Präventi on Hausarzt Medizin Das Schwert des Damokles Wann und welche präventiven Maßnahmen sind für wen sinnvoll? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Welche Faktoren dabei zu berücksichtigen sind, macht der Autor im folgenden Beitrag deutlich. Fotos: mauritius images / United Archives 1-0-0 0-0-1 0-1-0 1-0-1 1-0-0 Einteilung der Prävention Es gibt keine einheitliche Einteilung der Formen der Prävention. Der belgische Hausarzt Marc Jamoulle hat eine sehr sinnvolle Einteilung vorgeschlagen. Dabei nutzt er die englische Unterscheidung des deutschen Wortes Krankheit in „illness“ (Leiden oder Kranksein der Patienten) und „disease“ (Diagnose oder Krankheit aus Sicht der Ärzte). Jamoulle Der Hausarzt 10/2015 Primärprävention Nicht vorhanden In der Primärprävention fühlt weder der Mensch ein Leiden, noch sieht der Arzt eine Krankheit. Beispiele wären Hygiene oder Impfungen. Auch Bildung gehört als Basis dazu. In der satAbb. 1: 4-Felder-Tafel Prävention ten westlichen Welt besteht Primärprävention nicht so Arzt | Krankheit sehr darin, etwas zu tun, als Nicht vorhanden Vorhanden vielmehr, etwas nicht zu tun. Wir sollten so leben, wie es unsere menschliche BioloPrimäre Sekundäre gie erfordert. In der Tierpflege Prävention Prävention spricht man von artgerechter Haltung. Was ist für uns „artgerecht“? Wir scheinen mit sehr unterschiedlichen Kostformen zurechtzukommen. Quartäre Tertiäre Wir vertragen es aber schlecht, Prävention Prävention wenn wir zu viel oder zu wenig Nahrung zu uns nehmen. Auch das Rauchen ist nicht „artgerecht“. Es aufzugebengehört zu den kraftvollsten Formen der Primärprävention. Das Schöne an diesen Formen der Prävention ist, dass sie Geld sparen und keine Nebenwirkungen haben. Die Fiktion jedoch, man könne durch eine „gesunde Lebensweise“ alle Krankheiten oder gar den Tod überlisten, führt zu immer stärker eingeschränkten Lebensfreuden und darüber hinVorhanden Metoprololsuccinat 47,5 mg Simvastatin 40 mg ASS 100 mg Ticagrelor 90 mg Pantoprazol 20 mg setzt Leiden und Diagnose in einer 4-FelderTafel ins Verhältnis. Beides kann vorhanden oder nicht vorhanden sein (Abb. 1). Patient | Kranksein Über Prävention lässt sich viel Theoretisches sagen. Ich will versuchen, dies anhand eines realen Falles zu tun: Ein 58-jähriger Patient betrat neulich mein Sprechzimmer. Bislang war er gesund gewesen. Er war Raucher, schlank und voller Lebensfreude. Auf einem Parkplatz hatte er plötzlich einen linksthorakalen Schmerz mit Ausstrahlung in den Arm gespürt. Aufgrund seiner familiären Vorgeschichte war ihm die mögliche Diagnose eines Herzinfarkts gleich klar geworden und er hatte den Notarzt gerufen. Er kam sofort ins Herzkatheterlabor, wurde dilatiert und gestentet. Gleich nach dem Eingriff war er wieder komplett beschwerdefrei. Das ganze Erlebnis kam ihm wie ein Spuk vor. Im Entlassungsbrief wurden ein Rauchstopp und folgende medikamentöse Therapie empfohlen: Prof. Dr. med. Thomas Kühlein Allgemeinmedizinisches Institut, Universitätsklinikum Erlangen, E-Mail: thomas.kuehlein@ uk-erlangen.de 39 Hausarzt Medizin Sekundärprävention In der Sekundärprävention ist beim Menschen zwar kein Leiden vorhanden, aber der Arzt stellt trotzdem eine Diagnose. Der Arzt fragt „Wie geht’s?