I. Einleitung: WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort

Impressum
V.i.S.d.P. Naciye Demirbilek
W3 – Werkstatt für internationale Kultur und Politik e.V.
Nernstweg 32-34, 22765 Hamburg, Tel. 040 – 39805360
www.werkstatt3.de
Die Herausgeberin ist für den Inhalt allein verantwortlich
Redaktion & Gestaltung
Lena Egetmeyer
Imke Bredehöft
Titelbild
Foto: Kallejipp/photocase
Stand
Mai 2015
Inhalt:
I. Einleitung: WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort
1
II. Dokumentation der Veranstaltungen
4
1. Recht und Unrecht im Fokus
4
1.1 Vom Recht auf… Bleiben
4
1.1.1 Lesung mit Mahmood Falaki: Ich bin Ausländer und das ist
auch gut so
5
1.1.2 Workshop mit Grenzgänger: Die Situation von Geflüchteten
und Eingewanderten in Hamburg
9
1.2 Vom Recht auf… Raum
10
1.2.1 Vortrag: Das Beispiel Brasilien – Kapitalistische
Stadtgestaltung und Orte des Widerstandes im Kontext von WM und
Olympia
11
1.2.2 Film: Gözdağı – Die Blendung
1.3 Vom Recht auf… Selbstbestimmung
12
14
1.3.1 Lesung: Sexarbeit – Eine Welt für sich. Einblicke… in den
Berufsalltag von Sexarbeiter_innen
14
1.3.2 Diskussion: Sexarbeit und Migration
15
2. Multiplikator_innen Workshops – von Unrecht und Recht in der
globalen Bildungsarbeit
18
2.1 Nach bestem Wissen und Gewissen?
18
Rassismus in Text und Bildsprache in der entwicklungspolitischen
Öffentlichkeitsarbeit
18
2.2 „Vom vornehmen Wort Kultur“
Kritische Auseinandersetzung mit Inter-/Transkulturellem Lernen
3. Reden wir über… Gerechtigkeit: Was sagt die Theorie?
3.1 Reden wir über… Eine Welt
19
19
21
21
Blick zurück nach vorn: Geschichte und Perspektiven der Eine-WeltBewegung
21
3.2 Reden wir über… Entwicklung
Der Entwicklungsdiskurs – Post-Development und postkoloniale
Perspektiven
3.3 Reden wir über… Menschenrechte
23
23
25
Der Universalismus der Menschenrechte und seine relativistischen
Gegner_innen
25
3.4 Reden wir über… Globale Gerechtigkeit
Entwicklungspolitik als Instrument Globaler Gerechtigkeit
III. Fazit
27
27
30
Abbildungsverzeichnis:
Abbildung 1: Zusammenfassung der Ziele des Projektes ‚WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und
dort‘ .......................................................................................................................................................... 2
Abbildung 2: Cover des Buches „Ich bin Ausländer und das ist auch gut so“, Mahmood Falaki ............ 5
Abbildung 3: Mahmood Falaki bei der Lesung am 23.05.2014 ............................................................... 6
Abbildung 4: Mahmood Falakis Ausführungen und Gedanken zum Exil ................................................ 7
Abbildung 5: Was ist gerecht? Anne Kimm und Henriette Reichwald von Grenzgänger ..................... 10
Abbildung 6: Ausschnitt aus der Präsentation von Katharina Schmidt und Sebastian Hilf ................... 11
Abbildung 7: Ausschnitt aus der Präsentation von Veronika Munk....................................................... 16
Abbildung 8: Was ist gerecht? Tanja Chawla ........................................................................................ 17
Abbildung 9: Exemplarische Kulturkonzepte, Foto vom Workshop „Vom vornehmen Wort Kultur“ am
10.10.2014 ............................................................................................................................................. 20
Abbildung 10: Was ist gerecht? Martina Neuburger ............................................................................. 25
Abbildung 11: Was ist gerecht? Arnd Pollmann .................................................................................... 27
Abbildung 12: Was ist gerecht? Dorothea Gädeke ............................................................................... 29
Projektdokumentation
I. Einleitung: WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und
dort
Was ist gerecht?
Und wie kann Gerechtigkeit erreicht werden?
Dies sind Fragen, die uns, die W3 – Werkstatt für internationale Kultur und Politik e.V.
seit 35 Jahren in unserer globalen und interkulturellen Bildungsarbeit stets begleiten.
Das Leitbild und Dachthema unseres Programmes war dabei von Beginn an und ist nach
wie vor Globale Gerechtigkeit. Gleichzeitig orientieren sich unsere Aktivitäten natürlich
immer an aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen. Die Gesellschaft, in der wir leben,
und die wir auch an anderen Orten der Welt mit unserem persönlichen und kollektiven
Handeln hier beeinflussen, befindet sich im stetigen Wandel. Organisationen, Vereine
und Initiativen haben die Aufgabe, auf diese gesellschaftlichen Veränderungen mit ihrem
entwicklungspolitischen und interkulturellen Bildungsprogramm aufmerksam zu
machen. Gleichzeitig tragen sie die Verantwortung ihr Programm und ihre Rolle als NGO
in diesem Zusammenhang auch selbst immer wieder zu reflektieren und Inhalte,
Formate, Zielsetzungen auf ihre Aktualität, Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit kritisch zu
überprüfen. Globale und interkulturelle Bildungsarbeit ist somit einem ständigen
Prozess der Neudefinition unterworfen, um den dynamischen gesellschaftlichen,
sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklungen gerecht zu werden. 2015 laufen
die Millennium Development Goals aus – auch das war uns Anlass zu fragen, wie es um
die Globale Gerechtigkeit bestellt ist und welche Rolle dabei NGOs auf lokaler Ebene
spielen. Welche Rolle sollen und können sie überhaupt übernehmen? Was sind mögliche
Schwierigkeiten und wo liegen die Stolpersteine?
In der vor diesem Hintergrund organisierten Veranstaltungsreihe „WeltGerecht?
Umkämpfte Rechte hier und dort“ standen deshalb nicht nur Diskurse, Begrifflichkeiten
und Konzepte der globalen Gerechtigkeit im Fokus, sondern auch die Frage danach, wie
NGOs im Bereich der globalen und interkulturellen Bildungsarbeit ihrer
verantwortungsvollen Position gerecht werden und vermeiden können, selbst
Ungerechtigkeitsmuster und Machtasymmetrien zu reproduzieren. Wo liegen mögliche
Problemfelder zwischen Anspruch und Wirklichkeit der alltäglichen Bildungsarbeit?
Auf Basis eines offenen und selbstkritischen Austausches sollten in dieser
Veranstaltungsreihe deshalb auch Best-Practice-Beispiele ausgetauscht und neue Ideen
für die zukünftige Bildungsarbeit entwickelt werden. Durch die Hinterfragung und
Neudiskussion bestimmter Aspekte der Globalen Gerechtigkeit konnte dieser
Reflexionsprozess auch in die Öffentlichkeit getragen und mit ihr diskutiert werden. Auf
die Sensibilisierung für die globale Dimension von Gerechtigkeitsfragen, deren Ursachen
und Konsequenzen sowohl den globalen Norden als auch den globalen Süden betreffen,
wurde durch die Themenauswahl der einzelnen Veranstaltungen Wert gelegt. Nicht nur
1
2
WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort
Aushandlungen von Gerechtigkeit andernorts auf der Welt sondern auch hier vor Ort
standen im Fokus.
Zusammenfassung der Ziele der Veranstaltungsreihe
WeltGerecht – Umkämpfte Rechte hier und dort:
o
selbstkritische Auseinandersetzung mit entwicklungspolitischen und
interkulturellen Angeboten
o
Sensibilisierung für die Verwendung von Konzepten und
Begrifflichkeiten
o
Vermeidung ungewollter Reproduktion von Stereotypen und
Sensibilisierung für Machtasymmetrien
o
Kennenlernen neuer Aufgaben, Konzepte, Methoden, Analysetechniken,
Erkenntnisse in Bezug auf Globale Gerechtigkeit
o
Diskussion der Rolle und Stärkung von zivilgesellschaftlichen
Akteur_innen und NGOs für Globale Gerechtigkeit
o
Kennenlernen von Best-Practice Beispiele aus der globalen
Bildungsarbeit
o
Raum für Vernetzung und Zusammenarbeit bieten
Abbildung 1: Zusammenfassung der Ziele der Veranstaltungsreihe
Umkämpfte Rechte hier und dort
‚WeltGerecht?
An dem Aspekt der öffentlichen Diskussion und Information knüpft auch diese
Dokumentation an. Die Inhalte und die Ergebnisse der einzelnen Veranstaltungen sollen
einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Durch die Veröffentlichung
dieser Dokumentation besteht die Möglichkeit, die aus der Themenreihe gewonnenen
Erkenntnisse nachzulesen und nachzuvollziehen und für weitere Folgeprojekte oder
ähnliche Projekte an anderer Stelle zu nutzen.
Die Dokumentation ist dem inhaltlichem Ablauf der Veranstaltungsreihe1 entsprechend
aufgebaut: Zu Beginn der Themenreihe beschäftigten wir uns in einführenden
Veranstaltungen mit grundsätzlichen Fragen nach Recht und Unrecht und den damit
verbundenen Aushandlungsprozessen: Was ist gerecht? Und wer sagt eigentlich, was in
einer globalisierten Welt gerecht ist? Sind nicht vielmehr Vorstellungen von Recht und
Unrecht verschieden und verhandelbar? Dazu gewährten wir exemplarische Einblicke in
den Facettenreichtum des Themas durch die Fokussierung auf drei beispielhafte
Die chronologische Reihenfolge der Veranstaltungen entsprach allerdings nicht immer der
thematischen/konzeptionellen Gliederung. Für diese Dokumentation wurde die Priorität aber auf den
inhaltlichen Aufbau gesetzt.
1
Projektdokumentation
umkämpfte Rechtsfragen Recht auf Bleiben, Recht auf Raum und Recht auf
Selbstbestimmung.
Das Recht auf Bleiben ist in Verbindung mit der aktuellen Flüchtlingswelle ein stark
diskutiertes Thema – wenn auch nicht neu. Die heutige Situation von Geflüchteten und
Migrant_innen hier vor Ort zeigt besonders deutlich die globale Dimension von
Gerechtigkeitsfragen und die unmittelbaren Auswirkungen von internationaler Politik
und gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklungen
weltweit auf. Damit verbunden stellt sich die Frage: Ist unser Umgang mit Migrant_innen
und Geflüchteten ein Spiegel für die Gerechtigkeitsvorstellungen unserer Gesellschaft?
Und daran gekoppelt die Frage: Wem steht das Recht auf ein gutes Leben zu und wem
etwa nicht? In der 35-jährigen Geschichte der W3 kehrte diese Fragestellung regelmäßig
als Schwerpunkt wieder, analog zu seiner immer wiederkehrenden Brisanz.
Für die Debatte um das Recht auf Raum haben wir uns entschieden, da sie exemplarisch
zeigt, sei es bei Landgrabbing, Stadtentwicklung, Umsiedlungsprozessen oder
Wohnraumsituation, welchen Einfluss Machthierarchien auf Gerechtigkeit haben bzw.
die Machtlosigkeit Einzelner in Bezug auf Gerechtigkeit besonders deutlich wird. Als
dritten Aspekt zeigten wir mit dem Recht auf Selbstbestimmung wie bei der
Aushandlung von Rechten gesellschaftliche Norm und gesetzliche Lage divergieren und
sich auch gegenseitig bedingen können. Dies wurde beispielhaft an der Rechtslage rund
um das Gewerbe der Sexarbeit dargestellt. Bei dem dazu geführten Diskurs werden
zudem die Betroffenen selbst oft ausgeschlossen. Unser Fokus lag deshalb auf der
Sichtweise der Akteur_innen selbst.
Im darauffolgenden Kapitel sind zwei Workshops dokumentiert. Dieser Teil der
Themenreihe war vor allem an Multiplikator_innen und Aktive der interkulturellen und
globalen Bildungsarbeit gerichtet und diente der kritischen Reflexion und
Weiterentwicklung der Arbeit von NGOs in diesem Feld. Beim ersten Workshop ging es
konkret um das Vermeiden von Rassismus in der Öffentlichkeitsarbeit von NGOs. Im
zweiten Workshop standen Kulturkonzepte in der globalen Bildungsarbeit auf dem
Prüfstein. Ziel beider Workshops war hierbei, Akteur_innen von Initiativen der globalen
Gerechtigkeit konkrete Analysewerkzeuge an die Hand zu geben, mit Hilfe derer sie ihre
Arbeit hinterfragen und weiterentwickeln können. So sollte erreicht werden, dass die
Teilnehmenden
in
ihrer
globalen
Bildungsarbeit
nicht
unbewusst
Kulturalisierungsmuster oder Rassismen reproduzieren.
