Impressum V.i.S.d.P. Naciye Demirbilek W3 – Werkstatt für internationale Kultur und Politik e.V. Nernstweg 32-34, 22765 Hamburg, Tel. 040 – 39805360 www.werkstatt3.de Die Herausgeberin ist für den Inhalt allein verantwortlich Redaktion & Gestaltung Lena Egetmeyer Imke Bredehöft Titelbild Foto: Kallejipp/photocase Stand Mai 2015 Inhalt: I. Einleitung: WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort 1 II. Dokumentation der Veranstaltungen 4 1. Recht und Unrecht im Fokus 4 1.1 Vom Recht auf… Bleiben 4 1.1.1 Lesung mit Mahmood Falaki: Ich bin Ausländer und das ist auch gut so 5 1.1.2 Workshop mit Grenzgänger: Die Situation von Geflüchteten und Eingewanderten in Hamburg 9 1.2 Vom Recht auf… Raum 10 1.2.1 Vortrag: Das Beispiel Brasilien – Kapitalistische Stadtgestaltung und Orte des Widerstandes im Kontext von WM und Olympia 11 1.2.2 Film: Gözdağı – Die Blendung 1.3 Vom Recht auf… Selbstbestimmung 12 14 1.3.1 Lesung: Sexarbeit – Eine Welt für sich. Einblicke… in den Berufsalltag von Sexarbeiter_innen 14 1.3.2 Diskussion: Sexarbeit und Migration 15 2. Multiplikator_innen Workshops – von Unrecht und Recht in der globalen Bildungsarbeit 18 2.1 Nach bestem Wissen und Gewissen? 18 Rassismus in Text und Bildsprache in der entwicklungspolitischen Öffentlichkeitsarbeit 18 2.2 „Vom vornehmen Wort Kultur“ Kritische Auseinandersetzung mit Inter-/Transkulturellem Lernen 3. Reden wir über… Gerechtigkeit: Was sagt die Theorie? 3.1 Reden wir über… Eine Welt 19 19 21 21 Blick zurück nach vorn: Geschichte und Perspektiven der Eine-WeltBewegung 21 3.2 Reden wir über… Entwicklung Der Entwicklungsdiskurs – Post-Development und postkoloniale Perspektiven 3.3 Reden wir über… Menschenrechte 23 23 25 Der Universalismus der Menschenrechte und seine relativistischen Gegner_innen 25 3.4 Reden wir über… Globale Gerechtigkeit Entwicklungspolitik als Instrument Globaler Gerechtigkeit III. Fazit 27 27 30 Abbildungsverzeichnis: Abbildung 1: Zusammenfassung der Ziele des Projektes ‚WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort‘ .......................................................................................................................................................... 2 Abbildung 2: Cover des Buches „Ich bin Ausländer und das ist auch gut so“, Mahmood Falaki ............ 5 Abbildung 3: Mahmood Falaki bei der Lesung am 23.05.2014 ............................................................... 6 Abbildung 4: Mahmood Falakis Ausführungen und Gedanken zum Exil ................................................ 7 Abbildung 5: Was ist gerecht? Anne Kimm und Henriette Reichwald von Grenzgänger ..................... 10 Abbildung 6: Ausschnitt aus der Präsentation von Katharina Schmidt und Sebastian Hilf ................... 11 Abbildung 7: Ausschnitt aus der Präsentation von Veronika Munk....................................................... 16 Abbildung 8: Was ist gerecht? Tanja Chawla ........................................................................................ 17 Abbildung 9: Exemplarische Kulturkonzepte, Foto vom Workshop „Vom vornehmen Wort Kultur“ am 10.10.2014 ............................................................................................................................................. 20 Abbildung 10: Was ist gerecht? Martina Neuburger ............................................................................. 25 Abbildung 11: Was ist gerecht? Arnd Pollmann .................................................................................... 27 Abbildung 12: Was ist gerecht? Dorothea Gädeke ............................................................................... 29 Projektdokumentation I. Einleitung: WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort Was ist gerecht? Und wie kann Gerechtigkeit erreicht werden? Dies sind Fragen, die uns, die W3 – Werkstatt für internationale Kultur und Politik e.V. seit 35 Jahren in unserer globalen und interkulturellen Bildungsarbeit stets begleiten. Das Leitbild und Dachthema unseres Programmes war dabei von Beginn an und ist nach wie vor Globale Gerechtigkeit. Gleichzeitig orientieren sich unsere Aktivitäten natürlich immer an aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen. Die Gesellschaft, in der wir leben, und die wir auch an anderen Orten der Welt mit unserem persönlichen und kollektiven Handeln hier beeinflussen, befindet sich im stetigen Wandel. Organisationen, Vereine und Initiativen haben die Aufgabe, auf diese gesellschaftlichen Veränderungen mit ihrem entwicklungspolitischen und interkulturellen Bildungsprogramm aufmerksam zu machen. Gleichzeitig tragen sie die Verantwortung ihr Programm und ihre Rolle als NGO in diesem Zusammenhang auch selbst immer wieder zu reflektieren und Inhalte, Formate, Zielsetzungen auf ihre Aktualität, Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit kritisch zu überprüfen. Globale und interkulturelle Bildungsarbeit ist somit einem ständigen Prozess der Neudefinition unterworfen, um den dynamischen gesellschaftlichen, sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklungen gerecht zu werden. 2015 laufen die Millennium Development Goals aus – auch das war uns Anlass zu fragen, wie es um die Globale Gerechtigkeit bestellt ist und welche Rolle dabei NGOs auf lokaler Ebene spielen. Welche Rolle sollen und können sie überhaupt übernehmen? Was sind mögliche Schwierigkeiten und wo liegen die Stolpersteine? In der vor diesem Hintergrund organisierten Veranstaltungsreihe „WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort“ standen deshalb nicht nur Diskurse, Begrifflichkeiten und Konzepte der globalen Gerechtigkeit im Fokus, sondern auch die Frage danach, wie NGOs im Bereich der globalen und interkulturellen Bildungsarbeit ihrer verantwortungsvollen Position gerecht werden und vermeiden können, selbst Ungerechtigkeitsmuster und Machtasymmetrien zu reproduzieren. Wo liegen mögliche Problemfelder zwischen Anspruch und Wirklichkeit der alltäglichen Bildungsarbeit? Auf Basis eines offenen und selbstkritischen Austausches sollten in dieser Veranstaltungsreihe deshalb auch Best-Practice-Beispiele ausgetauscht und neue Ideen für die zukünftige Bildungsarbeit entwickelt werden. Durch die Hinterfragung und Neudiskussion bestimmter Aspekte der Globalen Gerechtigkeit konnte dieser Reflexionsprozess auch in die Öffentlichkeit getragen und mit ihr diskutiert werden. Auf die Sensibilisierung für die globale Dimension von Gerechtigkeitsfragen, deren Ursachen und Konsequenzen sowohl den globalen Norden als auch den globalen Süden betreffen, wurde durch die Themenauswahl der einzelnen Veranstaltungen Wert gelegt. Nicht nur 1 2 WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort Aushandlungen von Gerechtigkeit andernorts auf der Welt sondern auch hier vor Ort standen im Fokus. Zusammenfassung der Ziele der Veranstaltungsreihe WeltGerecht – Umkämpfte Rechte hier und dort: o selbstkritische Auseinandersetzung mit entwicklungspolitischen und interkulturellen Angeboten o Sensibilisierung für die Verwendung von Konzepten und Begrifflichkeiten o Vermeidung ungewollter Reproduktion von Stereotypen und Sensibilisierung für Machtasymmetrien o Kennenlernen neuer Aufgaben, Konzepte, Methoden, Analysetechniken, Erkenntnisse in Bezug auf Globale Gerechtigkeit o Diskussion der Rolle und Stärkung von zivilgesellschaftlichen Akteur_innen und NGOs für Globale Gerechtigkeit o Kennenlernen von Best-Practice Beispiele aus der globalen Bildungsarbeit o Raum für Vernetzung und Zusammenarbeit bieten Abbildung 1: Zusammenfassung der Ziele der Veranstaltungsreihe Umkämpfte Rechte hier und dort ‚WeltGerecht? An dem Aspekt der öffentlichen Diskussion und Information knüpft auch diese Dokumentation an. Die Inhalte und die Ergebnisse der einzelnen Veranstaltungen sollen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Durch die Veröffentlichung dieser Dokumentation besteht die Möglichkeit, die aus der Themenreihe gewonnenen Erkenntnisse nachzulesen und nachzuvollziehen und für weitere Folgeprojekte oder ähnliche Projekte an anderer Stelle zu nutzen. Die Dokumentation ist dem inhaltlichem Ablauf der Veranstaltungsreihe1 entsprechend aufgebaut: Zu Beginn der Themenreihe beschäftigten wir uns in einführenden Veranstaltungen mit grundsätzlichen Fragen nach Recht und Unrecht und den damit verbundenen Aushandlungsprozessen: Was ist gerecht? Und wer sagt eigentlich, was in einer globalisierten Welt gerecht ist? Sind nicht vielmehr Vorstellungen von Recht und Unrecht verschieden und verhandelbar? Dazu gewährten wir exemplarische Einblicke in den Facettenreichtum des Themas durch die Fokussierung auf drei beispielhafte Die chronologische Reihenfolge der Veranstaltungen entsprach allerdings nicht immer der thematischen/konzeptionellen Gliederung. Für diese Dokumentation wurde die Priorität aber auf den inhaltlichen Aufbau gesetzt. 