“, und der Mensch sagt „gut“. Der Arzt sagt „Na – das haben wir gleich“ und fängt an zu messen. Kurz darauf ist der Mensch ein Patient. Die meisten Diagnosen, die er erhalten hat, sind jedoch eher Risikofaktoren für Krankheiten als wirkliche Krankheiten. Beispiele wären: Bluthochdruck, Hypercholesterinämie, Hyperurikämie, Diabetes mellitus Typ 2 oder Osteoporose. Ein Ultraschall der Schilddrüse würde mit hoher Wahrscheinlichkeit einen kontrollbedürftigen Knoten und eine Doppler-Untersuchung der Karotiden ab einem gewissen Alter eine Atherosklerose zutage fördern. 40 Risikoreduktion nach kardiovaskulärem Ereignis durch „art gerechte Lebenswei se“ und Behandlung mit einem Statin, einem Betablocker und ASS Risikoreduktion Ticagrelor versus Clo pidogrel Deshalb zurück zu den Zahlen: Bei meinem Patienten hätte vor dem Herzinfarkt – laut „arriba“ – eine zusätzliche Sekundärprävention durch medikamentöse Blutdrucksenkung sein Risiko von 14,4 % noch einmal um 3,7 % (absolut) auf 10,7 % senken können. Ein Statin hätte es um weitere 2,1 % (absolut) auf 8,6 % gesenkt (In diesem Risikobereich werden allerdings schon keine Statine mehr empfohlen). Man sieht, die Effekte der Medikation sind deutlich kleiner als die der geänderten Lebensführung. Insgesamt ergibt sich also eine absolute Risikoreduktion um 31,2 %. Laden Sie sich „arriba“ auf Ihren Praxisrechner und berechnen Sie bei Patienten ohne vorbestehende kardiovaskuläre Ereignisse oder andere Endorganschäden das 10-JahresDer Hausarzt 10/2015 Illustration: T. Kühlein Das Ergebnis der Sekundärprävention kann sein, dass ein Mensch, der gerade noch fand, es gehe ihm gut, plötzlich ein multimorbider und chronisch kranker Patient ist. Der britische Arzt und Philosoph David Greaves hat das Phänomen des „gesunden Kranken“ als die Schaffung von Teilpatienten bezeichnet. Ohne Frage verdienen nicht nur die Industrie, sondern auch wir Ärzte gut an der sekundären Prävention. Auch ist es deutlich angenehmer und planbarer, sich mit „sauberen“ Diagnosen von Gesunden und mit Messwerten zu beschäftigen statt mit den schwierigen und meist zu unpassender Zeit auftauchenden Leiden. Das Phänomen der explodierenden sekundären Prävention allein auf zynische Geschäftsinteressen zu reduzieren, wäre jedoch zu kurz gedacht. Es scheint mir darüber hinaus ein in seinen Ursachen komplexes Produkt unseres Zeitgeistes, kombiniert mit einer gewissen innerärztlichen „Zahlenblindheit“ zu sein. aus auch zu der irrigen und unfairen Vermutung, man sei selber schuld, wenn man krank wird. Aber wie stark steigert ein bestimmter Cholesterinwert das Herzinfarktrisiko tatsächlich und wie weit kann eine „artgerechte Ernährung“ das Risiko senken? Wo und wie „investieren“ wir in Prävention? Das kostenlose elektronische Werkzeug „arriba“ (www.arriba-hausarzt.de) erlaubt es, beides zu berechnen und sichtbar zu machen. Bei meinem Patienten ergab sich mit „arriba“ vor seinem Infarkt ein kardiovaskuläres 10-Jahres-Risiko von 39,8 %. Durch Rauchstopp, Mittelmeerkost und mildem Ausdauersport hätte er sein Risiko in der Primärprävention ohne jedes Medikament um 25,5 % (absolut) auf 14,3 % senken können. Ob er damit seinen Herzinfarkt verhindert hätte, können wir nicht wissen. Primärprävention kann sehr wirksam sein und trägt sicher wesentlich zur Reduktion der Häufigkeit von Krankheiten bei. Hausarzt Medizin Risiko. Es geht schnell, und Sie werden verblüfft sein, wie häufig Sie zur Freude ihrer Patienten Antihypertensiva und Statine absetzen können. Zeigen Sie ihren Patienten