Zum Abschluss folgten vier theoretische Veranstaltungen im Rahmen einer
Vortragsreihe, die sich mit grundsätzlichen Konzepten, Debatten und Perspektiven rund
um globale Gerechtigkeit beschäftigten. Diese sollten abschließend einen Überblick
vermitteln und eine fundierte konzeptionelle Grundlage schaffen, um die globale und
interkulturelle Bildungsarbeit vor dem Hintergrund solcher Konzepte selbstkritisch zu
verorten. Dafür wurden Wissenschaftler_innen unterschiedlicher Disziplinen
eingeladen, über die Geschichte der Eine-Welt-Bewegung, Entwicklungskonzepte,
3
4
WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort
Menschenrechte und Globale Gerechtigkeit zu sprechen. Dies kann in Kapitel Drei
nachgelesen werde.
Für diese Dokumentation haben wir die Referent_innen der verschiedenen
Veranstaltungen zudem gebeten, aus ihrer Perspektive auf die Leitfragen der
Themenreihe – Was ist gerecht und wie kann Gerechtigkeit erreicht werden? –
einzugehen, natürlich mit dem Wissen, dass diese Fragen aufgrund der großen
Komplexität wenn überhaupt nicht in wenigen Sätzen zu beantworten sind. Dennoch
zeigen die Auszüge der Referent_innen, die bereit waren, ihre Gedanken dazu zu
verschriftlichen, die Vielfalt der Perspektiven und eine Annäherung an mögliche
Antworten. Die Statements der Referent_innen sind in die Dokumentation der jeweiligen
Veranstaltung eingebettet.
Zu manchen Veranstaltungen stehen die Präsentationen der Referent_innen zur
Verfügung, diese sind mit einem Link zum Download hinterlegt. Außerdem sind an
einigen Stellen ergänzende Informationen und Literaturlisten verlinkt.
II. Dokumentation der Veranstaltungen
1. Recht und Unrecht im Fokus
In der globalisierten Welt gibt es unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit, die
immer wieder neu verhandelt werden. Zudem sieht, was sich intuitiv richtig anfühlt, in
der Rechtslage manchmal ganz anders aus – und muss längst noch nicht gerecht sein. Es
gibt viele Kontexte, in denen Ungerechtigkeiten unterschiedlich erfahren werden. Die im
Folgenden aufgeführten und dokumentierten Veranstaltungen zeigten dabei
exemplarisch, wie nah Recht und Unrecht oft beieinander liegen. Bewusst wurden der
interessierten Öffentlichkeit unterschiedliche Zugänge zu den gewählten Themen Recht
auf Bleiben, Recht auf Raum und Recht auf Selbstbestimmung gegeben. Mal sachlicher,
durch Vorträge, Workshops oder Diskussionen, mal emotionaler und erlebbarer durch
Lesungen, Stadtrundgänge oder filmische Dokumentation. Diese Abendveranstaltungen
fanden zwischen Mai und Oktober 2014 statt.
1.1 Vom Recht auf… Bleiben
Um über das Recht auf Bleiben zu sprechen, ist es nicht nötig weit in die Ferne zu
blicken. Auch in Hamburg ist das Bleiberecht nicht erst seit der Debatte um die
Geflüchteten aus Lampedusa, aber seitdem verstärkt auch in der Öffentlichkeit, ein
kontrovers diskutiertes Thema. Nicht selten dominieren Halbwissen über die
tatsächliche Rechtslage der Geflüchteten und eine gewisse Distanz zu den Menschen
hinter den Schlagzeilen die Diskussion. Wir näherten uns dem Thema deshalb aus Sicht
Projektdokumentation
der Betroffenen. Zum Auftakt las Mahmood Falaki, selbst aus Persien in den 80er Jahren
nach Hamburg geflüchtet, aus seinem neusten Buch über seine Erfahrungen als
„Ausländer“ in Deutschland. Viele seiner Bücher handeln von seinem Leben in
Deutschland und Schreiben als Exilierter und zeigen seine Perspektive auf die Menschen
hier auf. Die darauffolgende Veranstaltung beschäftigte sich in Form eines Workhops
mit der aktuellen Rechtslage von Asylsuchenden und Migrant_innen in Deutschland und
Hamburg. Ein an den Workshop angeschlossener Stadtrundgang verband wiederum die
Theorie mit konkreten Orten und trug somit zu einer veränderten, bewussteren
Wahrnehmung der Teilnehmenden für die Situation der Betroffenen hier vor Ort bei.
1.1.1 Mahmood Falaki: Ich bin Ausländer und das ist auch gut so
Lesung am 23. Mai 2015, 19.30 Uhr.
Veranstaltet in Kooperation mit dem Sujet Verlag
Mahmood Falaki war bereits das
zweite Mal im Rahmen einer
Kooperationsveranstaltung mit dem
Sujet Verlag auf der Bühne der W3. Er
ist Schriftsteller und Dozent für
persische Sprache und Literatur,
wuchs im Norden Persiens auf und
wurde während der Schah-Zeit wegen
seiner
politisch-literarischen
Aktivitäten zu drei Jahren Haft
verurteilt. Später musste er das Land
verlassen,
kam
1983
nach
Deutschland und lebt seit 1986 in
Hamburg. Diese Erfahrungen spiegeln sich auch immer in seinen literarischen Werken
wider, sei es in seiner Lyrik, oder in seinem neuen Band mit Erzählungen.
Abbildung 2: Cover des Buches „Ich bin Ausländer und
das ist auch gut so“, Mahmood Falaki
In seinen pointierten Kurzgeschichten und Momentaufnahmen skizziert Mahmood
Falaki auf humorvolle Art Begegnungen von Menschen verschiedener Kulturen in
Deutschland. Mit ironisch-distanziertem Blick beschreibt er komische Dialoge und
Missverständnisse, die sich aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der
Protagonist_innen ergeben und zum Überdenken eingefahrener Sichtweisen und
Vorurteile anregen. Die Geschichten handeln von den Banalitäten und Absurditäten des
alltäglichen Lebens als ‚Fremde_r‘ in Deutschland.
5
6
WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort
„Was für ein Landsmann sind Sie?!“
„Ich komme aus Persien.“
„Brasilien? Aber Sie sehen nicht wie ein
Indio aus!“
„Nein, Persien, Iran!“
„Ach so, Iran! Sie sind Muslim!“
„Nein!“
„Nein? Gibt es in der Türkei auch
Christen?“
Abbildung 3: Mahmood Falaki in der W3 am 23.05.2014
Dies ist ein kurzer Auszug aus dem Erzählband „Ich bin Ausländer und das ist auch gut
so“ von Mahmood Falaki. Bei der Lesung trug er noch viele weitere Passagen vor, die das
Publikum zum Lachen und zum Nachdenken bewegten. Im Anschluss an die Lesung
thematisierte Mahmood Falaki das Alltagsleben von Ausländer_innen in Deutschland
und die über die Jahre eingetretenen Veränderungen aus seiner Perspektive heraus.
Außerdem sprach er über sein Schreiben im Exil, besonders sein Verhältnis zur
deutschen und zur persischen Sprache. Dunja Rühl vom Sujet Verlag moderierte das
Gespräch und die Diskussion mit dem Publikum.
Für diese Dokumentation hat Herr Falaki seine Gedanken und Erfahrungen zum Leben
und Schreiben im Exil noch einmal zu Papier gebracht:
Projektdokumentation
Exil
Wenn man das Leben exilierter Schriftsteller betrachtet, bemerkt man
Gemeinsamkeiten, die fast alle Autoren betreffen. Allgemein verliert ein
Emigrant einen Teil seiner eigenen Kultur, der andere Teil ist durch
Sozialisation und Erziehung im Herkunftsland derart verinnerlicht, dass er
untrennbarer Bestandteil des Ichs bleibt. Ein Emigrant bleibt in kultureller
Hinsicht weder sein ursprüngliches ICH, noch wird er zu einem gänzlich
neuen Individuum. Jeder Heimatvertriebene leidet in diesem
Schwebezustand, aber für einen Schriftsteller ist die Lage noch
schmerzhafter. Denn für ihn kommt zum Verlust der Sprache und damit der
Kommunikation der Verlust seines Publikums. Er dichtet nun in einer
Sprache, die keiner versteht, außer der kleinen Gruppe seiner emigrierten
Landsleute, die ihr eigenes Ghetto bilden.
Nach meiner Erfahrung durchläuft ein Schriftsteller im Exil verschiedene
Phasen:
In der ersten "Phase der Desorientierung" fühlt man sich wie ein Reisender,
der sein Geld, seinen Pass, alles verlor und nicht weiß, ob und wann er
überhaupt wieder in die Heimat zurückehren kann. In dieser Zeit, geprägt
von Verwirrung und Orientierungslosigkeit, bringt er Aufschreie und
antwortlose Klagen hervor.
In der zweiten „Phase der Nostalgie“ ist man sicher, für lange Zeit oder
vielleicht für immer im Gastgeberland bleiben zu müssen und wird von einer
Flut von Erinnerungen überschwemmt. Sehnsucht und Heimweh sind stärker
denn je. Man imaginiert eine schönere Vergangenheit und durchlebt Szenen,
besonders aus der Kindheit, in denen man eine sichere Zuflucht findet, um
sich, sein Selbst, am Leben zu halten.
In der dritten "Phase der Selbstentfremdung“, gekennzeichnet von Zweifeln
an den früheren Ideen und Werten, findet die Auseinandersetzung mit sich
selbst statt. Fragen bedrängen einen: Wer bin ich? Warum bin ich überhaupt
hier? Was ist in meinem Heimatland passiert? Warum geschieht das? War
das, was ich getan habe, richtig? Soll ich in der Opferrolle bleiben? Wer ist
überhaupt Täter, wer Opfer? War ich ein Mensch, der Demokratie und
Freiheit verstand und aufgebaut hätte? ...
Diese Fragen entstehen in der Auseinandersetzung mit Gesellschaft und
Kultur des Gastgeberlands, in dem man etwas Neues lernt. Ein Verständnis
von moderner Offenheit, Mündigkeit, Gesetzmäßigkeit und Individualität, wie
7
8
WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort
es in meinem Herkunftsland unter einem despotischen Herrscher nicht
möglich war, habe ich der deutschen bzw. europäischen Gesellschaft zu
verdanken.
Wird der Entfremdungszustand im fruchtbaren Lernprozess mit der neuen
Kultur verarbeitet, kann man in der vierten "Phase der Selbstfindung“ das
Exil überwinden. Als bewältigt verstehe ich die Selbstentfremdungsphase in
dem Moment, in dem es gelingt, mir eine neue Identität zu schaffen und
darauf eine neue Poesie aufzubauen. Den Prozess der Integration der eigenen
Identität an die kulturellen und gesellschaftlichen Parameter des neuen
Heimatlandes ist überlebensnotwendig, aber eine schmerzhafte und lange
Prozedur, die nicht alle Exilliteraten durchlaufen, viele verbleiben in den
Phasen von Nostalgie oder Selbstentfremdung.
Die vier Phasen des Exils widerspiegeln sich in meinen literarischen Texten.
In der letzten Phase treten allmählich inhaltliche Neuerungen und
sprachstilistischen Änderungen unter dem Einfluss der Fremdkultur, also
deutscher bzw. europäischer Kultur und Literatur, hervor. Wobei der
kulturelle Einfluss des Gastgeberlandes und von dessen Sprache in meiner
literarischen Arbeit intensiviert wurden, als ich anfing auf Deutsch zu
schreiben.
Natürlich ist diese Entwicklung nicht geradlinig und unproblematisch
verlaufen:
Erstens, weil die Deutsche Sprache für mich eine adoptierte Sprache ist. Hier
kann ich Lion Feuchtwangers Ansicht über das Schreiben in fremder,
erlernter Sprache zustimmen, dass man sich in der fremden Sprache
ausdrücken kann, aber „die Gefühlswerte, den fremden Tonfall der Sprache“
nicht perfekt erlernen kann. So kann ich auf Persisch, nach über 30 Jahren,
noch immer besser und leichter schreiben, weil ich jeden Winkel der Sprache
kenne und sie nach meinen Wünschen spielerisch formen kann, wie es im
Deutschen nicht der Fall ist.