1 Projektdokumentation umkämpfte Rechtsfragen Recht auf Bleiben, Recht auf Raum und Recht auf Selbstbestimmung. Das Recht auf Bleiben ist in Verbindung mit der aktuellen Flüchtlingswelle ein stark diskutiertes Thema – wenn auch nicht neu. Die heutige Situation von Geflüchteten und Migrant_innen hier vor Ort zeigt besonders deutlich die globale Dimension von Gerechtigkeitsfragen und die unmittelbaren Auswirkungen von internationaler Politik und gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklungen weltweit auf. Damit verbunden stellt sich die Frage: Ist unser Umgang mit Migrant_innen und Geflüchteten ein Spiegel für die Gerechtigkeitsvorstellungen unserer Gesellschaft? Und daran gekoppelt die Frage: Wem steht das Recht auf ein gutes Leben zu und wem etwa nicht? In der 35-jährigen Geschichte der W3 kehrte diese Fragestellung regelmäßig als Schwerpunkt wieder, analog zu seiner immer wiederkehrenden Brisanz. Für die Debatte um das Recht auf Raum haben wir uns entschieden, da sie exemplarisch zeigt, sei es bei Landgrabbing, Stadtentwicklung, Umsiedlungsprozessen oder Wohnraumsituation, welchen Einfluss Machthierarchien auf Gerechtigkeit haben bzw. die Machtlosigkeit Einzelner in Bezug auf Gerechtigkeit besonders deutlich wird. Als dritten Aspekt zeigten wir mit dem Recht auf Selbstbestimmung wie bei der Aushandlung von Rechten gesellschaftliche Norm und gesetzliche Lage divergieren und sich auch gegenseitig bedingen können. Dies wurde beispielhaft an der Rechtslage rund um das Gewerbe der Sexarbeit dargestellt. Bei dem dazu geführten Diskurs werden zudem die Betroffenen selbst oft ausgeschlossen. Unser Fokus lag deshalb auf der Sichtweise der Akteur_innen selbst. Im darauffolgenden Kapitel sind zwei Workshops dokumentiert. Dieser Teil der Themenreihe war vor allem an Multiplikator_innen und Aktive der interkulturellen und globalen Bildungsarbeit gerichtet und diente der kritischen Reflexion und Weiterentwicklung der Arbeit von NGOs in diesem Feld. Beim ersten Workshop ging es konkret um das Vermeiden von Rassismus in der Öffentlichkeitsarbeit von NGOs. Im zweiten Workshop standen Kulturkonzepte in der globalen Bildungsarbeit auf dem Prüfstein. Ziel beider Workshops war hierbei, Akteur_innen von Initiativen der globalen Gerechtigkeit konkrete Analysewerkzeuge an die Hand zu geben, mit Hilfe derer sie ihre Arbeit hinterfragen und weiterentwickeln können. So sollte erreicht werden, dass die Teilnehmenden in ihrer globalen Bildungsarbeit nicht unbewusst Kulturalisierungsmuster oder Rassismen reproduzieren. Zum Abschluss folgten vier theoretische Veranstaltungen im Rahmen einer Vortragsreihe, die sich mit grundsätzlichen Konzepten, Debatten und Perspektiven rund um globale Gerechtigkeit beschäftigten. Diese sollten abschließend einen Überblick vermitteln und eine fundierte konzeptionelle Grundlage schaffen, um die globale und interkulturelle Bildungsarbeit vor dem Hintergrund solcher Konzepte selbstkritisch zu verorten. Dafür wurden Wissenschaftler_innen unterschiedlicher Disziplinen eingeladen, über die Geschichte der Eine-Welt-Bewegung, Entwicklungskonzepte, 3 4 WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort Menschenrechte und Globale Gerechtigkeit zu sprechen. Dies kann in Kapitel Drei nachgelesen werde. Für diese Dokumentation haben wir die Referent_innen der verschiedenen Veranstaltungen zudem gebeten, aus ihrer Perspektive auf die Leitfragen der Themenreihe – Was ist gerecht und wie kann Gerechtigkeit erreicht werden? – einzugehen, natürlich mit dem Wissen, dass diese Fragen aufgrund der großen Komplexität wenn überhaupt nicht in wenigen Sätzen zu beantworten sind. Dennoch zeigen die Auszüge der Referent_innen, die bereit waren, ihre Gedanken dazu zu verschriftlichen, die Vielfalt der Perspektiven und eine Annäherung an mögliche Antworten. Die Statements der Referent_innen sind in die Dokumentation der jeweiligen Veranstaltung eingebettet. Zu manchen Veranstaltungen stehen die Präsentationen der Referent_innen zur Verfügung, diese sind mit einem Link zum Download hinterlegt. Außerdem sind an einigen Stellen ergänzende Informationen und Literaturlisten verlinkt. II. Dokumentation der Veranstaltungen 1. Recht und Unrecht im Fokus In der globalisierten Welt gibt es unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit, die immer wieder neu verhandelt werden. Zudem sieht, was sich intuitiv richtig anfühlt, in der Rechtslage manchmal ganz anders aus – und muss längst noch nicht gerecht sein. Es gibt viele Kontexte, in denen Ungerechtigkeiten unterschiedlich erfahren werden. Die im Folgenden aufgeführten und dokumentierten Veranstaltungen zeigten dabei exemplarisch, wie nah Recht und Unrecht oft beieinander liegen. Bewusst wurden der interessierten Öffentlichkeit unterschiedliche Zugänge zu den gewählten Themen Recht auf Bleiben, Recht auf Raum und Recht auf Selbstbestimmung gegeben. Mal sachlicher, durch Vorträge, Workshops oder Diskussionen, mal emotionaler und erlebbarer durch Lesungen, Stadtrundgänge oder filmische Dokumentation. Diese Abendveranstaltungen fanden zwischen Mai und Oktober 2014 statt. 1.1 Vom Recht auf… Bleiben Um über das Recht auf Bleiben zu sprechen, ist es nicht nötig weit in die Ferne zu blicken. Auch in Hamburg ist das Bleiberecht nicht erst seit der Debatte um die Geflüchteten aus Lampedusa, aber seitdem verstärkt auch in der Öffentlichkeit, ein kontrovers diskutiertes Thema. Nicht selten dominieren Halbwissen über die tatsächliche Rechtslage der Geflüchteten und eine gewisse Distanz zu den Menschen hinter den Schlagzeilen die Diskussion. Wir näherten uns dem Thema deshalb aus Sicht Projektdokumentation der Betroffenen. Zum Auftakt las Mahmood Falaki, selbst aus Persien in den 80er Jahren nach Hamburg geflüchtet, aus seinem neusten Buch über seine Erfahrungen als „Ausländer“ in Deutschland. Viele seiner Bücher handeln von seinem Leben in Deutschland und Schreiben als Exilierter und zeigen seine Perspektive auf die Menschen hier auf. Die darauffolgende Veranstaltung beschäftigte sich in Form eines Workhops mit der aktuellen Rechtslage von Asylsuchenden und Migrant_innen in Deutschland und Hamburg. Ein an den Workshop angeschlossener Stadtrundgang verband wiederum die Theorie mit konkreten Orten und trug somit zu einer veränderten, bewussteren Wahrnehmung der Teilnehmenden für die Situation der Betroffenen hier vor Ort bei. 1.1.1 Mahmood Falaki: Ich bin Ausländer und das ist auch gut so Lesung am 23. Mai 2015, 19.30 Uhr. Veranstaltet in Kooperation mit dem Sujet Verlag Mahmood Falaki war bereits das zweite Mal im Rahmen einer Kooperationsveranstaltung mit dem Sujet Verlag auf der Bühne der W3. Er ist Schriftsteller und Dozent für persische Sprache und Literatur, wuchs im Norden Persiens auf und wurde während der Schah-Zeit wegen seiner politisch-literarischen Aktivitäten zu drei Jahren Haft verurteilt. Später musste er das Land verlassen, kam 1983 nach Deutschland und lebt seit 1986 in Hamburg. Diese Erfahrungen spiegeln sich auch immer in seinen literarischen Werken wider, sei es in seiner Lyrik, oder in seinem neuen Band mit Erzählungen. Abbildung 2: Cover des Buches „Ich bin Ausländer und das ist auch gut so“, Mahmood Falaki In seinen pointierten Kurzgeschichten und Momentaufnahmen skizziert Mahmood Falaki auf humorvolle Art Begegnungen von Menschen verschiedener Kulturen in Deutschland. Mit ironisch-distanziertem Blick beschreibt er komische Dialoge und Missverständnisse, die sich aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der Protagonist_innen ergeben und zum Überdenken eingefahrener Sichtweisen und Vorurteile anregen. Die Geschichten handeln von den Banalitäten und Absurditäten des alltäglichen Lebens als ‚Fremde_r‘ in Deutschland. 