von
Roland Hoffmann: „Wie heißt du gleich?“ Dieser erhob sich langsam
und deklamierte mit der Unfehlbarkeit eines Allwissenden: „Golf
von Mexiko“. Über diesen Ritterschlag, den sich Triefer, so nannten
wir ihn, damit verpasst hatte, lachte auch Herr Ludwig.
In einer anderen Stunde sollten wir physikalische Vorgänge nennen.
„Nun, Herrberrt Kerrmerr?“, forderte er den eifrig mit dem Arm
wedelnden Rotkopf aus Auerbach im Erzgebirge auf. Dieser überschlug sich fast in heller Entdeckerfreude: „Do wemma Kaffee un
Millisch zesammgissd!“ Lachsalven erschütterten das Zimmer.
Mir gefiel es immer mehr bei diesem behänden Kerlchen, der seine
beiden Wissenschaften für die Krone der Schöpfung hielt: „Ja, die
Mazzemaziek und die Füssiek!“ Warum denn nicht die Geographie
oder Geologie oder wie das gleich hieß. In Bernsdorf sagten wir einfach Erdkunde.
Wie schon anfangs die Mathematik, bekam Johannes Uhlig-Oederan
auch noch die Geographie aufgehalst. Er, der jedes Jahr in den großen Ferien vom ersten bis zum letzten Tag die Alpen nach seltenen
Pflanzen durchstöberte, musste doch schließlich auch etwas von der
Geographie verstehen. Er blieb jedoch mit uns in diesem schönen
Gebirge stecken und fand nicht mehr heraus. Jeden Alpenwinkel
lernten wir kennen, jeder Gipfel wurde bestiegen. Die Welt
schrumpfte auf Alpengröße zusammen. Wir hatten nicht Geographie, sondern Alpinistik. Wir waren keine Schulklasse mehr, sondern ein Speziallager für Bergführer. Mir ging das langsam auf die
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Nerven. Ich wollte endlich einmal den Wilden Westen behandelt wissen, denn durch Karl Mays Helden war mir dort jeder Fußbreit
bekannt und ich hätte endlich einmal gute Zensuren bekommen. Da
Old Shatterhand jedoch nicht mit Tirolern auf dem Kriegspfad
schlich, wusste ich über diese Gegend rein gar nichts.
So gründlich, wie er uns mit der Nase in die Alpenwelt stupste, so
gründlich führte er uns auch durch sein Reich der Pflanzen und
Vögel. Für die biologisch Interessierten waren vor allem die vielen
Exkursionen ins Zschopautal unschätzbare Fundgruben. UhligOederan galt in Fachkreisen als Sachsens großer Botaniker. Ich
erfuhr das erst viele Jahre später. Damals ließ ich, statt diese wertvolle Quelle auszuschöpfen, lieber flache Steine über den Fluss hüpfen.
Direktor Poerschke
Für eine höhere Lehranstalt fehlte mir einfach die nötige Reife. Durch
ständige Misserfolge bekam ich Minderwertigkeitskomplexe, wurde
faul und gleichgültig. Abends, wenn alle büffelten, saß ich vor meinem
offenen Tischkasten und las heimlich in dort versteckten Abenteuerschwarten. Nur wenn ich von weitem Direktor Poerschke sein „Gute
Nacht, Jungs!“ schmettern hörte, schob ich diesen zu und schrieb eifrig
in ein für alle Fälle bereitgehaltenes Heft. Im Unterricht war ich zerstreut und starrte ständig nach meiner Fahne, von der ich natürlich
schon längst wusste, dass sie auf einem bekannten Aussichtspunkt, der
„Bodemer Kanzel“, stand. Dort saß ich oft stundenlang und döste vor
mich hin oder stieg auf Schleichpfaden hinab ins Zschopautal, setzte
mich auf einen Stein am Fuße des Wehres, horchte in das Getöse des
herabstürzenden Wassers und vergaß dabei völlig meine Pflichten.
Von dort zurückgekehrt und immer noch voller Unlust gegen alles was
irgendwie mit dieser entsetzlichen Lernerei zu tun hatte, ging ich meist
in die Turnhalle. Dort trainierten fast täglich einige Jungen unter der
Anleitung von Manfred Lohse an den verschiedenen Geräten. Durch
diese Freizeitbeschäftigung kam auch ich endlich einmal zu Erfolgen.
Ich wurde auffallend sportlich und damit neben Heiner Riedel und
Manfred Lohse zum bevorzugten Dritten unseres Direktors. Mir war
dabei gar nicht so wohl, denn ich hatte einen Heidenrespekt vor diesem strengen und fanatischen Manne.
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Ich weiß noch, wie er den tapsigen Roland Hoffmann anging, der das
Abgrätschen über die Holme nicht begreifen wollte, ständig hängen
blieb und auf die Matte plumpste. Herr Poerschke gab sich redlich
Mühe und zeigte zunächst mit wahrer Engelsgeduld immer wieder den
genauen technischen Ablauf dieses vergleichsweise einfachen
Elements. Da das alles nichts half, geriet er allmählich in Wut und
begann zu schreien. Unser armes Stromliniengesicht versuchte es
immer wieder und stürzte genau so regelmäßig ab. Als er sich nach vielen Bemühungen langsam wieder aufrappelte und aus seinen ewigtraurigen Triefaugen um Schonung heischend zu dem gewaltigen Manne
aufblickte, hob dieser die Hand wie zum Schlage, ließ sie aber langsam
wieder sinken und sagte mit funkelnden Augen fast flüsternd: „Du
Affe!“ In seiner Wut vergaß er, dass ein Affe doch eigentlich recht gut
turnte.