Zweitens, weil, obwohl Hamburg zu meiner Heimat geworden ist und ich
mich hier wohl fühle, das Fremdheitsgefühl gelegentlich zurückkehrt, wenn
"Einheimische" mir mit Blicken, Verhalten und Äußerungen zu verstehen
geben, dass ich nicht Teil der Gesellschaft sei. Besonders natürlich, wenn
Ausländerfeindlichkeit - egal aus welchem Grund - wieder einmal öffentlich
sichtbar wird, wie zurzeit legitimiert durch die AfD-Partei oder PEGIDADemonstrationen.
Mahmood Falaki, Dezember 2014
Abbildung 4: Mahmood Falakis Ausführungen und Gedanken zum Exil
Projektdokumentation
Ergänzend hierzu ist auch dieses Interview mit Mahmood Falaki, erschienen in der taz
am 21. Februar 2014, interessant. Des Weiteren bietet die Sonderveranstaltung „Fremde
Sprache Freiheit. Exilschriftsteller Abbas Khider und Mahmood Falaki im Gespräch“ der
Universität Hamburg, die online als Video verfügbar ist, weitere Informationen und
Anregungen zum Thema.
1.1.2 Die Situation von Geflüchteten und Eingewanderten in Hamburg
Workshop und Stadtrundgang am 14. Juni 2014, 10 bis 14 Uhr.
Mit Anne Kimm und Henriette Reichwald von Grenzgänger I forschung & training
‚Flüchtling’, ‚Geflüchtete_r’, ‚Asylbewerber_in’, ‚Illegale’, ‚Illegalisierte’, ‚irreguläre und
reguläre Migrant_innen’… Die Liste an Zuschreibungen im Zusammenhang mit Migration
ist nahezu unendlich. Einige dieser Begriffe begegnen uns täglich. Doch was bedeuten sie
eigentlich? Welche rechtlichen und politischen Implikationen verbergen sich dahinter?
Und welche Konsequenzen ergeben sich für das alltägliche Leben derer, die mit diesen
Zuschreibungen konfrontiert sind?
Diese Veranstaltung wurde von Referentinnen von Grenzgänger forschung & training
durchgeführt. Grenzgänger bieten seit vielen Jahren Stadtrundgänge, Seminare und
Trainings rund um den Themenkomplex Migration und Entwicklung an. Ihre
Veranstaltungen basieren dabei auf dem Konzept, Erkenntnisse aus der
Migrationsforschung mit der Praxis und dem Alltag deutscher Großstädte zu verbinden.
Ihre Seminare sind interaktiv und mit verschiedenen methodischen Ansätzen so
aufgebaut, dass sie nicht nur Antworten liefern, sondern neue Fragen zu aktuellen
Themen rund um Migration und Entwicklung aufwerfen. Deshalb waren sie für unsere
Veranstaltung geeignete, erfahrene und kompetente Referent_innen.
Um den obigen Fragen auf den Grund zu gehen, wurden in dem Workshop zunächst
rechtliche sowie politische Aspekte von Migration und Aufenthalt geklärt. Dazu wurde
unter anderem die Rechtslage von Geflüchteten erläutert, sowie Zahlen und Statistiken
vom UNHCR2 gezeigt, um einen Überblick über das Thema zu gewinnen. In Kleingruppen
wurden anschließend die verschiedenen Bezeichnungen, die im Zusammenhang mit
Migration auftauchen, wie z.B. ‚Flüchtling‘, ‚Illegale_r‘, ‚Asylant‘ etc. beleuchtet und
kritisch hinterfragt. Die Ergebnisse der einzelnen Gruppen wurden danach mit den
anderen Teilnehmenden geteilt. Informative Literatur zu dem Thema findet sich hier.
Nach diesem theoretischen Input und einer Präsentation zu politischen
Rahmenbedingungen, in der Frontex, das Dublin-Verfahren und auch die verschiedenen
Migrations-Schritte geklärt wurden, ging es mit einem Stadtrundgang weiter. Dieser
legte den Fokus auf die Lebenswelt und den Alltag von Menschen, die als Illegalisierte
United Nations High Commissioner for Refugees. Der UNHCR ist das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten
Nationen. www.unhcr.de
2
9
10
WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort
oder Geflüchtete in Hamburg leben. Die Referent_innen führten die Teilnehmer_innen
durch Altona und St. Pauli und machten an vielen Stellen halt, um den Alltag und die
Lebenswelt von Geflüchteten zu beleuchten, z.B. bei ‚MoneyGram‘, einem
Finanzunternehmen, welches Geldtransfers in andere Länder anbietet. In diesem
Zusammenhang gingen die Referentinnen auch auf die Bedeutung von ‚Remittances‘ ein,
also Rücküberweisungen von Migrant_innen an Verwandte und Bekannte in ihren
Heimatländern. Nach zahlreichen weiteren Stationen war die St. Pauli Kirche letzte
Station. Die Kirche hatte viele Geflüchtete der Gruppe ‚Lampedusa in Hamburg‘
aufgenommen.
Gerecht ist, wenn alle Menschen nicht nur grundsätzlich gleiche Rechte
haben, sondern gleicher Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung,
Wohnraum oder Arbeit unabhängig von Herkunft, Religion, Aussehen,
Bildungsstand usw. gewährleistet ist. Gerechtigkeit kann nur dann
annähernd erreicht werden, wenn Ungleichbehandlung kein politisches
Kalkül mehr ist.
In unserem Workshop ging es um „das Recht zu bleiben“, was in Hamburg
vor allem durch die Gruppe „Lampedusa in Hamburg“ sehr präsent ist. Bei
der Auseinandersetzung mit den komplexen Themen Migration, Asyl, Flucht
und Aufenthaltsrecht wird besonders das Maß an Ungerechtigkeit im
politischen System (Deutschland) sichtbar. Am Anfang steht aber immer
wieder ein großes Unverständnis hinsichtlich der „Ungerechtigkeit“ in
diesem Bereich, wie zum Beispiel rassistische Kontrollen oder Willkür bei
der Vergabe von Duldung und Aufenthaltstiteln.
Anne Kimm und Henriette Reichwald
Abbildung 5: Was ist gerecht? Anne Kimm und Henriette Reichwald von Grenzgänger
1.2 Vom Recht auf… Raum
Wie bereits oben erwähnt, sollte die Debatte um das Recht auf Raum exemplarisch
zeigen, welchen Einfluss Machthierarchien auf Gerechtigkeit haben bzw. wie machtlos
Einzelne um ihr Recht auf Raum kämpfen. Zudem wollen wir mit unseren
Veranstaltungen stets aktuelle Diskurse aufgreifen. Es lag daher nahe auf die
Verdrängungsprozesse und Umsiedlungsmaßnahmen im Rahmen der zur Zeit der
Veranstaltungsreihe stattgefundenen Fußballweltmeisterschaft der Männer in Brasilien
einzugehen. Auch hier sollte ein eher von sachlicher Diskussion geprägtes Format noch
durch einen emotionaleren Zugang zum Thema ergänzt werden. Besonders Bilder
können oft eine Eindringlichkeit vermitteln, die Diskussionen nur umschreiben können.
Deshalb schauten wir durch die Augen des renommierten türkischen Regisseurs Can
Projektdokumentation
Dündar rückblickend auch noch einmal auf die Proteste rund um den Gezi-Park in
Istanbul. Die Machtmechanismen und Fragestellungen beider Situationen – Brasilien
und Istanbul – ähnelten sich dabei und an beiden Beispielen konnten im Anschluss mit
dem Publikum Fragen nach unterschiedlichen Auffassungen und Empfindungen von
Recht und Unrecht diskutiert werden.
1.2.1 Das Beispiel Brasilien – Kapitalistische Stadtgestaltung und Orte
des Widerstandes im Kontext von WM und Olympia
Vortrag und Diskussion am 25. Juni 2014, 19.30 Uhr.
Mit Katharina Schmidt (Geographin, Uni Hamburg), Sebastian Hilf (Stadtforscher,
Geograph, Berlin). Moderation: Nicole Vrenegor (Open School 21, Hamburg
entwickeln für Eine Welt).
Veranstaltet in Kooperation mit ‚Hamburg entwickeln für Eine Welt‘
Die Austragung der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer und die damit verbundenen
Verwertungsstrategien der auf ökonomischen Gewinn orientierten Stadtgestaltung
führten in vielen brasilianischen Städten zu massiven sozial-räumlichen
Umstrukturierungsprozessen, die das Leben, Arbeiten und Wohnen vieler
Bewohner_innen beeinflussten.
Abbildung 6: Ausschnitt aus der Präsentation von Katharina Schmidt und Sebastian Hilf
11
12
WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort
Vor allem Wohnraum wurde dabei zu einem kostbaren und umkämpften Gut. Diese
Zusammenhänge stellten Katharina Schmidt und Sebastian Hilf in ihrem Vortrag dar
(siehe die dazugehörige Präsentation).
Die Referentin Katharina Schmidt hat in Tübingen, Rio de Janeiro und Innsbruck
Geographie studiert. In ihrer Masterarbeit hat sie sich mit der Aneignung öffentlicher
Räume und dem Recht auf Stadt in Rio de Janeiro beschäftigt. Sie ist wissenschaftliche
Mitarbeiterin am Institut für Geographie der Uni Hamburg und promoviert zu
Geographien der Obdach- und Wohnungslosigkeit in Hamburg und Rio de Janeiro.
Gemeinsam mit dem Geographen und Stadtforscher Sebastian Hilf hat sie über die
Kämpfe der Sem-Tetos in Rio de Janeiro publiziert.
Schmidt und Hilf erläuterten im Vortrag sowohl die zentralen Aufwertungs- und
Verdrängungsprozesse, als auch den Protest und Widerstand, der sich dagegen
formierte. Im Anschluss ging die Referentin auf Nachfragen aus dem Publikum ein. Es
entstand eine lebhafte Publikumsdiskussion, die durch Nicole Vrenegor, die seit Jahren
bei dem Hamburger Bündnis ‚Recht auf Stadt‘ aktiv und damit gut informiert und
erfahren ist, moderiert wurde. So wurde beispielsweise darüber diskutiert, wie die
Verdrängungsprozesse und die Proteste medial kommuniziert wurden. Fraglich blieb,
ob die Aufmerksamkeit auf Brasilien durch die WM förderlich für die Anliegen der
Bewohner_innen war, oder ob vielmehr während der WM negative Stimmen aus der
Berichterstattung herausgehalten wurden.
1.2.2 Gözdağı – Die Blendung
Film und Gespräch am 23. September, 19.30 Uhr. Regie: Can Dündar
(Dokumentarfilm, TR, 2014, OmU)
Mit Sabine Adatepe (Autorin und Herausgeberin von „GEZi. Eine literarische
Anthologie“).
Um eine andere, aber nicht weniger konfliktreiche Verhandlung des Rechts auf Raum
ging es bei dieser Veranstaltung. Im Gegensatz zur eher von einem sachlichen Vortrag
geprägten Veranstaltung zu Brasilien, ließen wir dieses Mal Bilder sprechen und zeigten
einen Film über die Gezi-Bewegung. Nach dem Film stand Sabine Adatepe für ein
Gespräch zur Verfügung. Sie hat Turkologie, Germanistik und Iranistik studiert. Seit
1990 übersetzt sie freiberuflich aus dem Türkischen, sie hat selbst in Istanbul gelebt und
kennt die Türkei und die gesellschaftliche Situation vor Ort sehr gut. In Hamburg
arbeitet sie als Übersetzerin, führt einen literarischen Blog, schreibt Rezensionen, Essays
und Artikel und dolmetscht für türkische Autor_innen. Speziell mit der Gezi-Bewegung
hat sie sich als Herausgeberin von „GEZi. Eine literarische Anthologie“ (2014)
beschäftigt.
Projektdokumentation
Der gezeigte Dokumentarfilm vom renommierten türkischen Regisseur Can Dündar
hatte in der deutschen untertitelten Version erst drei Tage vorher am 20. September
2014
beim
deutsch-türkischen
Literaturfestival
Literatürk
in
Essen
Deutschlandpremiere. Dort übersetzte Sabine Adatepe für Can Dündar (Homepage des
Filmemachers). Sie berichtete, dass dieser Dokumentarfilm auch für ihn eine neue
Erfahrung gewesen sei, da er sich im Gegensatz zu seinen sonst historischen
Inhalten/Themen, mit dem Film einem Ereignis näherte, das aktuell und noch immer in
vollem Gange war.