5 6 WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort „Was für ein Landsmann sind Sie?!“ „Ich komme aus Persien.“ „Brasilien? Aber Sie sehen nicht wie ein Indio aus!“ „Nein, Persien, Iran!“ „Ach so, Iran! Sie sind Muslim!“ „Nein!“ „Nein? Gibt es in der Türkei auch Christen?“ Abbildung 3: Mahmood Falaki in der W3 am 23.05.2014 Dies ist ein kurzer Auszug aus dem Erzählband „Ich bin Ausländer und das ist auch gut so“ von Mahmood Falaki. Bei der Lesung trug er noch viele weitere Passagen vor, die das Publikum zum Lachen und zum Nachdenken bewegten. Im Anschluss an die Lesung thematisierte Mahmood Falaki das Alltagsleben von Ausländer_innen in Deutschland und die über die Jahre eingetretenen Veränderungen aus seiner Perspektive heraus. Außerdem sprach er über sein Schreiben im Exil, besonders sein Verhältnis zur deutschen und zur persischen Sprache. Dunja Rühl vom Sujet Verlag moderierte das Gespräch und die Diskussion mit dem Publikum. Für diese Dokumentation hat Herr Falaki seine Gedanken und Erfahrungen zum Leben und Schreiben im Exil noch einmal zu Papier gebracht: Projektdokumentation Exil Wenn man das Leben exilierter Schriftsteller betrachtet, bemerkt man Gemeinsamkeiten, die fast alle Autoren betreffen. Allgemein verliert ein Emigrant einen Teil seiner eigenen Kultur, der andere Teil ist durch Sozialisation und Erziehung im Herkunftsland derart verinnerlicht, dass er untrennbarer Bestandteil des Ichs bleibt. Ein Emigrant bleibt in kultureller Hinsicht weder sein ursprüngliches ICH, noch wird er zu einem gänzlich neuen Individuum. Jeder Heimatvertriebene leidet in diesem Schwebezustand, aber für einen Schriftsteller ist die Lage noch schmerzhafter. Denn für ihn kommt zum Verlust der Sprache und damit der Kommunikation der Verlust seines Publikums. Er dichtet nun in einer Sprache, die keiner versteht, außer der kleinen Gruppe seiner emigrierten Landsleute, die ihr eigenes Ghetto bilden. Nach meiner Erfahrung durchläuft ein Schriftsteller im Exil verschiedene Phasen: In der ersten "Phase der Desorientierung" fühlt man sich wie ein Reisender, der sein Geld, seinen Pass, alles verlor und nicht weiß, ob und wann er überhaupt wieder in die Heimat zurückehren kann. In dieser Zeit, geprägt von Verwirrung und Orientierungslosigkeit, bringt er Aufschreie und antwortlose Klagen hervor. In der zweiten „Phase der Nostalgie“ ist man sicher, für lange Zeit oder vielleicht für immer im Gastgeberland bleiben zu müssen und wird von einer Flut von Erinnerungen überschwemmt. Sehnsucht und Heimweh sind stärker denn je. Man imaginiert eine schönere Vergangenheit und durchlebt Szenen, besonders aus der Kindheit, in denen man eine sichere Zuflucht findet, um sich, sein Selbst, am Leben zu halten. In der dritten "Phase der Selbstentfremdung“, gekennzeichnet von Zweifeln an den früheren Ideen und Werten, findet die Auseinandersetzung mit sich selbst statt. Fragen bedrängen einen: Wer bin ich? Warum bin ich überhaupt hier? Was ist in meinem Heimatland passiert? Warum geschieht das? War das, was ich getan habe, richtig? Soll ich in der Opferrolle bleiben? Wer ist überhaupt Täter, wer Opfer? War ich ein Mensch, der Demokratie und Freiheit verstand und aufgebaut hätte? ... Diese Fragen entstehen in der Auseinandersetzung mit Gesellschaft und Kultur des Gastgeberlands, in dem man etwas Neues lernt. Ein Verständnis von moderner Offenheit, Mündigkeit, Gesetzmäßigkeit und Individualität, wie 7 8 WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort es in meinem Herkunftsland unter einem despotischen Herrscher nicht möglich war, habe ich der deutschen bzw. europäischen Gesellschaft zu verdanken. Wird der Entfremdungszustand im fruchtbaren Lernprozess mit der neuen Kultur verarbeitet, kann man in der vierten "Phase der Selbstfindung“ das Exil überwinden. Als bewältigt verstehe ich die Selbstentfremdungsphase in dem Moment, in dem es gelingt, mir eine neue Identität zu schaffen und darauf eine neue Poesie aufzubauen. Den Prozess der Integration der eigenen Identität an die kulturellen und gesellschaftlichen Parameter des neuen Heimatlandes ist überlebensnotwendig, aber eine schmerzhafte und lange Prozedur, die nicht alle Exilliteraten durchlaufen, viele verbleiben in den Phasen von Nostalgie oder Selbstentfremdung. Die vier Phasen des Exils widerspiegeln sich in meinen literarischen Texten. In der letzten Phase treten allmählich inhaltliche Neuerungen und sprachstilistischen Änderungen unter dem Einfluss der Fremdkultur, also deutscher bzw. europäischer Kultur und Literatur, hervor. Wobei der kulturelle Einfluss des Gastgeberlandes und von dessen Sprache in meiner literarischen Arbeit intensiviert wurden, als ich anfing auf Deutsch zu schreiben. Natürlich ist diese Entwicklung nicht geradlinig und unproblematisch verlaufen: Erstens, weil die Deutsche Sprache für mich eine adoptierte Sprache ist. Hier kann ich Lion Feuchtwangers Ansicht über das Schreiben in fremder, erlernter Sprache zustimmen, dass man sich in der fremden Sprache ausdrücken kann, aber „die Gefühlswerte, den fremden Tonfall der Sprache“ nicht perfekt erlernen kann. So kann ich auf Persisch, nach über 30 Jahren, noch immer besser und leichter schreiben, weil ich jeden Winkel der Sprache kenne und sie nach meinen Wünschen spielerisch formen kann, wie es im Deutschen nicht der Fall ist. Zweitens, weil, obwohl Hamburg zu meiner Heimat geworden ist und ich mich hier wohl fühle, das Fremdheitsgefühl gelegentlich zurückkehrt, wenn "Einheimische" mir mit Blicken, Verhalten und Äußerungen zu verstehen geben, dass ich nicht Teil der Gesellschaft sei. Besonders natürlich, wenn Ausländerfeindlichkeit - egal aus welchem Grund - wieder einmal öffentlich sichtbar wird, wie zurzeit legitimiert durch die AfD-Partei oder PEGIDADemonstrationen. Mahmood Falaki, Dezember 2014 Abbildung 4: Mahmood Falakis Ausführungen und Gedanken zum Exil Projektdokumentation Ergänzend hierzu ist auch dieses Interview mit Mahmood Falaki, erschienen in der taz am 21. Februar 2014, interessant. Des Weiteren bietet die Sonderveranstaltung „Fremde Sprache Freiheit. Exilschriftsteller Abbas Khider und Mahmood Falaki im Gespräch“ der Universität Hamburg, die online als Video verfügbar ist, weitere Informationen und Anregungen zum Thema. 1.1.2 Die Situation von Geflüchteten und Eingewanderten in Hamburg Workshop und Stadtrundgang am 14. Juni 2014, 10 bis 14 Uhr. Mit Anne Kimm und Henriette Reichwald von Grenzgänger I forschung & training ‚Flüchtling’, ‚Geflüchtete_r’, ‚Asylbewerber_in’, ‚Illegale’, ‚Illegalisierte’, ‚irreguläre und reguläre Migrant_innen’… Die Liste an Zuschreibungen im Zusammenhang mit Migration ist nahezu unendlich. Einige dieser Begriffe begegnen uns täglich. Doch was bedeuten sie eigentlich? Welche rechtlichen und politischen Implikationen verbergen sich dahinter? Und welche Konsequenzen ergeben sich für das alltägliche Leben derer, die mit diesen Zuschreibungen konfrontiert sind? Diese Veranstaltung wurde von Referentinnen von Grenzgänger forschung & training durchgeführt. Grenzgänger bieten seit vielen Jahren Stadtrundgänge, Seminare und Trainings rund um den Themenkomplex Migration und Entwicklung an. Ihre Veranstaltungen basieren dabei auf dem Konzept, Erkenntnisse aus der Migrationsforschung mit der Praxis und dem Alltag deutscher Großstädte zu verbinden. Ihre Seminare sind interaktiv und mit verschiedenen methodischen Ansätzen so aufgebaut, dass sie nicht nur Antworten liefern, sondern neue Fragen zu aktuellen Themen rund um Migration und Entwicklung aufwerfen. Deshalb waren sie für unsere Veranstaltung geeignete, erfahrene und kompetente Referent_innen. Um den obigen Fragen auf den Grund zu gehen, wurden in dem Workshop zunächst rechtliche sowie politische Aspekte von Migration und Aufenthalt geklärt. Dazu wurde unter anderem die Rechtslage von Geflüchteten erläutert, sowie Zahlen und Statistiken vom UNHCR2 gezeigt, um einen Überblick über das Thema zu gewinnen. In Kleingruppen wurden anschließend die verschiedenen Bezeichnungen, die im Zusammenhang mit Migration auftauchen, wie z.B. ‚Flüchtling‘, ‚Illegale_r‘, ‚Asylant‘ etc. beleuchtet und kritisch hinterfragt. Die Ergebnisse der einzelnen Gruppen wurden danach mit den anderen Teilnehmenden geteilt. Informative Literatur zu dem Thema findet