die Therapieeffekte einer „artgerechten Lebensweise“. Zumindest manche von ihnen werden beginnen, darüber nachzudenken. Sekundärprävention kann bei Hochrisikopatienten sehr sinnvoll sein. Bei Menschen mit nur mittlerem oder geringem Risiko werden die potenziellen Effekte schnell sehr klein. Tertiärprävention Bei der Tertiärprävention hat nicht nur der Arzt eine Diagnose bereit, sondern der Patient auch ein Leiden verspürt. Nach seinem Herzinfarkt besteht für meinen Patienten ein kardiovaskuläres 10-Jahres-Risiko von ≥ 50 %. Diese Wahrscheinlichkeit lässt sich nach „arriba“ durch Rauchstopp, körperliche Aktivität, eine schmackhafte Mittelmeerkost, das verordnete Simvastatin, Metoprolol und ASS 100 von ≥ 50 % um ≥ 41,4 % (absolut) wieder auf 8,6 % absenken. Der Patient hatte einen Drug-eluting Stent bekommen. Zusätzlich zu ASS bekam er für die Dauer von 12 Monaten Ticagrelor zur Prävention eines Stentverschlusses verordnet. Viele Studien haben untersucht, ob man durch zusätzliche Thrombozytenaggregationshemmer die Restenosierungs- und Reinfarktraten weiter senken kann. Das Muster ist immer gleich: Eine industriefinanzierte Mammutstudie mit den wichtigsten Meinungsbildnern aus möglichst vielen Ländern als Autoren. Für die PLATO-Studie wurden 18.624 Patienten mit akutem Koronarsyndrom rekrutiert. Die Patienten erhielten zusätzlich zu ASS entweder 2-mal täglich 90 mg Ticagrelor oder 1-mal täglich 75 mg Clopidogrel. Nach 1 Jahr war der Endpunkt (Tod durch ein kardiovaskuläres Ereignis, Myokardinfarkt oder Schlaganfall) in der Ticagrelor-Gruppe in 9,8 % der Fälle und in der Clopidogrel-Gruppe in 11,7 % der Fälle aufgetreten – ein Unterschied von 1,9 % (absolut). Allerdings war unter Ticagrelor die Rate schwerer, vor allem intrakranieller Blutungen gegenüber Clopidogrel erhöht (4,5 vs. 3,8 %). Ticagrelor muss 2-mal täglich genommen werden. Die Einnahme einer Studienmedikation Der Hausarzt 10/2015 1/2 Seite hoch 41 Hausarzt Medizin wird meist genau überwacht. In der rea kaments zu nehmen, scheint zumindest len Versorgung ist aber eine deutlich dann diskutierbar, wenn die absoluten geringere Einnahmetreue zu erwarten. Effekte beider Medikamente klein sind. Ob der kleine Vorteil Tertiärprävention von Ticagrelor gegen kann hoch effektiv Ein Hausarzt sollte nicht über Clopidogrel dann sein. Dennoch scheihinter jedem Symptom noch nachweisbar wäre, nen mir auch hier eine Krankheit vermuist fraglich. Vielleicht Grenzen der Sinnten und nicht mit allen diagnostischen Mitteln mag der Einsatz bei ei haftigkeit nicht nur nach ihr suchen. nem jungen Patienten berührt, sondern noch sinnvoll scheinen. oft überschritten zu Bei einem 87-jährigen werden. multimorbiden Pati enten mit Polymedikation dürfte dies Quartärprävention kaum der Fall sein. Dazwischen sind im Einzelfall oft schwierige Entscheidun Quartäre Prävention bedeutet Verhingen zu treffen. Aber was sind die Ent derung nutzloser Medizin. Dabei geht scheidungskriterien? es um die in Hausarztpraxen häufige Si tuation, dass der Patient mit einem Lei Trotz unauffälliger Magenanamne den in die Praxis kommt und der Arzt se bekam mein Patient präventiv auch keine Diagnose für ihn hat. Beispiele noch Pantoprazol als Magenschutz ver wären Symptome wie Müdigkeit oder ordnet. In der PLATO-Studie war eine Schwindel. solche Blutung bei 2,3 % der Patienten Die Unmöglichkeit, eine somatische unter