Der Frühsommer des Jahres 2013 war der Beginn der Gezi-Bewegung. Aus einer
Handvoll Parkschützer_innen wurde ein Massenprotest von Hunderttausenden. Je
brutaler die Polizei vorging, desto mehr Menschen kamen zusammen. Can Dündar, war
mit seinem Kamerateam von Anfang an vor Ort. Sechs junge Männer, die bei Gezi ein
Auge verloren haben, erzählen darin, warum sie dabei waren, was sie erlebten und wie
ihnen ein Auge genommen wurde. Ganz dem Geist von Gezi entsprechend, montiert
Dündar aufwühlende eigene Aufnahmen aus der heißen Phase in Taksim und Gezi unter
anderem mit Medienmeldungen, Twitternachrichten, Handyvideos, Telefonmitschnitten
und Graffiti zu einer filmischen Dokumentation, die zugleich Anklage ist. Einen Eindruck
zum Film liefert auch der Trailer. Im Anschluss an den Film wurde gemeinsam mit
Sabine Adatepe über die Zeit nach dem Gezi-Protest gesprochen.
GEZI war damit die am besten dokumentierte Protestbewegung, die von einem
ehrenamtlichen Team erstellt wurde. Die musikalische Begleitung zur Dokumentation
lieferte Fazil Say, der bereits zweimal in den Laiszhallen in Hamburg zu Gast war,
ebenfalls als Spende. Die Bewegung brachte unterschiedliche Gruppen und Interessen
wie Umweltschützer_innen, Stadtaktivist_innen und Menschrechtler_innen zusammen.
Da der Film offiziell nicht gezeigt werden durfte, wurde er in den Parks, auf
Veranstaltungen und im Internet gezeigt. Die Rolle der sozialen Medien hatte hier einen
besonderen Wert bekommen. Für sehr interessant wurde von allen befunden, dass sehr
unterschiedliche Kräfte und vielfältige Meinungen sich bei dieser Bewegung
zusammengetan und gemeinsam ihre Stimme erhoben haben.
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14
WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort
1.3 Vom Recht auf… Selbstbestimmung
Das Recht auf Selbstbestimmung spielt in vielen Kontexten eine Rolle. Wir wählten den
Fokus auf Selbstbestimmung im Rahmen von Sexarbeit und Migration. Zum einen ist
dies ein Thema, das immer wieder sehr kontrovers diskutiert wird, viele Perspektiven
bietet und zugleich in den Medien oft verkürzt und polemisierend dargestellt wird. Wir
wollten die Frage nach dem Recht auf Selbstbestimmung bei diesen beiden
Veranstaltungen aus der Perspektive derjenigen beleuchten, die ein solches Recht zwar
zugesprochen bekommen, aber nach wie vor mit gesellschaftlicher Stigmatisierung
leben. Die erneute Kombination einer Podiumsdiskussion mit einer Lesung und
Ausstellung sollte zugleich einen sachlichen, wie auch einen künstlerischen Zugang und
Einblick in die Lebenswirklichkeit der Betroffenen ermöglichen. Die Veranstaltungen
zeigten so die Lebenswirklichkeit der Betroffenen und gaben einen realistischen
Einblick in ihre Arbeitswelt fernab von medialen Stereotypisierungen.
1.3.1 Sexarbeit – Eine Welt für sich. Einblicke… in den Berufsalltag von
Sexarbeiter_innen
Lesung und Ausstellung am 2. Juli 2014, 19.30 Uhr.
Mit Elisabeth von Dücker (Kunst- und Kulturwissenschaftlerin), Ulrike Johannson
(Schauspielerin), Andree Knura (Schauspieler).
Die Ausstellung wurde unterstützt durch Komma, Verein für Frauenkommunikation
e.V.
Wenn von Recht, Unrecht und den Rechten bestimmter Gruppen die Rede ist, ist es erst
einmal wichtig, sich deren Lebenssituation anzusehen und die Betroffenen selbst zu
Wort kommen zu lassen. Diesem Anspruch wollten wir in Form einer Lesung und
Ausstellung gerecht werden, die einen Einblick in das Leben von Frauen und Männern,
die mit Sex-Dienstleistungen ihren Lebensunterhalt verdienen, gewährt. Wie leben diese
Menschen auf St. Pauli und anderswo? Die Antworten sind so vielfältig wie die
Erfahrungen und Arbeitsfelder im Sexgewerbe.
Um in die Thematik einzuführen, konnten sich die Zuschauer_innen die Ausstellung
„Einblicke... in den Berufsalltag von Sexarbeiterinnen“ (Wanderausstellung von Komma,
Verein für Frauenkommunikation e.V.) ansehen. Diese basiert auf Interviews, welche die
Historikerin und Genderforscherin Mareen Heying mit Prostituierten und
Sozialarbeiter_ innen geführt hat, und zeigt ergänzend Fotografien von Monica Brauer,
die das ‚Rotlichtmilieu‘ einfangen. Die Ausstellung zeigt die eigene Sicht von
selbstbestimmten Sexarbeiter_innen auf ihre berufliche Tätigkeit. Die Zuschauer_innen
hatten auf diese Weise die Möglichkeit, sich zunächst einmal selbst mit Stimmen von
Sexarbeiter_innen auseinanderzusetzen und ihre Beweggründe zu verstehen, die sie zu
Projektdokumentation
der Tätigkeitswahl führten. Zudem gaben die Zitate auch Einblick in die Akzeptanz bzw.
Nicht-Akzeptanz ihrer Tätigkeiten durch ihr Umfeld.
Nachdem das Publikum genügend Zeit hatte, sich die Ausstellung anzuschauen, gab
Elisabeth von Dücker mit einem kurzen Inputvortrag einen Einblick in die aktuelle
Rechtslage bezüglich Sexarbeit und berichtete von der Entstehung des Buches
„Sexarbeit – Eine Welt für sich“ (Elisabeth von Dücker, Christiane Howe, Beate Leopold,
Museum der Arbeit, 2008), das sie als Mitherausgeberin für das Museum der Arbeit
2008 mitgestaltet hat.
In einer szenischen Lesung trugen anschließend die Schauspieler_innen Ulrike
Johannson und Andree Knura zehn Milieugeschichten aus dem Buch „Sexarbeit – Eine
Welt für sich“ vor. Lebensnah und lebendig, unaufgeregt und ohne Glitzerromantik
erzählte die Lesung von dem vielschichtigen Phänomen Prostitution – zwischen stark
nachgefragter und dennoch verdrängter Schatten-Arbeit sowie krimineller Ausbeutung.
Die Geschichten von Sylvia, die seit 30 Jahren am Fischmarkt anschafft, Ronny, dem
ausgestiegenen Zuhälter oder der Bordellbetreiberin Felicitas waren gleichzeitig
kritische Reflexionen der gesellschaftlichen Stigmatisierung und Doppelmoral. Diese
wirken fort, obgleich das deutsche Prostitutionsgesetz von 2002 den Weg für die
Entkriminalisierung von Sexdienstleistungen und die Gleichstellung mit anderen
Erwerbstätigkeiten frei gemacht hat.
1.3.2 Sexarbeit und Migration
Vortrag und Diskussion am 23. Oktober 2014, 19.30 Uhr.
Mit Johanna Weber (Sexarbeiterin, und politische Sprecherin des ‚Berufsverbandes
für erotische und sexuelle Dienstleistungen‘), Katharina (Erotik-Masseurin mit
Migrationsgeschichte und ‚Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen‘),
Veronica Munk (Koordinatorin der EU-Projekte ‚Tampep‘ und ‚Indoors‘).
Moderation: Tanja Chawla (HAW Hamburg)
Sexarbeiter_innen wird oft unterstellt, dass sie unfreiwillig oder gar unter Zwang ihre
Erwerbsarbeit ausüben. Eine selbständige und freiwillige Entscheidung wird ihnen
damit ebenso aberkannt, wie die eigene Handlungsfähigkeit. Insbesondere der OnlineAppell von Alice Schwarzer gemeinsam mit der EMMA Ende 2013 hat die
undifferenzierte Diskussion über Sexarbeit angeheizt und alle Sexarbeiter_innen zu
‚Zwangsprostituierten‘ stigmatisiert. Dieses Stigma betrifft insbesondere migrantische
Sexarbeiter_innen, da die Debatte direkt mit der Diskussion um Menschenhandel
verknüpft wird. Auch die EU trägt mit ihrer Empfehlung, Kunden von
Sexdienstleistungen zu kriminalisieren und ihnen somit die Arbeitsgrundlage zu
entziehen zu der Entmündigung von Sexarbeiter_innen bei. Wie positionieren sich aber
Sexarbeiter_innen selbst in diesem Kontext? Was sagen sie zu dem Vorwurf, nur
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WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort
privilegierte Sexarbeiter_innen säßen auf den Podien? Wie bewerten Sie ihre
Arbeitsbedingungen und wie sieht ihr Alltag eigentlich aus? Welche politischen
Entwicklungen und Veränderungen gab es seit letztem Herbst auf EU-BRD-Ebene?
Welche Konsequenzen haben diese für Sexarbeiter_innen, insbesondere für
migrantische? Und was plant der ‚Bundesverband erotische und sexuelle
Dienstleistungen‘ an Interventionen?
Abbildung 7: Ausschnitt aus der Präsentation von Veronika Munk
Auf diese Fragen sollten im Rahmen der Veranstaltung Antworten gefunden bzw.
debattiert werden. Die Stigmatisierung von migrantischen Sexarbeiter_innen zu
‚Zwangsprosituierten‘ war zentrales Thema des Vortrags (siehe auch die vollständige
Präsentation) von der selbst im Sexgewerbe tätigen Johanna Weber. In ihrem Vortrag
stellte sie das Prostitutionsgesetz, die aktuellen politischen Entwicklungen und
Diskussionen in der BRD sowie die diesbezüglichen Positionen des Bundesverbands für
erotische und sexuelle Dienstleistungen vor. Anschließend sprach Veronica Munk, von
den EU-Projekten tampep und Indoors, zur aktuellen Lage auf EU-Ebene sowie in den
jeweiligen einzelnen EU-Ländern und problematisierte vor allem die Empfehlung der
EU, die Kunden von Sexarbeiter_innen zu kriminalisieren und ihnen somit die
Arbeitsgrundlage zu entziehen (siehe auch Munks Präsentation, sowie das dazugehörige
Skript). Moderiert von Tanja Chawla entstand eine angeregte Diskussion über den Alltag
und die Arbeitsbedingungen von Sexarbeiter_innen sowie soziale Ausgrenzung bzw.
Projektdokumentation
Tabuisierung in ihrem persönlichen Umfeld. An einen erneuten Kurzvortrag von
Veronica Munk zur Situation von Sexarbeiter_innen in Hamburg (inklusive Zahlen zu
deren Herkunft bzw. Migrationsgeschichte) und der Arbeit von ‚tampep‘ schloss sich
eine Diskussion zu Veränderungen in den letzten Jahren sowohl im Hinblick auf Arbeitsund Lebensbedingungen als auch auf politische und gesellschaftliche Diskurse an. Die
Veranstaltung schloss mit einem Ausblick zu Visionen für die Zukunft seitens der
Diskutant_innen.
Gerechtigkeit ist ein komplexes Konstrukt, dass in wenigen Sätzen nur
schwer zu beschreiben ist. Für mich bedeutet Gerechtigkeit, dass Menschen
in der Lage sind, sich frei in ihrer Persönlichkeit zu entwickeln und zu leben.
Da dies nie im luftleeren Raum geschieht, braucht es Räume der
Auseinandersetzung und Verhandlung. Gerechtigkeit kann das Ergebnis
dieses dynamischen Prozesses sein, welcher auch kontextabhängig zu
verorten ist. Dass innerhalb dieser Prozesse Macht- und
Herrschaftsverhältnisse berücksichtigt werden müssen, ist dabei ebenso
selbstverständlich wie eine konsequente Umverteilung von Ressourcen und
die kontinuierliche Reflexion von Ein- und Ausschlüssen von Menschen,
Identitäten oder Lebensentwürfen.