sich hier. Nach diesem theoretischen Input und einer Präsentation zu politischen Rahmenbedingungen, in der Frontex, das Dublin-Verfahren und auch die verschiedenen Migrations-Schritte geklärt wurden, ging es mit einem Stadtrundgang weiter. Dieser legte den Fokus auf die Lebenswelt und den Alltag von Menschen, die als Illegalisierte United Nations High Commissioner for Refugees. Der UNHCR ist das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. www.unhcr.de 2 9 10 WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort oder Geflüchtete in Hamburg leben. Die Referent_innen führten die Teilnehmer_innen durch Altona und St. Pauli und machten an vielen Stellen halt, um den Alltag und die Lebenswelt von Geflüchteten zu beleuchten, z.B. bei ‚MoneyGram‘, einem Finanzunternehmen, welches Geldtransfers in andere Länder anbietet. In diesem Zusammenhang gingen die Referentinnen auch auf die Bedeutung von ‚Remittances‘ ein, also Rücküberweisungen von Migrant_innen an Verwandte und Bekannte in ihren Heimatländern. Nach zahlreichen weiteren Stationen war die St. Pauli Kirche letzte Station. Die Kirche hatte viele Geflüchtete der Gruppe ‚Lampedusa in Hamburg‘ aufgenommen. Gerecht ist, wenn alle Menschen nicht nur grundsätzlich gleiche Rechte haben, sondern gleicher Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung, Wohnraum oder Arbeit unabhängig von Herkunft, Religion, Aussehen, Bildungsstand usw. gewährleistet ist. Gerechtigkeit kann nur dann annähernd erreicht werden, wenn Ungleichbehandlung kein politisches Kalkül mehr ist. In unserem Workshop ging es um „das Recht zu bleiben“, was in Hamburg vor allem durch die Gruppe „Lampedusa in Hamburg“ sehr präsent ist. Bei der Auseinandersetzung mit den komplexen Themen Migration, Asyl, Flucht und Aufenthaltsrecht wird besonders das Maß an Ungerechtigkeit im politischen System (Deutschland) sichtbar. Am Anfang steht aber immer wieder ein großes Unverständnis hinsichtlich der „Ungerechtigkeit“ in diesem Bereich, wie zum Beispiel rassistische Kontrollen oder Willkür bei der Vergabe von Duldung und Aufenthaltstiteln. Anne Kimm und Henriette Reichwald Abbildung 5: Was ist gerecht? Anne Kimm und Henriette Reichwald von Grenzgänger 1.2 Vom Recht auf… Raum Wie bereits oben erwähnt, sollte die Debatte um das Recht auf Raum exemplarisch zeigen, welchen Einfluss Machthierarchien auf Gerechtigkeit haben bzw. wie machtlos Einzelne um ihr Recht auf Raum kämpfen. Zudem wollen wir mit unseren Veranstaltungen stets aktuelle Diskurse aufgreifen. Es lag daher nahe auf die Verdrängungsprozesse und Umsiedlungsmaßnahmen im Rahmen der zur Zeit der Veranstaltungsreihe stattgefundenen Fußballweltmeisterschaft der Männer in Brasilien einzugehen. Auch hier sollte ein eher von sachlicher Diskussion geprägtes Format noch durch einen emotionaleren Zugang zum Thema ergänzt werden. Besonders Bilder können oft eine Eindringlichkeit vermitteln, die Diskussionen nur umschreiben können. Deshalb schauten wir durch die Augen des renommierten türkischen Regisseurs Can Projektdokumentation Dündar rückblickend auch noch einmal auf die Proteste rund um den Gezi-Park in Istanbul. Die Machtmechanismen und Fragestellungen beider Situationen – Brasilien und Istanbul – ähnelten sich dabei und an beiden Beispielen konnten im Anschluss mit dem Publikum Fragen nach unterschiedlichen Auffassungen und Empfindungen von Recht und Unrecht diskutiert werden. 1.2.1 Das Beispiel Brasilien – Kapitalistische Stadtgestaltung und Orte des Widerstandes im Kontext von WM und Olympia Vortrag und Diskussion am 25. Juni 2014, 19.30 Uhr. Mit Katharina Schmidt (Geographin, Uni Hamburg), Sebastian Hilf (Stadtforscher, Geograph, Berlin). Moderation: Nicole Vrenegor (Open School 21, Hamburg entwickeln für Eine Welt). Veranstaltet in Kooperation mit ‚Hamburg entwickeln für Eine Welt‘ Die Austragung der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer und die damit verbundenen Verwertungsstrategien der auf ökonomischen Gewinn orientierten Stadtgestaltung führten in vielen brasilianischen Städten zu massiven sozial-räumlichen Umstrukturierungsprozessen, die das Leben, Arbeiten und Wohnen vieler Bewohner_innen beeinflussten. Abbildung 6: Ausschnitt aus der Präsentation von Katharina Schmidt und Sebastian Hilf 11 12 WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort Vor allem Wohnraum wurde dabei zu einem kostbaren und umkämpften Gut. Diese Zusammenhänge stellten Katharina Schmidt und Sebastian Hilf in ihrem Vortrag dar (siehe die dazugehörige Präsentation). Die Referentin Katharina Schmidt hat in Tübingen, Rio de Janeiro und Innsbruck Geographie studiert. In ihrer Masterarbeit hat sie sich mit der Aneignung öffentlicher Räume und dem Recht auf Stadt in Rio de Janeiro beschäftigt. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geographie der Uni Hamburg und promoviert zu Geographien der Obdach- und Wohnungslosigkeit in Hamburg und Rio de Janeiro. Gemeinsam mit dem Geographen und Stadtforscher Sebastian Hilf hat sie über die Kämpfe der Sem-Tetos in Rio de Janeiro publiziert. Schmidt und Hilf erläuterten im Vortrag sowohl die zentralen Aufwertungs- und Verdrängungsprozesse, als auch den Protest und Widerstand, der sich dagegen formierte. Im Anschluss ging die Referentin auf Nachfragen aus dem Publikum ein. Es entstand eine lebhafte Publikumsdiskussion, die durch Nicole Vrenegor, die seit Jahren bei dem Hamburger Bündnis ‚Recht auf Stadt‘ aktiv und damit gut informiert und erfahren ist, moderiert wurde. So wurde beispielsweise darüber diskutiert, wie die Verdrängungsprozesse und die Proteste medial kommuniziert wurden. Fraglich blieb, ob die Aufmerksamkeit auf Brasilien durch die WM förderlich für die Anliegen der Bewohner_innen war, oder ob vielmehr während der WM negative Stimmen aus der Berichterstattung herausgehalten wurden. 1.2.2 Gözdağı – Die Blendung Film und Gespräch am 23. September, 19.30 Uhr. Regie: Can Dündar (Dokumentarfilm, TR, 2014, OmU) Mit Sabine Adatepe (Autorin und Herausgeberin von „GEZi. Eine literarische Anthologie“). Um eine andere, aber nicht weniger konfliktreiche Verhandlung des Rechts auf Raum ging es bei dieser Veranstaltung. Im Gegensatz zur eher von einem sachlichen Vortrag geprägten Veranstaltung zu Brasilien, ließen wir dieses Mal Bilder sprechen und zeigten einen Film über die Gezi-Bewegung. Nach dem Film stand Sabine Adatepe für ein Gespräch zur Verfügung. Sie hat Turkologie, Germanistik und Iranistik studiert. Seit 1990 übersetzt sie freiberuflich aus dem Türkischen, sie hat selbst in Istanbul gelebt und kennt die Türkei und die gesellschaftliche Situation vor Ort sehr gut. In Hamburg arbeitet sie als Übersetzerin, führt einen literarischen Blog, schreibt Rezensionen, Essays und Artikel und dolmetscht für türkische Autor_innen. Speziell mit der Gezi-Bewegung hat sie sich als Herausgeberin von „GEZi. Eine literarische Anthologie“ (2014) beschäftigt. Projektdokumentation Der gezeigte Dokumentarfilm vom renommierten türkischen Regisseur Can Dündar hatte in der deutschen untertitelten Version erst drei Tage vorher am 20. September 2014 beim deutsch-türkischen Literaturfestival Literatürk in Essen Deutschlandpremiere. Dort übersetzte Sabine Adatepe für Can Dündar (Homepage des Filmemachers). Sie berichtete, dass dieser Dokumentarfilm auch für ihn eine neue Erfahrung gewesen sei, da er sich im Gegensatz zu seinen sonst historischen Inhalten/Themen, mit dem Film einem Ereignis näherte, das aktuell und noch immer in vollem Gange war. Der Frühsommer des Jahres 2013 war der Beginn der Gezi-Bewegung. Aus einer Handvoll Parkschützer_innen wurde ein Massenprotest von Hunderttausenden. Je brutaler die Polizei vorging, desto mehr Menschen kamen zusammen. Can Dündar, war mit seinem Kamerateam von Anfang an vor Ort. Sechs junge Männer, die bei Gezi ein Auge verloren haben, erzählen darin, warum sie dabei waren, was sie erlebten und wie ihnen ein Auge genommen wurde. Ganz dem Geist von Gezi entsprechend, montiert Dündar aufwühlende eigene Aufnahmen aus der heißen Phase in Taksim und Gezi unter anderem mit Medienmeldungen, Twitternachrichten, Handyvideos, Telefonmitschnitten und Graffiti zu einer filmischen Dokumentation, die zugleich Anklage ist. Einen Eindruck zum Film liefert auch der Trailer. Im Anschluss an den Film wurde gemeinsam mit Sabine Adatepe über die Zeit nach dem Gezi-Protest gesprochen. GEZI war damit die am besten dokumentierte Protestbewegung, die von einem ehrenamtlichen Team erstellt wurde. Die musikalische Begleitung zur Dokumentation lieferte Fazil Say, der bereits zweimal in den Laiszhallen in Hamburg zu Gast war, ebenfalls als Spende. Die Bewegung brachte unterschiedliche Gruppen und Interessen wie Umweltschützer_innen, Stadtaktivist_innen und Menschrechtler_innen zusammen. Da der Film offiziell nicht gezeigt werden durfte, wurde er in den Parks, auf Veranstaltungen und im Internet gezeigt. Die Rolle der sozialen Medien hatte hier einen besonderen Wert bekommen. Für sehr interessant wurde von allen befunden, dass sehr unterschiedliche Kräfte und vielfältige Meinungen sich bei dieser Bewegung zusammengetan und gemeinsam ihre Stimme erhoben haben. 