Ticagrelor aufgetreten. Tödlich Diagnose zu stellen, führt oft zu der An war eine solche Blutung bei keinem die nahme, es müsse sich deshalb um eine ser Patienten. Unter der Annahme ei psychische oder psychosomatische Er ner relativen Risikoreduktion von 50 % krankung handeln. Das ist keineswegs ließe sich das Risiko durch Pantoprazol zwingend der Fall. Körperwahrneh von 2,3 % auf 1,15 % senken. Ein weite mungen wie Müdigkeit oder Schwindel res Medikament gegen eine potenziel sind nicht immer Zeichen für Krankheit le Nebenwirkung eines anderen Medi – weder physisch noch psychisch. Es Fazit Verglichen mit den präventiven Effektstärken der „artgerechten Lebensweise“ sind die Effektstärken medikamentöser Maßnahmen der Sekundär- und Tertiärprävention mäßig. So manche kardiologische Diskussion um Unterschiede – wie dem zwischen Clopidogrel und Ticagrelor – erscheint in diesem Vergleich geradezu absurd. Iona Heath hat kürzlich von der unerträglichen Gier gesprochen, mit der wir uns in unseren westlichen Gesellschaften immer geringere Überlebensvorteile zu immer höheren Preisen erkaufen wollen. Dieser Artikel will sich keineswegs gegen Prävention richten – im Gegenteil. Wir sollten uns aber fragen, wann und welche präventiven Maßnahmen für wen sinnvoll sind. Diese Frage können wir – zusammen mit unseren Patienten – nur dann beantworten, wenn wir die Größe der Bedrohung und die Effektstärken präventiver Maßnahmen einigermaßen realistisch abschätzen können. Diese hochindividuelle Form der Medizin nennt sich „evidenzbasierte Medizin“. 42 sind häufig einfach mit Sorgen vor einer Krankheit beladene Körperwahrneh mungen mit erfreulich hoher Tendenz zum spontanen Verschwinden. Die spezifische Aufgabe des Hausarz tes ist es deshalb – entgegen allem, was er an der Universität oder in seiner Wei terbildung bei fachärztlichen Spezia listen gelernt hat –, nicht hinter jedem Symptom eine Krankheit zu vermuten und mit allen diagnostischen Mitteln nach ihr zu suchen. Stattdessen sollte er versuchen, mögliche gefährliche Ursachen des Symptoms auszuschließen und dann die Technik des „aufmerksamen Abwartens“ anzuwenden. Genau darin liegt die Spezifität primärmedi zinischer Denk- und Handelsweise und eine gewaltige Kraft für quartäre Prä vention. Eine weitere starke Kraft quartärer Prä vention ist die Kenntnis von Wahr scheinlichkeiten und Effektstärken präventiver, diagnostischer und the rapeutischer Maßnahmen. Erst die se Kenntnis ermöglicht es, individuelle Entscheidungen zu treffen und Maß nahmen wegzulassen. Quartäre Präven tion kann so auch Verhinderung nutz loser Prävention bedeuten. Das Pantoprazol haben mein Patient und ich gleich abgesetzt. Mit Ticagre lor taten wir uns schwerer. Es hat einen winzigen positiven Nettoeffekt gegen über Clopidogrel. Den dafür verhältnis mäßig hohen Preis bezahlt der Patient nicht selbst. Den erstverordnenden Kar diologen zu überzeugen, war in diesem Fall zu spät und scheint grundsätzlich utopisch. Wir haben es belassen. Viel leicht hilft ja zukünftig ein kassensei tiges Veto. Aber so etwas mögen Ärzte ja nicht. Quartäre Prävention – die Verhinderung nutzloser Medizin – ist gerade in der Hausarztmedizin eine hocheffektive Möglichkeit, zukünftigen Schaden von seinen Patienten abzuwenden. Literatur beim Verfasser Interessenkonflikte: keine Der Hausarzt 10/2015
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