Tanja Chawla
Abbildung 8: Was ist gerecht? Tanja Chawla
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18
WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort
2. Multiplikator_innen Workshops – von Unrecht und Recht
in der globalen Bildungsarbeit
Gerade in der globalen und interkulturellen Bildungsarbeit sind Gerechtigkeit und die
Thematisierung von Rechten ein großer Bestandteil. Viele Initiativen, Vereine und
Projekte sehen globale Gerechtigkeit als Teil ihres Leitbildes und ihrer Ziele.
Veranstaltungen sensibilisieren für Ungerechtigkeiten in bestimmten Kontexten oder
Ländern. Doch selten werden die eigenen Praktiken, Formate, Wordings und Inhalte auf
den Prüfstein gelegt. Deshalb sollten diese Workshops einen kritischen Blick auf die
globale und interkulturelle Bildungsarbeit selbst werfen. Inwiefern schaffen es NGOs aus
diesem Bereich, wie beispielsweise die W3, mit ihrer Arbeit den eigenen Ansprüchen
von Gerechtigkeit zu entsprechen? Wo liegen Fallstricke unbewusster Rassismen und
Kulturalisierungsmuster in der globalen Bildungsarbeit?
2.1 Nach bestem Wissen und Gewissen?
Rassismus in Text und Bildsprache in der entwicklungspolitischen
Öffentlichkeitsarbeit
Workshop am 26. September, 10 bis 17 Uhr.
Mit Jasmine Rouamba (AntiBias-Trainerin, Soziologin).
In Kooperation mit der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V. und dem
Eine Welt Netzwerk Hamburg e.V.
Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Ziel der globalen Bildungsarbeit und der
entwicklungspolitischen Projektarbeit ist es, auf bestehende Ungleichheiten
aufmerksam zu machen und diese zu kritisieren. Doch greifen gerade Spendenwerbung,
Informationsveranstaltungen und Publikationen aus diesem Themenbereich häufig auf
Bilder und Begrifflichkeiten zurück, die Stereotype reproduzieren und ihren Ursprung in
Wissen haben, das durch rassistische Strukturen geprägt wurde.
Der Workshop reflektierte diesen Widerspruch: Mit welchen Bildern und
Begrifflichkeiten arbeiten viele in der globalen Bildungsarbeit, wie wirken diese
zusammen und welches Wissen und welche Muster liegen ihnen zugrunde? Der
Workshop sollte Multiplikator_innen der (entwicklungs)politischen Bildungsarbeit und
Journalist_innen hierfür sensibilisieren. Denn nur wenn die eigenen Handlungen immer
wieder hinterfragt und reflektiert werden, kann die entwicklungspolitische Arbeit
effektiv und solidarisch sein. Dafür sollte im Workshop die Frage, wie eine praktische
Umsetzung der erarbeiteten Ergebnisse aussehen könnte, um möglichst
vorurteilsbewusste, aufmerksamkeitsstarke und allgemein verständliche Bilder und
Texte zu produzieren, geklärt werden. Mit einer bewussteren Öffentlichkeitsarbeit kann
die entwicklungspolitische Arbeit insgesamt verbessert werden.
Projektdokumentation
Um sich dem Thema zu nähern, ließ die Referentin Jasmine Rouamba die
Teilnehmenden zunächst erarbeiten, was Rassismus bedeutet. Anschließend gab die
Referentin einen kurzen Input zum Rassismusbegriff und stellte dabei
Argumentationsstrukturen der kritischen Weißseinsforschung vor und verwies auf
Werke von Noah Sow. In diesem Zusammenhang wies sie auch auf wiederkehrende
Dichotomien (Weiße vs. Persons of Color) und Zuschreibungen hin, die zu rassistischen,
exotisierenden oder stereotypisierenden Bildern führen. Am Beispiel eines Textes zu
rassistischen Spendenwerbeplakaten (Aus: Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag
(2013): Developmental Turn. Neue Beiträge zu einer rassismuskritischen
entwicklungspolitischen Bildungs- und Projektarbeit) arbeiteten die Teilnehmenden
verschiedene rassistische Aspekte von Spendenkampagnen heraus. Im weiteren Verlauf
des Workshops stellte die Referentin verschiedene Werbefilme oder Plakatkampagnen
unter dem Aspekt von stereotypisierenden Strukturen zur Diskussion. Zum Abschluss
bildeten sich kleine Arbeitsgruppen, um Fragestellungen aus der eigenen
entwicklungspolitischen Bildungsarbeit speziell der Öffentlichkeitsarbeit zu bearbeiten,
die später in der großen Runde vorgestellt und diskutiert wurden. Zum Beispiel wurde
ein neu entwickelter Flyer unter dem Gesichtspunkt von reproduzierenden
Machtstrukturen analysiert. Zudem wurde der Frage nachgegangen, wie damit
umzugehen ist, wenn People of Color selbst mit stereotypisierenden Mustern in der
Bewerbung eigener Veranstaltungen spielen. Zur weiteren Beschäftigung mit dem
Thema, siehe auch diese Literaturliste, bereitgestellt von Jasmine Rouamba.
2.2 „Vom vornehmen Wort Kultur“
Kritische Auseinandersetzung mit Inter-/Transkulturellem Lernen
Workshop am 10. Oktober, 10 bis 17 Uhr.
Mit Kristina Kontzi und Timo Kiesel (Trainer_innen von glokal e.V.).
In Kooperation mit der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V. und dem
eine Welt Netzwerk Hamburg e.V.
In verschiedenen Bereichen der kulturellen Arbeit und in pädagogischen Ansätzen wird
dem Konzept Kultur ein zentraler Stellenwert eingeräumt: Sei es im Bereich
‚interkultureller‘ Ansätze, globaler Bildungsarbeit oder Jugendbegegnungen. Dem gut
gemeinten Verständnis für oder besonderen Interesse an ‚anderen Kulturen‘ liegt
unbewusst oft ein starres Kulturkonzept zugrunde, durch das Menschen schnell auf ‚ihre
Kultur‘ oder vermeintliche Herkunft reduziert werden. So werden Stereotype und
Diskriminierungen eher bestärkt als aufgelöst und ‚Kultur‘ in bestimmten Kontexten als
der prägende Faktor für Wesensart und Handeln von Individuen herangezogen. „Das
vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein
bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch“, hatte bereits Adorno angeklagt.
Bildungsreferent_innen geraten deshalb – oft unwissentlich und entgegen der eigenen
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20
WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort
Intention – in der pädagogischen Praxis in Fallstricke der Exotisierung,
Homogenisierung und des Kulturalismus. Dieser Workshop richtete sich deshalb vor
allem an Multiplikator_innen der globalen und interkulturellen Bildungsarbeit. Ziel war
es, ergänzend zum ersten Workshop, durch einen reflektierten Umgang mit dem Begriff
‚Kultur‘ eine solidarischere und effektivere entwicklungspolitische Arbeit zu
ermöglichen und so einen Theorie-Praxis-Transfer für die Bildungsarbeit zu erreichen.
Zu Beginn des Workshops befragten die Referent_innen von glokal e.V. die
Teilnehmenden zu ihren Einstellungen gegenüber verschiedenen Zitaten zum
Kulturbegriff und machten dadurch das extrem weite Feld auf, in dem mit dem
Kulturbegriff gearbeitet wird. Im Anschluss gab es einen kurzen Inputvortrag der
Referierenden mit welchem Kulturbegriff sie arbeiten. Dazu stellten sie Ansätze der
postkolonialen Theorie vor und machten deutlich, dass es vor diesem Hintergrund
wichtig sei zu hinterfragen, wer aus welcher Position in welchem Kontext über wen oder
was spricht. In diesem Zusammenhang gingen sie auch auf Kulturellen Rassismus und
die Ursprünge von Konzepten wie Interkultur und Transkultur ein.
Abbildung 9: Exemplarische Kulturkonzepte, Foto vom Workshop „Vom vornehmen Wort Kultur“
am 10.10.2014
Nach diesem eher theoretischen Start, der eine gemeinsame Wissensbasis über die
Problematisierung des Kulturbegriffs schaffen sollte, ging es zum Praxistransfer. Hier
stellten die Referent_innen verschiedene Materialien aus der entwicklungspolitischen
und interkulturellen Bildungsarbeit zur Diskussion. Einige Teilnehmende hatten eigene
Fragestellungen mitgebracht. Die Teilnehmenden untersuchten in kleinen AGs mit
vorher besprochenen Analysefragen gängige interkulturelle Übungen (wie z.B. Power
Flower, Typisch Deutsch, Interkulturelles Mau Mau) auf den darin verwendeten
Kulturbegriff. Dieses Fotoprotokoll dokumentiert die Inhalte und Arbeitsschritte im
Workshop.
Projektdokumentation
Von Anfang an machten die Referent_innen von glokal e.V. deutlich, dass es nicht darum
gehen kann, zu sagen, dass es eine falsche und richtige Verwendung des Begriffs gibt.
Vielmehr wollten sie den Multiplikator_innen Analysefragen an die Hand geben, mit
denen sie ihre eigene Arbeit und Materialien von Bildungsträger_innen prüfen können.
So können sie ihren eigenen Umgang mit dem Kulturbegriff im Rahmen
entwicklungspolitischer und globaler Bildungsarbeit überdenken und einen sensibleren
Umgang mit dem Begriff auch in ihren eigenen Trainings etc. weitergeben. Um sich
weiter mit dem Thema zu beschäftigen, bieten diese Literaturhinweise der
Referent_innen eine Ausgangsbasis.
3. Reden wir über… Gerechtigkeit: Was sagt die Theorie?
Im dritten Teil der Schwerpunktreihe ‚WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und
dort‘ sollte es nochmal um aktuelle Diskurse, Konzepte, Debatten und Perspektiven, die
in Verbindung mit dem Thema globale Gerechtigkeit stehen, gehen.
Wissenschaftler_innen unterschiedlicher Disziplinen gaben in einführenden Vorträgen
einen Überblick über aktuelle Diskurse und Strömungen zu Fragen rund um globale
Gerechtigkeit.
3.1 Reden wir über… Eine Welt
Blick zurück nach vorn: Geschichte und Perspektiven der Eine-WeltBewegung
Vortrag am 22. Oktober um 19.30 Uhr.
Mit Claudia von Braunmühl (Politikwissenschaftlerin, Honorarprofessorin an der
Freien Universität Berlin).
Moderation: Nicole Vrenegor (Open School 21, Hamburg entwickeln für Eine Welt).
In Kooperation mit ‚Hamburg entwickeln für Eine Welt‘.
Für viele Einrichtungen und Projekte, die sich mit globalem Lernen, Entwicklungspolitik
und Anti-Rassismus-Arbeit beschäftigen, ist globale Gerechtigkeit Vision und Mission. So
sind diese Projekte, wie auch die W3, aus der Tradition der solidarischen Bewegung
oder der ‚Eine-Welt-Bewegung‘ heraus entstanden. Wir widmeten uns daher dieser
Bewegungsgeschichte. Welche Rolle spielten Studentenbewegung, Kirchen,
Internationalismus? Was bedeutet die zunehmende Institutionalisierung der Bewegung?
Mit Claudia von Braunmühl, in den 1980er Jahren von der ZEIT als „ungeliebte Expertin“
tituliert, wollten wir aus einer kritischen Perspektive diskutieren, was wir aus der
Vergangenheit lernen können. Die Politikwissenschaftlerin arbeitet neben ihrer
Tätigkeit an der FU Berlin auch als unabhängige entwicklungspolitische Gutachterin und
Beraterin für internationale Organisationen und NGOs.