13 14 WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort 1.3 Vom Recht auf… Selbstbestimmung Das Recht auf Selbstbestimmung spielt in vielen Kontexten eine Rolle. Wir wählten den Fokus auf Selbstbestimmung im Rahmen von Sexarbeit und Migration. Zum einen ist dies ein Thema, das immer wieder sehr kontrovers diskutiert wird, viele Perspektiven bietet und zugleich in den Medien oft verkürzt und polemisierend dargestellt wird. Wir wollten die Frage nach dem Recht auf Selbstbestimmung bei diesen beiden Veranstaltungen aus der Perspektive derjenigen beleuchten, die ein solches Recht zwar zugesprochen bekommen, aber nach wie vor mit gesellschaftlicher Stigmatisierung leben. Die erneute Kombination einer Podiumsdiskussion mit einer Lesung und Ausstellung sollte zugleich einen sachlichen, wie auch einen künstlerischen Zugang und Einblick in die Lebenswirklichkeit der Betroffenen ermöglichen. Die Veranstaltungen zeigten so die Lebenswirklichkeit der Betroffenen und gaben einen realistischen Einblick in ihre Arbeitswelt fernab von medialen Stereotypisierungen. 1.3.1 Sexarbeit – Eine Welt für sich. Einblicke… in den Berufsalltag von Sexarbeiter_innen Lesung und Ausstellung am 2. Juli 2014, 19.30 Uhr. Mit Elisabeth von Dücker (Kunst- und Kulturwissenschaftlerin), Ulrike Johannson (Schauspielerin), Andree Knura (Schauspieler). Die Ausstellung wurde unterstützt durch Komma, Verein für Frauenkommunikation e.V. Wenn von Recht, Unrecht und den Rechten bestimmter Gruppen die Rede ist, ist es erst einmal wichtig, sich deren Lebenssituation anzusehen und die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen. Diesem Anspruch wollten wir in Form einer Lesung und Ausstellung gerecht werden, die einen Einblick in das Leben von Frauen und Männern, die mit Sex-Dienstleistungen ihren Lebensunterhalt verdienen, gewährt. Wie leben diese Menschen auf St. Pauli und anderswo? Die Antworten sind so vielfältig wie die Erfahrungen und Arbeitsfelder im Sexgewerbe. Um in die Thematik einzuführen, konnten sich die Zuschauer_innen die Ausstellung „Einblicke... in den Berufsalltag von Sexarbeiterinnen“ (Wanderausstellung von Komma, Verein für Frauenkommunikation e.V.) ansehen. Diese basiert auf Interviews, welche die Historikerin und Genderforscherin Mareen Heying mit Prostituierten und Sozialarbeiter_ innen geführt hat, und zeigt ergänzend Fotografien von Monica Brauer, die das ‚Rotlichtmilieu‘ einfangen. Die Ausstellung zeigt die eigene Sicht von selbstbestimmten Sexarbeiter_innen auf ihre berufliche Tätigkeit. Die Zuschauer_innen hatten auf diese Weise die Möglichkeit, sich zunächst einmal selbst mit Stimmen von Sexarbeiter_innen auseinanderzusetzen und ihre Beweggründe zu verstehen, die sie zu Projektdokumentation der Tätigkeitswahl führten. Zudem gaben die Zitate auch Einblick in die Akzeptanz bzw. Nicht-Akzeptanz ihrer Tätigkeiten durch ihr Umfeld. Nachdem das Publikum genügend Zeit hatte, sich die Ausstellung anzuschauen, gab Elisabeth von Dücker mit einem kurzen Inputvortrag einen Einblick in die aktuelle Rechtslage bezüglich Sexarbeit und berichtete von der Entstehung des Buches „Sexarbeit – Eine Welt für sich“ (Elisabeth von Dücker, Christiane Howe, Beate Leopold, Museum der Arbeit, 2008), das sie als Mitherausgeberin für das Museum der Arbeit 2008 mitgestaltet hat. In einer szenischen Lesung trugen anschließend die Schauspieler_innen Ulrike Johannson und Andree Knura zehn Milieugeschichten aus dem Buch „Sexarbeit – Eine Welt für sich“ vor. Lebensnah und lebendig, unaufgeregt und ohne Glitzerromantik erzählte die Lesung von dem vielschichtigen Phänomen Prostitution – zwischen stark nachgefragter und dennoch verdrängter Schatten-Arbeit sowie krimineller Ausbeutung. Die Geschichten von Sylvia, die seit 30 Jahren am Fischmarkt anschafft, Ronny, dem ausgestiegenen Zuhälter oder der Bordellbetreiberin Felicitas waren gleichzeitig kritische Reflexionen der gesellschaftlichen Stigmatisierung und Doppelmoral. Diese wirken fort, obgleich das deutsche Prostitutionsgesetz von 2002 den Weg für die Entkriminalisierung von Sexdienstleistungen und die Gleichstellung mit anderen Erwerbstätigkeiten frei gemacht hat. 1.3.2 Sexarbeit und Migration Vortrag und Diskussion am 23. Oktober 2014, 19.30 Uhr. Mit Johanna Weber (Sexarbeiterin, und politische Sprecherin des ‚Berufsverbandes für erotische und sexuelle Dienstleistungen‘), Katharina (Erotik-Masseurin mit Migrationsgeschichte und ‚Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen‘), Veronica Munk (Koordinatorin der EU-Projekte ‚Tampep‘ und ‚Indoors‘). Moderation: Tanja Chawla (HAW Hamburg) Sexarbeiter_innen wird oft unterstellt, dass sie unfreiwillig oder gar unter Zwang ihre Erwerbsarbeit ausüben. Eine selbständige und freiwillige Entscheidung wird ihnen damit ebenso aberkannt, wie die eigene Handlungsfähigkeit. Insbesondere der OnlineAppell von Alice Schwarzer gemeinsam mit der EMMA Ende 2013 hat die undifferenzierte Diskussion über Sexarbeit angeheizt und alle Sexarbeiter_innen zu ‚Zwangsprostituierten‘ stigmatisiert. Dieses Stigma betrifft insbesondere migrantische Sexarbeiter_innen, da die Debatte direkt mit der Diskussion um Menschenhandel verknüpft wird. Auch die EU trägt mit ihrer Empfehlung, Kunden von Sexdienstleistungen zu kriminalisieren und ihnen somit die Arbeitsgrundlage zu entziehen zu der Entmündigung von Sexarbeiter_innen bei. Wie positionieren sich aber Sexarbeiter_innen selbst in diesem Kontext? Was sagen sie zu dem Vorwurf, nur 15 16 WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort privilegierte Sexarbeiter_innen säßen auf den Podien? Wie bewerten Sie ihre Arbeitsbedingungen und wie sieht ihr Alltag eigentlich aus? Welche politischen Entwicklungen und Veränderungen gab es seit letztem Herbst auf EU-BRD-Ebene? Welche Konsequenzen haben diese für Sexarbeiter_innen, insbesondere für migrantische? Und was plant der ‚Bundesverband erotische und sexuelle Dienstleistungen‘ an Interventionen? Abbildung 7: Ausschnitt aus der Präsentation von Veronika Munk Auf diese Fragen sollten im Rahmen der Veranstaltung Antworten gefunden bzw. debattiert werden. Die Stigmatisierung von migrantischen Sexarbeiter_innen zu ‚Zwangsprosituierten‘ war zentrales Thema des Vortrags (siehe auch die vollständige Präsentation) von der selbst im Sexgewerbe tätigen Johanna Weber. In ihrem Vortrag stellte sie das Prostitutionsgesetz, die aktuellen politischen Entwicklungen und Diskussionen in der BRD sowie die diesbezüglichen Positionen des Bundesverbands für erotische und sexuelle Dienstleistungen vor. Anschließend sprach Veronica Munk, von den EU-Projekten tampep und Indoors, zur aktuellen Lage auf EU-Ebene sowie in den jeweiligen einzelnen EU-Ländern und problematisierte vor allem die Empfehlung der EU, die Kunden von Sexarbeiter_innen zu kriminalisieren und ihnen somit die Arbeitsgrundlage zu entziehen (siehe auch Munks Präsentation, sowie das dazugehörige Skript). Moderiert von Tanja Chawla entstand eine angeregte Diskussion über den Alltag und die Arbeitsbedingungen von Sexarbeiter_innen sowie soziale Ausgrenzung bzw. Projektdokumentation Tabuisierung in ihrem persönlichen Umfeld. An einen erneuten Kurzvortrag von Veronica Munk zur Situation von Sexarbeiter_innen in Hamburg (inklusive Zahlen zu deren Herkunft bzw. Migrationsgeschichte) und der Arbeit von ‚tampep‘ schloss sich eine Diskussion zu Veränderungen in den letzten Jahren sowohl im Hinblick auf Arbeitsund Lebensbedingungen als