Aber dieser Mann konnte auch ganz plötzlich mit seiner Gitarre auftauchen und mit uns die schönsten Volks- und Heimatlieder singen,
oder bis in den Oktober hinein im nahegelegenen Warmbad bei
Wolkenstein im Wasser herumtollen. Er liebte das Jungenhafte, aber
auch wieder das Verträumte, nur jedes zu seiner Zeit. Ein seltsamer,
aber doch faszinierender Mensch mit der Olympiaspange am
Braunhemd, das er fast ständig trug. Wir standen immer wieder wie
gebannt, wenn er am Reck seine „Riesen“ drehte. Gleichzeitig
beherrschte er aber auch eine ganze Reihe von Musikinstrumenten. Er
spielte nicht nur Gitarre und Mandoline, sondern mindestens genau so
gut das Klavier und die große Orgel in der Aula. Von dieser aus dirigierte er donnerstags in der letzten Stunde unseren Chor. Hier mussten
wir alle mitmachen, ob wir wollten oder nicht. Und wie wir wollten!
Unter seinem gefürchteten Blick wurden wir zu Sängerknaben. Mir lief
jedes Mal die Gänsehaut zum Rücken herunter, wenn wir dreistimmig
das friesische „Liever düd als Slav“ oder „Du sollst an Deutschlands
Zukunft glauben“ unter den kraftvollen Tönen der Orgel sangen. Herr
Sperber, der Direktor der Musikschule, war davon so angetan, dass er
gemeinsam mit uns, sowie dem Mädchenchor der Oberschule und seinem Orchester einen musikalischen Abend im großen Saal des „Stern“
organisierte. Ganz Zschopau war begeistert.
Angefeuert von diesem spürbaren Hunger nach Kultur folgte schon
nach kurzer Zeit ein weiterer Höhepunkt, doch diesmal in unserer
Aula. Es war aber mehr ein Programm der Leisen Töne, mehr
Kammermusik und solistische Darbietungen. Auch hier brauchten
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wir uns nicht zu verstecken. Ulrich Löser, sang mit seiner schönen
Altstimme „Das Heidenröslein“ und Wolfgang Grabner, sich selbst
am Klavier begleitend, das Lied vom „Holden Abendstern“.
Während wir den weiteren Darbietungen uns unbekannter Künstler
lauschten, fiel mein Blick auf einen unter den Solisten sitzenden älteren Herrn mit Glatze, der freundlich und mild auf uns herabschaute. Immer wieder blickte ich wie gebannt auf dieses gütig-fromme
Gesicht und erstarrte zur Salzsäule, als er, dass heißt, als sie sich
erhob und laut zu deklamieren begann: „Als ich auf dem Euphrat
schiffte und meine Hand durch das Wasser gleiten ließ, verlor ich den
Ring von meinem Finger, oh geliebte Suleika.“ Mit Entsetzen verfolgte ich diese Metamorphose, diese Umwandlung eines glatzköpfigen alternden Greises in eine große schlanke Dame mit streng nach
hinten gekämmtem Haar, das in einem schweren Knoten endete, den
ich, da sie mir zugekehrt gesessen, nicht bemerkt hatte. Ich war so
beeindruckt, dass ich sie bis zum heutigen Tage immer wieder deklamiere.
Da sich der Abend länger hinzog als geplant, mussten wir sofort
nach der Veranstaltung ungewaschen ins Bett. Noch bevor das Licht
gelöscht wurde, öffnete sich die Tür und herein trat in Begleitung
unseres Direktors und ihres Vaters, des Zschopauer Kantors, ein
bildhübsches Mädchen mit den schönsten blauen Augen und nickte
uns allen freundlich zu. Dann kam der U.v.D. und löschte mit harter
Hand das Licht Ich habe dieses Engelsgesicht nie wieder gesehen,
aber viele Jahrzehnte später von einem Bekannten im fernen Bautzen
erfahren, dass sie noch immer so reizend geblieben sei.
Eines Tages, während der Chorstunde, entließ Herr Poerschke einen
älteren Jungen. Er sollte wegen beginnenden Stimmbruchs für die
nächste Zeit aussetzen und hatte dadurch Freizeit. Hier witterte ich
meine Chance. So gern ich auch sang, war mir doch die regelmäßige
Chorstunde allmählich zu viel. Als unser Direktor während einer
Probe stutzig geworden uns alle der Reihe nach abhörte, blieb er
etwas länger bei mir stehen, nannte mich einen Blindgänger und
machte eine bedauernde Gebärde. Traurig und betrübt schlurfte ich
zur Tür und schloss diese ganz leise hinter mir. Dann machte ich
einen freudigen Luftsprung und ritt Minuten später bereits mit
Winnetou durch die Prärie. Ich hatte mit meinem Gekrächze den
stets misstrauischen SA-Mann getäuscht. Ein ganz toller Erfolg, wie
ich damals meinte.
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