21
22
WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort
Dieser Vortrag bildete den Auftakt der „Reden wir über…“-Vortragsreihe zum Thema
Globale Gerechtigkeit. Vorbereitend für die weiteren drei Vorträge (siehe 3.2, 3.3 und
3.4) war das Ziel dieses Vortrags, einen Überblick über die Anfänge der
Solidaritätsbewegung zu geben und Beweggründe und Hintergründe verschiedener
Bewegungen zu schildern. Claudia von Braunmühl teilte zu diesem Zweck die
Bewegungen in drei Phasen ein: die Solidaritätsbewegung, die Dritte-Welt-Bewegung
und die Globalisierungskritik. Außerdem stellte sie die Umstände dar, die jeweils zu der
Weiterentwicklung / Veränderung der Ziele und Organisationsformen der Bewegungen
führten. So wandelte sich beispielsweise die Solidaritätsbewegung, die sich vor allem als
Unterstützung der kolonialen Befreiungsbewegung verstand und auch emanzipierte
Gewalt befürwortete, hin zu einer organsierteren, eher pazifistisch eingestellten DrittenWelt-Bewegung, die sich auf bestimmte Punkte, wie beispielsweise ‚Fair Trade‘,
konzentrierte, sich kritisch mit Modernisierungs- und Entwicklungsstrategien
auseinandersetze (ohne ein neues Modell zu haben) und sich mit festen Arbeitsplätzen
auch zunehmend institutionalisierte und verstetigte. Diese Bewegung wurde Ende der
80er Jahre / Anfang der 90er Jahre zunehmend von der Globalisierungskritik abgelöst,
die u.a. als Reaktion auf Margaret Thatchers Aussage „There is no alternative“ die
wachsende Globalisierung und den damit verbundenen Ansatz, Länder könnten sich nur
über Marktmechanismen von der Armut befreien, kritisierte. Die Strahlkraft dieser
Bewegung war laut Claudia von Braunmühl sehr weit, da sie verschiedene Szenen
miteinander vereinte und auch die Länderfokussierungen einzelner Initiativen nahmen
ab und konzentrierten sich stattdessen auf globale Zusammenhänge.
Der aktuellen Postwachstum- / Degrowth-Bewegung schreibt Claudia von Braunmühl
das Potenzial zu, eine neue vierte Bewegungsphase einzuleiten, die vor allem ungleiche
Verteilung, imperiale Lebensweisen und strukturelle Gewalt kritisiert und zu
überwinden versucht. Als Fazit schloss Claudia von Braunmühl ihren etwa 30minütigen
Inputvortrag mit der Erkenntnis, dass es nicht mehr wie in den Anfängen einen
spezifischen Punkt gäbe, an dem sich Solidarität äußern könne, sondern eigentlich
müsse jeder Punkt unseres Lebens unter der Fragestellung der Solidarität betrachtet
werden – Stichwort: globale Verantwortung.
Im Anschluss an den Vortrag führte Nicole Vrenegor in die sehr angeregte Diskussion
mit dem Publikum ein. Unter anderem wurde auch die Frage nach Begrifflichkeiten wie
‚Dritte Welt‘ und ‚Globaler Süden‘ gestellt. Hierzu meinte Claudia von Braunmühl, dass es
nach wie vor „hilflose Ausdrücke für Ungleichheit“ seien und sich im Grunde genommen
nur sprachlich etwas ändere, aber die neuen Begrifflichkeiten nicht wirklich etwas an
den Zuschreibungen und strukturellen Gegebenheiten änderten. Viel diskutiert wurde
auch die Rolle der Zivilgesellschaft heute und ob „die Bewegung auf der Straße tot“ sei,
da sie sich schon zu sehr institutionalisiert habe. Dies wurde aber nicht allgemein so
pessimistisch gesehen, stattdessen gab es Verweise auf digitale Kampagnen und
beispielsweise ‚CorA‘ als eine Initiative mit großer Wirkung auf lokaler Ebene. Allerdings
wurde festgestellt, dass sich Bewegungen nur selten über mehrere Generationen hinweg
tragen würden und somit auch Wissen verloren gehe. Zuletzt wurde noch die Frage
Projektdokumentation
gestellt, ob der Begriff der Solidarität nicht auch ein imperialer sei. Da aber
Veränderungsmodelle auch im Norden greifen müssten (z.B. Degrowth), müsse man den
Begriff nicht imperial lesen. Zudem sei es wichtig, als Zivilgesellschaft gute Ansätze zu
unterstützen, wie z.B. auch Konzepte des ‚Buen Vivir‘ oder den Regenwaldfonds. Als
wesentlichen Punkt hob Claudia von Braunmühl zuletzt noch hervor, dass der
Zivilgesellschaft ebenfalls eine zentrale Rolle zukomme bezüglich der
besorgniserregenden Tendenz einer zunehmenden Militarisierung der Politik und des
Denkens. Dieser Vortrag und die Diskussion schufen somit eine Basis für die
tiefergehende Auseinandersetzung mit den Themen Entwicklungspolitik und
Gerechtigkeit.
3.2 Reden wir über… Entwicklung
Der Entwicklungsdiskurs – Post-Development und postkoloniale
Perspektiven
Vortrag am 12. November 2012, 19.30 Uhr.
Mit Prof. Dr. Martina Neuburger (AG Kritische Geographien globaler Ungleichheiten,
Universität Hamburg).
Moderation: Lena Egetmeyer
Entwicklungszusammenarbeit wird oft als ein Versuch dargestellt, globale Gerechtigkeit
praktisch in die Tat umzusetzen. ‚Entwicklungshilfe‘, wie sie in den 1950er Jahren vor
allem von den ehemaligen Kolonialmächten geprägt wurde, befindet sich jedoch
zunehmend in der Kritik. Sowohl die Vorstellung von ‚entwickelten‘ gegenüber
‚unterentwickelten‘ Regionen als auch die eigentlichen Ziele von Entwicklungspolitik
werden mehr und mehr hinterfragt. Deshalb sollte es im zweiten Vortrag um die Frage
gehen, ob man überhaupt mit dem Entwicklungsbegriff arbeiten sollte und inwiefern
dieser gerecht sein kann.
Martina Neuburger, Professorin für integrative Geographie an der Universität Hamburg,
gab im Rahmen dieser Veranstaltung einen Überblick über Argumente für und wider die
Entwicklungszusammenarbeit. Als Mitglied der Arbeitsgruppe Kritische Geographien
globaler Ungleichheiten beschäftigt sie sich mit bestehenden Ungleichheits- und
Machtverhältnissen. Sie hat verschiedene Forschungen zu diesem Thema veröffentlicht,
unter anderem den Sammelband: „‚Entwicklungsländer‘? Verwickelte Welten - Auf der
Suche nach Norden und Süden“ (2013).
Zu Beginn ihres Vortrages (siehe auch ihre Präsentation) stellte sie zunächst einige
gängige ökonomische und soziale Indikatoren vor, die genutzt werden um Entwicklung
zu beschreiben und definieren, sowie verschiedene Theorien von Entwicklung seit den
1950er Jahren (von Modernisierungs- über Dependenz- und Weltsystemtheorien, bis
hin zu postkolonialen Ansätzen) und deren unterschiedliche Ansätze, Ungleichheiten zu
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24
WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort
erklären. Anschließend warf sie mit dem Post-Development-Ansatz die Frage auf, ob der
Begriff der Entwicklung aus unterschiedlichen Gründen nicht völlig überholt sei. Hier
nannte sie zum einen das Ende des Ost-West-Konflikts und damit die Sinnlosigkeit der
Einteilung in drei Welten, zum anderen ein verstärktes Aufkommen sozio-ökologischer
Folgewirkungen des Entwicklungsmodells aus dem ‚Norden‘, welche bestehende
Entwicklungen in Frage stellten, aber auch das Sichtbarwerden von Fehlschlägen
bestehender Entwicklungspolitiken. So zeigte Martina Neuburger aus der Sicht der
geographischen Entwicklungsforschung auf, wie sich der Entwicklungsdiskurs nicht nur
aus normativer Sicht überholt habe.
Die postkoloniale Kritik geht laut Neuburger sogar noch einen Schritt weiter als PostDevelopment-Ansätze. Sie stellt diskursanalytisch die Frage, wer in welchem Kontext
den Begriff der Entwicklung und Konzepte, die damit im Zusammenhang stehen,
benutzt; wer bestimmt, was damit gemeint ist und was das Ziel von Entwicklung sei.
Postkoloniale Ansätze betonen das Fortdauern kolonialer Herrschaftssysteme und der
sie legitimierenden Diskurse. Aus dieser Perspektive seien Entwicklungspolitik und zusammenarbeit generell als paternalistisch und eurozentristisch zu bezeichnen.
Zum Abschluss veranschaulichte Martina Neuburger die postkoloniale Kritik an
Entwicklungspolitik und -forschung anhand des Beispiels eines eigenen
Forschungsprojektes zu Gletschern und Wasserknappheit in Peru. Auch ihr
Forschungsteam sei häufig in die Falle des Eurozentrismus getappt, gerade was die
Frage anging: Wer forscht über wen bzw. was? Wer ist scheinbar objektiver Betrachter,
wer wird zum Forschungsobjekt? Sie ging aber gleichzeitig auch auf Versuche ein, diesen
Dilemmata zu entgehen, z.B. durch Einbeziehung der lokalen Bevölkerung bereits in die
Definition des Forschungsproblems sowie einen ständigen Prozess der Selbstreflexion.
Dennoch wurde anschließend aus dem Publikum die Legitimität von westlicher
Forschung in Ländern des sogenannten Globalen Südens grundsätzlich in Frage gestellt.
Dies vor allem, wenn Probleme erforscht würden, die nur in den Augen des Forschenden
ein Problem darstellen und somit Lösungen produziert würden, die für die Menschen
vor Ort keinen Sinn machen beziehungsweise unnötig seien, da das Problem in ihren
Augen an anderer Stelle liegt. Neuburger entgegnete, dass es vorschnell sei, der
Wissenschaft generell jegliche Legitimität abzusprechen. Forschung sei nach wie vor
wichtig, um offene Fragen zu beantworten, Wissen zu produzieren und Zusammenhänge
aufzuzeigen und sichtbar zu machen.
Als Fazit der Veranstaltung lässt sich festhalten, dass moralische Begriffe wie Solidarität
und Gerechtigkeit, die zentrale Bezugspunkte der Themenreihe darstellten, aus
postkolonialer Perspektive schwer füllbar sind bzw. keine allgemein gültigen
Definitionen erfahren können. Vielmehr gibt diese Form der Kritik einen Auftrag zur
Selbstreflexion und -positionierung innerhalb eines globalen Systems von Macht und
Ungleichheiten.
Projektdokumentation
Gerechtigkeit ist Vielfalt ohne Hierarchien.
Prof. Dr. Martina Neuburger
Abbildung 10: Was ist gerecht? Martina Neuburger
3.3 Reden wir über… Menschenrechte
Der Universalismus der Menschenrechte und seine relativistischen
Gegner_innen
Vortrag am 19. November, 19.30 Uhr.
Mit PD Dr. Arnd Pollmann (Philosophisches Seminar, Universität Hamburg,
Mitherausgeber der Zeitschrift für Menschenrechte).
Moderation: Lena Egetmeyer
Wenn es um globale Gerechtigkeit geht, dienen Menschenrechte oft als Anker und
Richtwert. Doch auch der universelle Anspruch der Menschenrechte ist umstritten.
Gegner_innen, die einen kulturrelativistischen Ansatz vertreten, sehen Menschenrechte
nicht per se als übertragbar auf alle Kulturen an. Arnd Pollmann näherte sich diesem
Thema aus philosophischer Sicht. Der Philosoph, Mitherausgeber der Zeitschrift für
Menschenrechte und Mitbegründer der Arbeitsstelle Menschenrechte der Otto-vonGuericke-Universität Magdeburg lehrt derzeit er an der Universität Hamburg Praktische
Philosophie.
In Pollmanns Vortrag ging es um die moralischen Grundlagen der Menschenrechtsidee
und um die Frage, was genau ihr Anspruch auf ‚Universalität‘ bedeutet und mit welchen
Argumenten dieser von Kulturrelativist_innen angefochten wird. Einleitend stellte er
klar, dass das Ziel der Menschenrechte generell sei, die Würde des Menschen zu
bewahren. Dies bedeute, es gehe zwar um mehr als lediglich das „nackte Überleben“,
aber gleichzeitig nicht um das „gute Leben“. Anschließend zeigte Arnd Pollman
anschaulich und sehr verständlich Argumente der Kritik an den Menschenrechten und
jeweils auch die direkte Antwort der Universalismusvertreter_innen auf. In Bezug auf
die Kritik machte er verschiedene Unterscheidungen: Es gebe Formen der Kritik an den
Menschenrechten, die sich auf den Anspruch der allgemeinen Gültigkeit bezögen und
somit den Wert mancher Menschen generell in Frage stellten. Diese seien aber
glücklicherweise nicht besonders verbreitet. Die gängigste Form der Kritik an den
Menschenrechten seien hingegen relativistische Einwände. Diese bezögen sich im Kern
auf den Anspruch der ‚egalitären‘ Geltung und argumentierten in verschiedenen
Variationen, dass die Menschenrechte ein westliches Konzept seien, das aufgrund seiner
spezifischen Wertegrundlage nicht ohne weiteres auf andere kulturelle Kontexte
übertragen werden könne. Das Konzept der Menschenrechte sei somit eurozentristisch.