auch auf politische und gesellschaftliche Diskurse an. Die Veranstaltung schloss mit einem Ausblick zu Visionen für die Zukunft seitens der Diskutant_innen. Gerechtigkeit ist ein komplexes Konstrukt, dass in wenigen Sätzen nur schwer zu beschreiben ist. Für mich bedeutet Gerechtigkeit, dass Menschen in der Lage sind, sich frei in ihrer Persönlichkeit zu entwickeln und zu leben. Da dies nie im luftleeren Raum geschieht, braucht es Räume der Auseinandersetzung und Verhandlung. Gerechtigkeit kann das Ergebnis dieses dynamischen Prozesses sein, welcher auch kontextabhängig zu verorten ist. Dass innerhalb dieser Prozesse Macht- und Herrschaftsverhältnisse berücksichtigt werden müssen, ist dabei ebenso selbstverständlich wie eine konsequente Umverteilung von Ressourcen und die kontinuierliche Reflexion von Ein- und Ausschlüssen von Menschen, Identitäten oder Lebensentwürfen. Tanja Chawla Abbildung 8: Was ist gerecht? Tanja Chawla 17 18 WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort 2. Multiplikator_innen Workshops – von Unrecht und Recht in der globalen Bildungsarbeit Gerade in der globalen und interkulturellen Bildungsarbeit sind Gerechtigkeit und die Thematisierung von Rechten ein großer Bestandteil. Viele Initiativen, Vereine und Projekte sehen globale Gerechtigkeit als Teil ihres Leitbildes und ihrer Ziele. Veranstaltungen sensibilisieren für Ungerechtigkeiten in bestimmten Kontexten oder Ländern. Doch selten werden die eigenen Praktiken, Formate, Wordings und Inhalte auf den Prüfstein gelegt. Deshalb sollten diese Workshops einen kritischen Blick auf die globale und interkulturelle Bildungsarbeit selbst werfen. Inwiefern schaffen es NGOs aus diesem Bereich, wie beispielsweise die W3, mit ihrer Arbeit den eigenen Ansprüchen von Gerechtigkeit zu entsprechen? Wo liegen Fallstricke unbewusster Rassismen und Kulturalisierungsmuster in der globalen Bildungsarbeit? 2.1 Nach bestem Wissen und Gewissen? Rassismus in Text und Bildsprache in der entwicklungspolitischen Öffentlichkeitsarbeit Workshop am 26. September, 10 bis 17 Uhr. Mit Jasmine Rouamba (AntiBias-Trainerin, Soziologin). In Kooperation mit der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V. und dem Eine Welt Netzwerk Hamburg e.V. Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Ziel der globalen Bildungsarbeit und der entwicklungspolitischen Projektarbeit ist es, auf bestehende Ungleichheiten aufmerksam zu machen und diese zu kritisieren. Doch greifen gerade Spendenwerbung, Informationsveranstaltungen und Publikationen aus diesem Themenbereich häufig auf Bilder und Begrifflichkeiten zurück, die Stereotype reproduzieren und ihren Ursprung in Wissen haben, das durch rassistische Strukturen geprägt wurde. Der Workshop reflektierte diesen Widerspruch: Mit welchen Bildern und Begrifflichkeiten arbeiten viele in der globalen Bildungsarbeit, wie wirken diese zusammen und welches Wissen und welche Muster liegen ihnen zugrunde? Der Workshop sollte Multiplikator_innen der (entwicklungs)politischen Bildungsarbeit und Journalist_innen hierfür sensibilisieren. Denn nur wenn die eigenen Handlungen immer wieder hinterfragt und reflektiert werden, kann die entwicklungspolitische Arbeit effektiv und solidarisch sein. Dafür sollte im Workshop die Frage, wie eine praktische Umsetzung der erarbeiteten Ergebnisse aussehen könnte, um möglichst vorurteilsbewusste, aufmerksamkeitsstarke und allgemein verständliche Bilder und Texte zu produzieren, geklärt werden. Mit einer bewussteren Öffentlichkeitsarbeit kann die entwicklungspolitische Arbeit insgesamt verbessert werden. Projektdokumentation Um sich dem Thema zu nähern, ließ die Referentin Jasmine Rouamba die Teilnehmenden zunächst erarbeiten, was Rassismus bedeutet. Anschließend gab die Referentin einen kurzen Input zum Rassismusbegriff und stellte dabei Argumentationsstrukturen der kritischen Weißseinsforschung vor und verwies auf Werke von Noah Sow. In diesem Zusammenhang wies sie auch auf wiederkehrende Dichotomien (Weiße vs. Persons of Color) und Zuschreibungen hin, die zu rassistischen, exotisierenden oder stereotypisierenden Bildern führen. Am Beispiel eines Textes zu rassistischen Spendenwerbeplakaten (Aus: Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag (2013): Developmental Turn. Neue Beiträge zu einer rassismuskritischen entwicklungspolitischen Bildungs- und Projektarbeit) arbeiteten die Teilnehmenden verschiedene rassistische Aspekte von Spendenkampagnen heraus. Im weiteren Verlauf des Workshops stellte die Referentin verschiedene Werbefilme oder Plakatkampagnen unter dem Aspekt von stereotypisierenden Strukturen zur Diskussion. Zum Abschluss bildeten sich kleine Arbeitsgruppen, um Fragestellungen aus der eigenen entwicklungspolitischen Bildungsarbeit speziell der Öffentlichkeitsarbeit zu bearbeiten, die später in der großen Runde vorgestellt und diskutiert wurden. Zum Beispiel wurde ein neu entwickelter Flyer unter dem Gesichtspunkt von reproduzierenden Machtstrukturen analysiert. Zudem wurde der Frage nachgegangen, wie damit umzugehen ist, wenn People of Color selbst mit stereotypisierenden Mustern in der Bewerbung eigener Veranstaltungen spielen. Zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema, siehe auch diese Literaturliste, bereitgestellt von Jasmine Rouamba. 2.2 „Vom vornehmen Wort Kultur“ Kritische Auseinandersetzung mit Inter-/Transkulturellem Lernen Workshop am 10. Oktober, 10 bis 17 Uhr. Mit Kristina Kontzi und Timo Kiesel (Trainer_innen von glokal e.V.). In Kooperation mit der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V. und dem eine Welt Netzwerk Hamburg e.V. In verschiedenen Bereichen der kulturellen Arbeit und in pädagogischen Ansätzen wird dem Konzept Kultur ein zentraler Stellenwert eingeräumt: Sei es im Bereich ‚interkultureller‘ Ansätze, globaler Bildungsarbeit oder Jugendbegegnungen. Dem gut gemeinten Verständnis für oder besonderen Interesse an ‚anderen Kulturen‘ liegt unbewusst oft ein starres Kulturkonzept zugrunde, durch das Menschen schnell auf ‚ihre Kultur‘ oder vermeintliche Herkunft reduziert werden. So werden Stereotype und Diskriminierungen eher bestärkt als aufgelöst und ‚Kultur‘ in bestimmten Kontexten als der prägende Faktor für Wesensart und Handeln von Individuen herangezogen. „Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch“, hatte bereits Adorno angeklagt. Bildungsreferent_innen geraten deshalb – oft unwissentlich und entgegen der eigenen 19 20 WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort Intention – in der pädagogischen Praxis in Fallstricke der Exotisierung, Homogenisierung und des Kulturalismus. Dieser Workshop richtete sich deshalb vor allem an Multiplikator_innen der globalen und interkulturellen Bildungsarbeit. Ziel war es, ergänzend zum ersten Workshop, durch einen reflektierten Umgang mit dem Begriff ‚Kultur‘ eine solidarischere und effektivere entwicklungspolitische Arbeit zu ermöglichen und so einen Theorie-Praxis-Transfer für die Bildungsarbeit zu erreichen. Zu Beginn des Workshops befragten die Referent_innen von glokal e.V. die Teilnehmenden zu ihren Einstellungen gegenüber verschiedenen Zitaten zum Kulturbegriff und machten dadurch das extrem weite Feld auf, in dem mit dem Kulturbegriff gearbeitet wird. Im Anschluss gab es einen kurzen Inputvortrag der Referierenden mit welchem Kulturbegriff sie arbeiten. Dazu stellten sie Ansätze der postkolonialen Theorie vor und machten deutlich, dass es vor diesem Hintergrund wichtig sei zu hinterfragen, wer aus welcher Position in welchem Kontext über wen oder was spricht. In diesem Zusammenhang gingen sie auch auf Kulturellen Rassismus und die Ursprünge von Konzepten wie Interkultur und Transkultur ein. Abbildung 9: Exemplarische Kulturkonzepte, Foto vom Workshop „Vom vornehmen Wort Kultur“ am 10.10.2014 Nach diesem eher theoretischen Start, der eine gemeinsame Wissensbasis über die Problematisierung des Kulturbegriffs schaffen sollte, ging es zum Praxistransfer. Hier stellten die Referent_innen verschiedene Materialien aus der entwicklungspolitischen und interkulturellen Bildungsarbeit zur Diskussion. Einige Teilnehmende hatten eigene Fragestellungen mitgebracht. Die Teilnehmenden untersuchten in kleinen AGs mit vorher besprochenen Analysefragen gängige interkulturelle Übungen (wie z.B. Power Flower, Typisch Deutsch, Interkulturelles Mau Mau) auf den darin verwendeten Kulturbegriff. Dieses Fotoprotokoll dokumentiert die Inhalte und Arbeitsschritte im Workshop. Projektdokumentation Von Anfang an machten die Referent_innen von glokal e.V. deutlich, dass es nicht darum gehen kann, zu sagen, dass es eine falsche und richtige Verwendung des Begriffs gibt. Vielmehr wollten sie den Multiplikator_innen Analysefragen an die Hand geben, mit denen sie ihre eigene Arbeit und Materialien von Bildungsträger_innen prüfen können. So können sie ihren eigenen Umgang mit dem Kulturbegriff im Rahmen entwicklungspolitischer und globaler Bildungsarbeit überdenken und einen sensibleren Umgang mit dem Begriff auch in ihren eigenen Trainings etc. weitergeben. Um sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen, bieten diese Literaturhinweise der Referent_innen eine Ausgangsbasis. 3. Reden wir über… Gerechtigkeit: Was sagt die Theorie? Im dritten Teil der Schwerpunktreihe ‚WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort‘ sollte es nochmal um aktuelle Diskurse, Konzepte, Debatten und Perspektiven, die in Verbindung mit dem Thema globale Gerechtigkeit stehen, gehen. Wissenschaftler_innen unterschiedlicher Disziplinen gaben in einführenden Vorträgen einen Überblick über aktuelle Diskurse und Strömungen zu Fragen rund um globale Gerechtigkeit. 3.1 Reden wir über… Eine Welt Blick zurück nach vorn: Geschichte und Perspektiven der Eine-WeltBewegung Vortrag am 22. Oktober um 19.30 Uhr. Mit Claudia von Braunmühl (Politikwissenschaftlerin, Honorarprofessorin an der Freien Universität Berlin). Moderation: Nicole Vrenegor (Open School 21, Hamburg entwickeln für Eine Welt). In Kooperation mit ‚Hamburg entwickeln für Eine Welt‘. Für viele Einrichtungen und Projekte, die sich mit globalem Lernen, Entwicklungspolitik und Anti-Rassismus-Arbeit beschäftigen, ist globale Gerechtigkeit Vision und Mission. So sind diese Projekte, wie auch die W3, aus der Tradition der solidarischen Bewegung oder der ‚Eine-Welt-Bewegung‘ heraus entstanden. Wir widmeten uns daher dieser Bewegungsgeschichte. Welche Rolle spielten Studentenbewegung, Kirchen, Internationalismus? Was bedeutet die zunehmende Institutionalisierung der Bewegung? Mit Claudia von Braunmühl, in den 1980er Jahren von der ZEIT als „ungeliebte Expertin“ tituliert, wollten wir aus einer kritischen Perspektive diskutieren, was wir aus der Vergangenheit lernen können. Die Politikwissenschaftlerin arbeitet neben ihrer Tätigkeit an der FU Berlin auch als unabhängige entwicklungspolitische Gutachterin und Beraterin für internationale Organisationen und NGOs. 21 22 WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort Dieser Vortrag bildete den Auftakt der „Reden wir über…“-Vortragsreihe zum Thema Globale Gerechtigkeit. Vorbereitend für die weiteren drei Vorträge (siehe 3.2, 3.3 und 3.4) war das Ziel dieses Vortrags, einen Überblick über die Anfänge der Solidaritätsbewegung zu geben und Beweggründe und Hintergründe verschiedener Bewegungen zu schildern. Claudia von Braunmühl teilte zu diesem Zweck die Bewegungen in drei Phasen ein: die Solidaritätsbewegung, die Dritte-Welt-Bewegung und die Globalisierungskritik. Außerdem stellte sie die Umstände dar, die jeweils zu der Weiterentwicklung / Veränderung der Ziele und Organisationsformen der Bewegungen führten. So wandelte sich beispielsweise die Solidaritätsbewegung, die sich vor allem als Unterstützung der kolonialen Befreiungsbewegung verstand und auch emanzipierte Gewalt befürwortete, hin zu einer organsierteren, eher pazifistisch eingestellten DrittenWelt-Bewegung, die sich auf bestimmte Punkte, wie beispielsweise ‚Fair Trade‘, konzentrierte, sich kritisch mit Modernisierungs- und Entwicklungsstrategien auseinandersetze (ohne ein neues Modell zu haben) und sich mit festen Arbeitsplätzen auch zunehmend institutionalisierte und verstetigte. Diese Bewegung wurde Ende der 80er Jahre / Anfang der 90er Jahre zunehmend von der Globalisierungskritik abgelöst, die u.a. als Reaktion auf Margaret Thatchers Aussage „There is no alternative“ die wachsende Globalisierung und den damit verbundenen Ansatz, Länder könnten sich nur über Marktmechanismen von der Armut befreien, kritisierte. Die Strahlkraft dieser Bewegung war laut Claudia von Braunmühl sehr weit, da sie verschiedene Szenen miteinander vereinte und auch die Länderfokussierungen einzelner Initiativen nahmen ab und konzentrierten sich stattdessen auf globale Zusammenhänge. Der aktuellen Postwachstum- / Degrowth-Bewegung schreibt Claudia von Braunmühl das Potenzial zu, eine neue vierte Bewegungsphase einzuleiten, die vor allem ungleiche Verteilung, imperiale Lebensweisen und strukturelle Gewalt kritisiert und zu überwinden versucht. Als Fazit schloss Claudia von Braunmühl ihren etwa 30minütigen Inputvortrag mit der Erkenntnis, dass es nicht mehr wie in den Anfängen einen spezifischen Punkt gäbe, an dem sich Solidarität äußern könne, sondern eigentlich müsse jeder Punkt unseres Lebens unter der Fragestellung der Solidarität betrachtet werden – Stichwort: globale Verantwortung. Im Anschluss an den Vortrag führte Nicole Vrenegor in die sehr angeregte Diskussion mit dem Publikum ein. Unter anderem wurde auch die Frage nach Begrifflichkeiten wie ‚Dritte Welt‘ und ‚Globaler Süden‘ gestellt. Hierzu meinte Claudia von Braunmühl, dass es nach wie vor „hilflose Ausdrücke für Ungleichheit“ seien und sich im Grunde genommen nur sprachlich etwas ändere, aber die neuen Begrifflichkeiten nicht wirklich etwas an den Zuschreibungen und strukturellen Gegebenheiten änderten. Viel diskutiert wurde auch die Rolle der Zivilgesellschaft heute und ob „die Bewegung auf der Straße tot“ sei, da sie sich schon zu sehr institutionalisiert habe. Dies wurde aber nicht allgemein so pessimistisch gesehen, stattdessen gab es Verweise auf digitale Kampagnen und beispielsweise ‚CorA‘ als eine Initiative mit großer Wirkung auf lokaler Ebene. Allerdings wurde festgestellt, dass sich Bewegungen nur selten über mehrere Generationen hinweg tragen würden und somit auch Wissen verloren gehe. Zuletzt wurde noch die Frage Projektdokumentation gestellt, ob der Begriff der Solidarität nicht auch ein imperialer sei. Da aber Veränderungsmodelle auch im Norden greifen müssten (z.B. Degrowth), müsse man den Begriff nicht imperial lesen. Zudem sei es wichtig, als Zivilgesellschaft gute Ansätze zu unterstützen, wie z.B. auch Konzepte des ‚Buen Vivir‘ oder den Regenwaldfonds. Als wesentlichen Punkt hob Claudia von Braunmühl zuletzt noch hervor, dass der Zivilgesellschaft ebenfalls eine zentrale Rolle zukomme bezüglich der besorgniserregenden Tendenz einer zunehmenden Militarisierung der Politik und des Denkens. Dieser Vortrag und die Diskussion schufen somit eine Basis für die tiefergehende Auseinandersetzung mit den Themen Entwicklungspolitik und Gerechtigkeit. 3.2 Reden wir über… Entwicklung Der Entwicklungsdiskurs – Post-Development und postkoloniale Perspektiven Vortrag am 12. November 2012, 19.30 Uhr. Mit Prof. Dr. Martina Neuburger (AG Kritische Geographien globaler Ungleichheiten, Universität Hamburg). Moderation: Lena Egetmeyer Entwicklungszusammenarbeit wird oft als ein Versuch dargestellt, globale Gerechtigkeit praktisch in die Tat umzusetzen. ‚Entwicklungshilfe‘, wie sie in den 1950er Jahren vor allem von den ehemaligen Kolonialmächten geprägt wurde, befindet sich jedoch zunehmend in der Kritik. Sowohl die Vorstellung von ‚entwickelten‘ gegenüber ‚unterentwickelten‘ Regionen als auch die eigentlichen Ziele von Entwicklungspolitik werden mehr und mehr hinterfragt. Deshalb sollte es im zweiten Vortrag um die Frage gehen, ob man überhaupt mit dem Entwicklungsbegriff arbeiten sollte und inwiefern dieser gerecht sein kann. Martina Neuburger, Professorin für integrative Geographie an der Universität Hamburg, gab im Rahmen dieser Veranstaltung einen Überblick über Argumente für und wider die Entwicklungszusammenarbeit. Als Mitglied der Arbeitsgruppe Kritische Geographien globaler Ungleichheiten beschäftigt sie sich mit bestehenden Ungleichheits- und Machtverhältnissen. Sie hat verschiedene Forschungen zu diesem Thema veröffentlicht, unter anderem den Sammelband: „‚Entwicklungsländer‘? Verwickelte Welten - Auf der Suche nach Norden und Süden“ (2013). Zu