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WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort
Arnd Pollmann argumentierte demgegenüber, das Konzept der Menschenrechte3 sei
zwar im Westen entstanden, beinhalte aber keine Wertvorstellungen, die aufoktroyiert
würden. Vielmehr seien die Menschenrechte immer so allgemein formuliert, dass sich
die konkrete Auslegung davon kultur- und gesellschaftsabhängig anpassen ließe. Er
zeigte dies am Beispiel des Menschenrechts auf einen angemessenen Lebensstandard.
Aus menschenrechtlicher Perspektive gehe es darum, einen ‚angemessenen
Lebensstandard‘ für alle Menschen zu gewährleisten, was genau dann ‚angemessen‘
bedeute, könne je nach dem konkreten Kontext aber durchaus variieren.
Neben der allgemeinen und egalitären Geltung impliziere der Anspruch eines
Universalismus zudem, dass die Menschenrechte subjektiv, generell, fundamental,
unverlierbar, unveräußerlich und unteilbar seien. Letzteres bedeute, dass alle
Menschenrechte zugleich gelten müssen und nicht gegeneinander eingetauscht werden
könnten. Das Recht auf Freiheit dürfe also beispielsweise nicht zugunsten des Rechts auf
Sicherheit eingeschränkt werden.
Die Menschenrechte sind laut Arnd Pollmann universell, weil sie die Möglichkeit nach
unterschiedlicher inhaltlicher Ausdifferenzierung und Umsetzung offen halten würden.
Wenn man das Ziel der Menschenrechte, die Würde des Menschen zu sichern, ernst
nehme, werde deutlich, dass die Menschenrechte nur universell sein können. Denn der
Anspruch, ein menschenwürdiges Leben führen zu können, müsse für alle Menschen
gelten.
Zum Abschluss des Vortrags führte Arnd Pollmann den Begriff der ‚Universalisierung‘
ein. Da die Menschenrechte noch nicht überall umgesetzt seien, gebe es noch keinen
tatsächlichen Universalismus der Menschenrechte. Vielmehr handele es sich um einen
Geltungsanspruch, den es erst noch politisch und rechtlich einzulösen gelte, im Rahmen
eines Prozesses der Universalisierung. Zudem wies er darauf hin, dass Gegner_innen
bzw. Kritiker_innen der Menschenrechte selbst i.d.R. keine Opfer von
Menschenrechtsverletzungen seien. Opfer von Menschenrechtsverletzungen würden im
Gegenzug meist für bzw. mit den Menschenrechten argumentieren. Gleichzeitig hielt
Pollmann die Kritik an den Menschenrechten aber für fruchtbar und sehr wichtig, da sie
von Universalismusvertreter_innen konstruktiv genutzt werden könne, um die
Prämissen der Menschenrechte zu erweitern.
Die Diskussion im Anschluss war sehr angeregt und die Fragen aus dem Publikum
gingen sehr in die Tiefe. Ein Einwand war beispielsweise, dass das Konzept der
1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von der Generalversammlung der Vereinten
Nationen proklamiert, dies war die erste Niederschrift des Menschenrechtsgedankens, allerdings
völkerrechtlich noch nicht verbindlich. Erst die zwei 1966 verabschiedeten und 1976 in Kraft getretenen
Zusatzabkommen („Sozialpakt“ und „Zivilpakt“) waren verbindlich und erweiterten und modifizierten die
Erklärung von 1948. Alle drei Abkommen zusammen bilden die Internationale Charta der
Menschenrechte.
Siehe auch http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsinstrumente/vereintenationen/menschenrechtsabkommen.html
3
Projektdokumentation
Menschenwürde selbst wiederum nicht universell sei, sondern auch unterschiedlich
verstanden werden könne. Jede_r habe andere Vorstellungen davon, was benötigt
werde, um die eigene Würde zu wahren. Pollmann erwiderte, dass dies insofern dem
Universalismus der Menschenrechte nicht widerspreche, da die Wahrung der
Menschenwürde ÜBERALL für ALLE das Ziel sei. Die konkrete Umsetzung davon könne
sich aber wiederum an lokalen, regionalen Wertvorstellungen orientieren.
Die Frage, was Gerechtigkeit ist, sorgt immer wieder für erhebliche
Verwirrung. Mögliche Antworten reichen von der vermeintlich einfachen
antiken Losung „Jedem das Seine“ zu überaus komplexen mathematischen
Umverteilungsmodellen. Dabei wird leicht übersehen, dass es sehr
unterschiedliche Güter zu verteilen gilt, wenn es gesamtgesellschaftlich
gerecht zugehen soll: natürliche Ressourcen, Geld, Rechte, Anerkennung,
Gesundheitsvorsorge,
Bildungschancen,
Zukunftsaussichten,
Macht,
Privilegien, Belohnungen für Anstrengungen und Leistungen. In Abhängigkeit
davon, wo genau man hier die Focus setzt, ergeben sich sehr unterschiedliche
Gerechtigkeitskonzeptionen und auch Spannungen. Zum Beispiel: Zählen
Bedürfnisse mehr als Leistungen? Und, wenn ja, warum eigentlich? Und doch
gibt es ein allgemeines, wenngleich konjunktivisches Kriterium dafür, wann
in etwa die Verhältnisse gerecht eingerichtet wären – und zwar dann, wenn
alle Beteiligten gleichermaßen zufrieden bzw. gleichermaßen unzufrieden
sind.
PD Dr. Arnd Pollmann
Abbildung 11: Was ist gerecht? Arnd Pollmann
3.4 Reden wir über… Globale Gerechtigkeit
Entwicklungspolitik als Instrument Globaler Gerechtigkeit
Vortrag am 10. Dezember 2014, 19.30 Uhr.
Mit Dr. des. Dorothea Gädeke (Leibnizforschungsgruppe ‚Transnationale
Gerechtigkeit‘, Goethe-Universität Frankfurt).
Moderation: Nicole Vrenegor (Open School 21, Hamburg entwickeln für Eine Welt)
Im letzten Vortrag der Theoriereihe „Reden wir über…“ zum Thema Globale
Gerechtigkeit wollten wir uns mit zeitgenössischen Gerechtigkeitstheorien beschäftigen.
Leitideen für Gerechtigkeit beziehen sich traditionell auf innerstaatliche Ordnungen.
Wie aber müssen diese mit Blick auf Globalisierungsprozesse und Nord-SüdBeziehungen politisch und philosophisch neu definiert werden? Leitideen für globale
Gerechtigkeit wurden lange unabhängig vom Entwicklungsdiskurs gedacht. Dorothea
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28
WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort
Gädeke gehört zu den wenigen Forschenden, die diese Diskurse miteinander verbinden.
Dadurch schafft die Politikwissenschaftlerin auch für die Arbeit mit
entwicklungspolitischen Fragestellungen neue Grundlagen. Sie ist wissenschaftliche
Mitarbeiterin in der Leibniz-Forschungsgruppe ‚Transnationale Gerechtigkeit‘ an der
Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Theorien globaler
Gerechtigkeit, normative Grundlagen der Entwicklungspolitik sowie gerechte
Migrations- und Flüchtlingspolitik. An konkreten Beispielen im Bereich der Migrationsund Asylpolitik, Entwicklungszusammenarbeit oder Praktiken der externen
Demokratieförderung fragt sie also: Ist das gerecht?
In ihrem Vortrag (siehe auch ihre Präsentation) schlug Dorothea Gädeke den Bogen
zwischen Entwicklungspolitik und Theorien der Gerechtigkeit, so dass die
abschließende Frage diskutiert werden konnte, ob die gegenwärtige
Entwicklungspolitik aktuellen Maßstäben von Gerechtigkeit standhalte. Um sich dieser
Frage zu nähern stellte Dorothea Gädeke zunächst verschiedene Gerechtigkeitstheorien
vor und überprüfte, inwiefern diese auch globale Ordnungen mit berücksichtigten. Sie
markierte vor allem die 1970er Jahre als den Zeitpunkt, ab dem Gerechtigkeit nicht nur
innerstaatlich, sondern auch global verhandelt wurde. Dies sei stark an die Hungersnot
in Äthiopien gekoppelt gewesen, die erstmals eine weltweite Hilfsmaschinerie in Gang
setzte. Der Aufsatz Peter Singers ‚Die Pflicht der Nothilfe‘ sei in diesem Zusammenhang
wegweisend gewesen.
Im Weiteren stellte sie die verschiedenen Argumente der Kosmopoliten (Pflicht zu
institutionalisierter Umverteilung) und Etatisten (freiwillige Nothilfepflicht) vor,
formulierte aber auch die nach wie vor aktuelle Kritik, dass mit der Nothilfe Opfer von
Ungerechtigkeit (Stichwort: Rohstoffprivileg) gleichzeitig zu notleidenden dankbaren
Empfängern gemacht würden und die Gebernationen somit weiter an Macht gewännen,
obwohl sie mitverantwortlich für bestehende Ungerechtigkeitsmuster seien. Als
Vorschläge, wie dieser Ungerechtigkeitsmechanismus aufgebrochen werden könne,
nannte sie eine Reform der Weltwirtschaftsordnung (wodurch Entwicklungspolitik in
globale Strukturpolitik eingebunden würde), von entwicklungspolitischen
Entscheidungs- und von Durchführungsprozessen (Verfahren der wechselseitigen
Rechenschaftspflicht). Gädeke sieht für diese Reformen teilweise schon gute Ansätze.
Nach diesem Inputvortrag führte die Moderatorin Nicole Vrenegor in die Diskussion ein.
Dabei wurde vor allem die Rolle der NGOs diskutiert. Diese sollten in ihrer Rolle
innerhalb der Institutionen gestärkt werden, damit sie Umverteilungsgedanken weiter
voranbringen und die den Institutionen inhärenten Machtstrukturen aufbrechen
könnten. Zudem sei die Funktion von NGOs, Gegenöffentlichkeit zu schaffen und
Machtstrukturen innerhalb der Institutionen offenzulegen und zu kritisieren, sehr
wichtig und notwendig. NGOs unabhängig von Institutionen in ihrer Macht zu stärken,
sah Dorothea Gädeke zumindest kritisch, da diese in diesem Fall keinerlei
Rechenschaftspflicht hätten. Zum Abschluss zitierte sie John Rawls mit den Worten: Eine
Projektdokumentation
realistische Utopie müsse utopisch genug sein, um kritisch zu sein und gleichzeitig
realistisch genug, um Perspektiven zu bieten.
Spontan würde ich so reagieren: Ungerecht ist, wenn Menschen willkürlicher,
d.h. ungerechtfertigter Macht unterworfen sind. Gerechtigkeit erfordert
zunächst Verfahren, die soziale Machtverhältnisse einer wechselseitigen
Rechtfertigung durch die Betroffenen öffnen. Damit ist letztlich eine enge
Verbindung von Gerechtigkeit und partizipativen, deliberativen Strukturen
gegeben, in denen die jeweiligen Akteure selbst konkretisieren, was
Gerechtigkeit fordert.
Dorothea Gädeke
Abbildung 12: Was ist gerecht? Dorothea Gädeke
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WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort
III. Fazit
Mit der Veranstaltungsreihe haben wir versucht uns Antworten auf die Fragen „Was ist
gerecht? Und wie kann Gerechtigkeit erreicht werden?“ im Rahmen der globalen
Bildungsarbeit anzunähern. Bei der Auseinandersetzung mit diesen Fragen ergeben sich
allerdings nicht immer konkrete Antworten, sondern häufig vielmehr Analysefragen für
das eigene Verhalten und die eigene Arbeit, die vor allem notwendig für eine kritische
Reflexion der Rolle von NGOs und anderen Akteur_innen in diesem Bereich sind. Solche
Fragen können beispielsweise sein:
-
-
Wer redet über wen?
Wie ist die Perspektive der Betroffenen?
Welche Machtstrukturen liegen einem Gerechtigkeitskonflikt zugrunde und wie
können diese sichtbar gemacht oder gar durchbrochen werden?
In welcher privilegierten Rolle bzw. Position befindet man sich selbst?
Findet das solidarische Handeln auf Augenhöhe statt? Wem ist das Handeln von
Vorteil?
Welche Ansatzpunkte sind für ein Einwirken im Sinne von mehr globaler
Gerechtigkeit richtig und wirksam? (z.B.: Ist ein Einwirken in Brüssel bei der EU
nachhaltiger und sinnhafter, als Aktionen in den Ländern selbst, die von der EUPolitik betroffen sind?)
Was ist die eigene Verantwortung als Multiplikator_in in diesem Feld und wird
man dieser gerecht?
Uns ist natürlich bewusst, dass eine zwölfteilige Veranstaltungsreihe nur einen kleinen
exemplarischen Einblick in eine so große Fragestellung wie jene der Globalen
Gerechtigkeit liefern kann. An dieser Stelle sollen dennoch die zentralen Ergebnisse
zusammengefasst festgehalten werden:
Zentrale Erkenntnis des Veranstaltungsblocks „Vom Recht auf…“ war zum einen, dass es
oft eine Diskrepanz zwischen dem zugesprochenen Recht und dem subjektiven Erleben
sowie der gesellschaftlichen Anerkennung davon gibt. Zum anderen zeigte sich deutlich,
dass der Zugang zu und die Umsetzung von Rechten nicht immer gewährleistet sind.
Zudem haben die Veranstaltungen, in denen vor allem Betroffene von
Unrechtserfahrungen zu Wort gekommen sind, gezeigt, wie deren Erfahrung stark von
den medial oder mehrheitsgesellschaftlichen Annahmen abweicht. Deshalb ist eine
wichtige Erkenntnis aus diesen Veranstaltungen für die globale und interkulturelle
Bildungsarbeit nicht – wie vielfach der Fall – über Betroffene zu sprechen, sondern mit
ihnen und aus ihrem Erfahrungshorizont heraus.
Die Workshops für Multiplikator_innen zeigten ebenfalls, was für eine gerechte(re)
globale Bildungsarbeit wichtig ist: eine selbstkritische Analyse und Hinterfragung der
eigenen verwendeten Materialien, Bilder und Texte auf versteckte Rassismen und
Reproduktionsmechanismen von Ungleichheiten, Stereotype und Machtasymmetrien.
Projektdokumentation
Dies ist zentral, um dem Anspruch einer global gerechten Arbeit zu entsprechen. Sie
haben die Notwendigkeit und große Verantwortung von NGOs deutlich gemacht,
vorurteilsfreie Bilder und Texte zu produzieren, um nicht in die Falle der immer
wiederkehrenden Stereotypisierungen und Exotisierungen zu tappen.
Abschließend
haben
die
eher
theoretisch
und
diskursorientierten
Vortragsveranstaltungen gezeigt, dass es sich bei der Frage nach globaler Gerechtigkeit
um einen dynamischen Diskurs handelt, der viel Selbstreflexion und kontinuierlicher
Wiederaushandlungen bedarf.
Claudia von Braunmühls Vortrag lieferte die Erkenntnis, dass Solidarität auf nichtpaternalistische oder nicht-imperiale Art und Weise nur umgesetzt werden kann, wenn
Bewegungen und Veränderungsmodelle in einer global vernetzten Welt sich vor allem
auf Ansätze vor Ort konzentrieren und von der Zivilgesellschaft mitgetragen werden.
Der Vortrag von Martina Neuburger zum Entwicklungsbegriff bezog sich auf
Erkenntnisse aus der Postkolonialen Theorie und der Post-Development-Forschung.
Diese bieten zwar nicht unbedingt konkrete Alternativen, aber sie verweisen immer
wieder auf die Notwendigkeit einer Selbstreflexion und -positionierung. Viel zu oft
geschieht auch entwicklungspolitische Bildungsarbeit noch mit einem Gestus
paternalistischer Solidarität und einem Habitus des „über Betroffene…“-Redens anstatt
mit ihnen.
Arnd Pollmann betonte die Wichtigkeit von Menschenrechten als Orientierungspunkt
für eine gerechtere Welt, da sie das Ziel haben, die Würde aller Menschen überall und
immer zu gewährleisten und dabei gleichzeitig Raum für kultur- und
gesellschaftsabhängige Auslegung ließen. Sich für Menschenrechte einzusetzen bzw.
deren universale Umsetzung zu fordern, sei nicht eurozentristisch oder paternalistisch
gegenüber Ländern, in denen die Menschenrechte möglicherweise weniger geachtet
sind. Vielmehr sei es globale Verantwortlichkeit für die Würde eines jeden Menschen.
Dorothea Gädeke verknüpfte in ihrem Vortrag kontemporäre Gerechtigkeitstheorien mit
der Entwicklungspolitik und nannte konkrete Ansätze zur Durchbrechung von
bestehenden Ungerechtigkeitsmechanismen der Entwicklungspolitik:
-
Einbindung der Entwicklungspolitik in globale Strukturpolitik
Reformierung der Weltwirtschaftsordnung und zentraler Institutionen (z.B.
Weltbank, IWF, etc.)
Reformierung der Entscheidungs- und Durchführungsprozesse der
Entwicklungspolitik
Einbeziehung von NGOs in obige Reformen, da diese Umverteilungsgedanken
weiter voranbringen, den Institutionen inhärente Machtstrukturen aufbrechen
und Gegenöffentlichkeit schaffen können.
Abschließend zeigten die Veranstaltungen somit eine Perspektive für eine gerechtere
Welt auf: Neben einer reformierten Entwicklungspolitik könnten vor allem
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WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort
Nichtregierungsorganisationen und Bewegungen der Zivilgesellschaft, wie z.B. aktuell
die Postwachstums-/Degrowth-Bewegung als Akteur_innen zu Umverteilung und
globaler Gerechtigkeit beitragen. Wichtig ist hierbei vernetzte Zusammenarbeit und ein
reflektierter Umgang mit Machtstrukturen und Privilegienverteilung. Die Methoden,
Ansätze, Konzepte und Begriffe von globaler Bildungs-Arbeit müssen dabei immer
wieder selbstkritisch hinterfragt und reflektiert werden, um nicht erneut ungerechte
Strukturen zu reproduzieren. Außerdem verlangt dies, nicht über die Betroffenen zu
sprechen, sondern mit ihnen und sich der eigenen Machtposition bewusst zu sein.
Zukünftig zu behandelnde Themen, die sich daraus für die globale und interkulturelle
Bildungsarbeit ergeben, sind dementsprechend eine intensivere Beleuchtung des
Entwicklungsdiskurses, von Machtstrukturen in der global vernetzten Welt, die
Perspektive der Betroffenen und globale Interdependenzen, die es ermöglichen nicht in
der Ferne, sondern vor Ort und lokal Veränderungen anzustoßen.
Ein neuer Entwicklungsbegriff oder ein neues Verständnis von Entwicklung in der
globalen und interkulturellen Bildungsarbeit sollte sich an Kriterien der Nachhaltigkeit,
der sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit orientieren. All dies kann
als Aufgabe für die W3 und andere Institutionen, NGOs und Initiativen verstanden
werden. Diese Themenreihe lieferte den Impuls für die nötige Selbstkritik und das
Verständnis von Diskursen und Konzepten, sowie aber auch einen Einblick in die
Situation von Betroffenen. Das letzte Wort geben wir in diesem Sinne ab an Mahmood
Falaki, der in seinen Ausführungen zu Gerechtigkeit mehrere Aspekte unserer
Themenreihe zusammenfasst und einen interessanten Einblick in seine Gedanken dazu
gewährt.
Jeder glaubt, dass er „Recht“ hat, egal in welcher Situation oder in welcher
Hinsicht. Kann man aber jedem Recht geben, um so Gerechtigkeit zu
gewährleisten? Jeder interpretiert, was Recht ist, aus seiner Perspektive. Aus
Sicht eines religiösen Menschen wird Gerechtigkeit von Gott bestimmt, die
Menschen müssen dem Wort Gottes gehorchen. Darf man heutzutage solch
tausende Jahre alten Vorstellungen von der Zentralstellung Gottes als
„Rechtfertigungsinstanz“ unterstützen, weil man meint, auf diese Art die
Meinungsfreiheit zu verteidigen? Hier antworte ich mit NEIN, denn das
Göttliche ist absolut und schließt Pluralismus aus. Dieses NEIN gilt ebenso für
alle anderen Ideologien, die die Gesellschaft eintönig und die Menschen
austauschbar und zu Marionetten machen wollen. Wir leben in einer Zeit mit
allen Möglichkeiten und Freiheiten einer rechtsstaatlichen Gesellschaft, in
der Vielfältigkeit in allen Bereichen im Vordergrund steht. Dies sind
Errungenschaften von Aufklärung und Säkularisierung. Voraussetzung einer
pluralistischen, demokratischen Gesellschaftsordnung ist nicht nur die
Freiheit des Andersdenkenden sich zu äußern, sondern die prinzipielle
Bereitschaft dessen Position zu akzeptieren.
Projektdokumentation
Das säkularisierte Ich-Bewusstsein hat mit dem Modernisierungsprozess die
Freisetzung des Individuums aus den "vorherbestimmten" sozial-politisch,
ökonomischen und ideologischen Kontexten ermöglicht. Dieses noch immer
„unvollendete Projekt“ der Modernität, versetzt uns in die Lage, Kants
Vorstellung von Aufklärung folgend, uns des „eigenen Verstandes“ bedienen
und Eigenverantwortlichkeit des Individuums zu erreichen. Insofern ist unter
Gerechtigkeit die Anerkennung der Vielfältigkeit der Individuen und der
Heterogenität der Ideen zu verstehen; Niemanden das Recht zuzugestehen,
Lebensentwürfe zu diktieren. Voraussetzung für Gerechtigkeit ist die
Bereitschaft das Andere als Mitsubjekt für Dialog und Kooperation
anzuerkennen, nicht als Objekt strategischer Einwirkung. Man sollte das
Fremde auf kultureller Basis und humanistischer Grundlage erfassen und
sein Handeln danach ausrichten. Gerechtigkeit bedeutet also, das Andere zu
akzeptieren, solange die der Moderne innewohnende Offenheit, Mündigkeit,
Gesetzmäßigkeit und die Individualität nicht zu beschränken versucht wird.
Das ist nur ein Aspekt der Gerechtigkeit, ein anderer ist die Würde des
Menschen, die in untrennbarer Verbindung mit seiner wirtschaftlichen Lage
steht. Die Finanzmärkte haben in ihrer Gier die bestehende Freiheit
ausgenutzt. Das freie Individuum kann sich nicht entwickeln, solange Armut
herrscht, solange Investmentfirmen Menschen durch die Macht des Geldes
kontrollieren und Politik diktieren, wobei sie schwächeren Bürgern Schaden
zufügen. Wenn Menschen durch die Macht des Geldes arbeitslos oder
obdachlos werden, ist das eine Menschenrechtsverletzung, die unsere Welt
zu einer ungerechten Welt macht. Armut ist ungerecht und niemand sollte für
die Gier der Anderen bezahlen müssen. Armut bedeutet den Verlust von
Freiheit und Würde, den Grundsteinen einer demokratischen Gesellschaft.
Finanzgiganten, wie z. B. Black Rock, die zum größten Teil für die derzeitige
wirtschaftliche Krise und Armut verantwortlich sind, müssen unter Kontrolle
demokratisch legitimierter Regierungen gestellt werden, damit die Welt nicht
ungerechter wird. Durch geeignete Maßnahmen zur Kontrolle solcher
Investmentfirmen und Banken könnte mehr Gerechtigkeit in diesem Bereich
hergestellt werden.
Mahmood Falaki, Autor und Dozent
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WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort
DANKSAGUNG
Wir danken an dieser Stelle auch unseren Förderern des Gesamtprojektes für Ihre
finanzielle Unterstützung und die Geduld, die sie uns entgegengebracht haben bei
unseren konzeptionellen, finanziellen, zeitlichen und personellen Änderungen und uns
damit die Realisierung ermöglicht haben. Ohne die großzügige Unterstützung der
Norddeutschen Stiftung für Umwelt und Entwicklung und des Katholischen Fonds wäre
das Projekt nicht umzusetzen gewesen.
Wir danken ganz herzlich auch all unseren ehrenamtlichen Engagierten und Kolleginnen
u.a. Lisa Grabe, Nina Scheer und Maríe-Line Petrequin für ihre tatkräftige Unterstützung.
Sie haben sowohl bei der Recherche und Planung sowie bei der
Veranstaltungsbetreuung mitgewirkt und uns in besonderen Engpässen wie
beispielsweise krankheitsbedingten Ausfällen zur Seite gestanden.
Projektdokumentation
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