Beginn ihres Vortrages (siehe auch ihre Präsentation) stellte sie zunächst einige gängige ökonomische und soziale Indikatoren vor, die genutzt werden um Entwicklung zu beschreiben und definieren, sowie verschiedene Theorien von Entwicklung seit den 1950er Jahren (von Modernisierungs- über Dependenz- und Weltsystemtheorien, bis hin zu postkolonialen Ansätzen) und deren unterschiedliche Ansätze, Ungleichheiten zu 23 24 WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort erklären. Anschließend warf sie mit dem Post-Development-Ansatz die Frage auf, ob der Begriff der Entwicklung aus unterschiedlichen Gründen nicht völlig überholt sei. Hier nannte sie zum einen das Ende des Ost-West-Konflikts und damit die Sinnlosigkeit der Einteilung in drei Welten, zum anderen ein verstärktes Aufkommen sozio-ökologischer Folgewirkungen des Entwicklungsmodells aus dem ‚Norden‘, welche bestehende Entwicklungen in Frage stellten, aber auch das Sichtbarwerden von Fehlschlägen bestehender Entwicklungspolitiken. So zeigte Martina Neuburger aus der Sicht der geographischen Entwicklungsforschung auf, wie sich der Entwicklungsdiskurs nicht nur aus normativer Sicht überholt habe. Die postkoloniale Kritik geht laut Neuburger sogar noch einen Schritt weiter als PostDevelopment-Ansätze. Sie stellt diskursanalytisch die Frage, wer in welchem Kontext den Begriff der Entwicklung und Konzepte, die damit im Zusammenhang stehen, benutzt; wer bestimmt, was damit gemeint ist und was das Ziel von Entwicklung sei. Postkoloniale Ansätze betonen das Fortdauern kolonialer Herrschaftssysteme und der sie legitimierenden Diskurse. Aus dieser Perspektive seien Entwicklungspolitik und zusammenarbeit generell als paternalistisch und eurozentristisch zu bezeichnen. Zum Abschluss veranschaulichte Martina Neuburger die postkoloniale Kritik an Entwicklungspolitik und -forschung anhand des Beispiels eines eigenen Forschungsprojektes zu Gletschern und Wasserknappheit in Peru. Auch ihr Forschungsteam sei häufig in die Falle des Eurozentrismus getappt, gerade was die Frage anging: Wer forscht über wen bzw. was? Wer ist scheinbar objektiver Betrachter, wer wird zum Forschungsobjekt? Sie ging aber gleichzeitig auch auf Versuche ein, diesen Dilemmata zu entgehen, z.B. durch Einbeziehung der lokalen Bevölkerung bereits in die Definition des Forschungsproblems sowie einen ständigen Prozess der Selbstreflexion. Dennoch wurde anschließend aus dem Publikum die Legitimität von westlicher Forschung in Ländern des sogenannten Globalen Südens grundsätzlich in Frage gestellt. Dies vor allem, wenn Probleme erforscht würden, die nur in den Augen des Forschenden ein Problem darstellen und somit Lösungen produziert würden, die für die Menschen vor Ort keinen Sinn machen beziehungsweise unnötig seien, da das Problem in ihren Augen an anderer Stelle liegt. Neuburger entgegnete, dass es vorschnell sei, der Wissenschaft generell jegliche Legitimität abzusprechen. Forschung sei nach wie vor wichtig, um offene Fragen zu beantworten, Wissen zu produzieren und Zusammenhänge aufzuzeigen und sichtbar zu machen. Als Fazit der Veranstaltung lässt sich festhalten, dass moralische Begriffe wie Solidarität und Gerechtigkeit, die zentrale Bezugspunkte der Themenreihe darstellten, aus postkolonialer Perspektive schwer füllbar sind bzw. keine allgemein gültigen Definitionen erfahren können. Vielmehr gibt diese Form der Kritik einen Auftrag zur Selbstreflexion und -positionierung innerhalb eines globalen Systems von Macht und Ungleichheiten. Projektdokumentation Gerechtigkeit ist Vielfalt ohne Hierarchien. Prof. Dr. Martina Neuburger Abbildung 10: Was ist gerecht? Martina Neuburger 3.3 Reden wir über… Menschenrechte Der Universalismus der Menschenrechte und seine relativistischen Gegner_innen Vortrag am 19. November, 19.30 Uhr. Mit PD Dr. Arnd Pollmann (Philosophisches Seminar, Universität Hamburg, Mitherausgeber der Zeitschrift für Menschenrechte). Moderation: Lena Egetmeyer Wenn es um globale Gerechtigkeit geht, dienen Menschenrechte oft als Anker und Richtwert. Doch auch der universelle Anspruch der Menschenrechte ist umstritten. Gegner_innen, die einen kulturrelativistischen Ansatz vertreten, sehen Menschenrechte nicht per se als übertragbar auf alle Kulturen an. Arnd Pollmann näherte sich diesem Thema aus philosophischer Sicht. Der Philosoph, Mitherausgeber der Zeitschrift für Menschenrechte und Mitbegründer der Arbeitsstelle Menschenrechte der Otto-vonGuericke-Universität Magdeburg lehrt derzeit er an der Universität Hamburg Praktische Philosophie. In Pollmanns Vortrag ging es um die moralischen Grundlagen der Menschenrechtsidee und um die Frage, was genau ihr Anspruch auf ‚Universalität‘ bedeutet und mit welchen Argumenten dieser von Kulturrelativist_innen angefochten wird. Einleitend stellte er klar, dass das Ziel der Menschenrechte generell sei, die Würde des Menschen zu bewahren. Dies bedeute, es gehe zwar um mehr als lediglich das „nackte Überleben“, aber gleichzeitig nicht um das „gute Leben“. Anschließend zeigte Arnd Pollman anschaulich und sehr verständlich Argumente der Kritik an den Menschenrechten und jeweils auch die direkte Antwort der Universalismusvertreter_innen auf. In Bezug auf die Kritik machte er verschiedene Unterscheidungen: Es gebe Formen der Kritik an den Menschenrechten, die sich auf den Anspruch der allgemeinen Gültigkeit bezögen und somit den Wert mancher Menschen generell in Frage stellten. Diese seien aber glücklicherweise nicht besonders verbreitet. Die gängigste Form der Kritik an den Menschenrechten seien hingegen relativistische Einwände. Diese bezögen sich im Kern auf den Anspruch der ‚egalitären‘ Geltung und argumentierten in verschiedenen Variationen, dass die Menschenrechte ein westliches Konzept seien, das aufgrund seiner spezifischen Wertegrundlage nicht ohne weiteres auf andere kulturelle Kontexte übertragen werden könne. Das Konzept der Menschenrechte sei somit eurozentristisch. 25 26 WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort Arnd Pollmann argumentierte demgegenüber, das Konzept der Menschenrechte3 sei zwar im Westen entstanden, beinhalte aber keine Wertvorstellungen, die aufoktroyiert würden. Vielmehr seien die Menschenrechte immer so allgemein formuliert, dass sich die konkrete Auslegung davon kultur- und gesellschaftsabhängig anpassen ließe. Er zeigte dies am Beispiel des Menschenrechts auf einen angemessenen Lebensstandard. Aus menschenrechtlicher Perspektive gehe es darum, einen ‚angemessenen Lebensstandard‘ für alle Menschen zu gewährleisten, was genau dann ‚angemessen‘ bedeute, könne je nach dem konkreten Kontext aber durchaus variieren. Neben der allgemeinen und egalitären Geltung impliziere der Anspruch eines Universalismus zudem, dass die Menschenrechte subjektiv, generell, fundamental, unverlierbar, unveräußerlich und unteilbar seien. Letzteres bedeute, dass alle Menschenrechte zugleich gelten müssen und nicht gegeneinander eingetauscht werden könnten. Das Recht auf Freiheit dürfe also beispielsweise nicht zugunsten des Rechts auf Sicherheit eingeschränkt werden. Die Menschenrechte sind laut Arnd Pollmann universell, weil sie die Möglichkeit nach unterschiedlicher inhaltlicher Ausdifferenzierung und Umsetzung offen halten würden. Wenn man das Ziel der Menschenrechte, die Würde des Menschen zu sichern, ernst nehme, werde deutlich, dass die Menschenrechte nur universell sein können. Denn der Anspruch, ein menschenwürdiges Leben führen zu können, müsse für alle Menschen gelten. Zum Abschluss des Vortrags führte Arnd Pollmann den Begriff der ‚Universalisierung‘ ein. Da die Menschenrechte noch nicht überall umgesetzt seien, gebe es noch keinen tatsächlichen Universalismus der Menschenrechte. Vielmehr handele es sich um einen Geltungsanspruch, den es erst noch politisch und rechtlich einzulösen gelte, im Rahmen eines Prozesses der Universalisierung. Zudem wies er darauf hin, dass Gegner_innen bzw. Kritiker_innen der Menschenrechte selbst i.d.R. keine Opfer von Menschenrechtsverletzungen seien. Opfer von Menschenrechtsverletzungen würden im Gegenzug meist für bzw. mit den Menschenrechten argumentieren. Gleichzeitig hielt Pollmann die Kritik an den Menschenrechten aber für fruchtbar und sehr wichtig, da sie von Universalismusvertreter_innen konstruktiv genutzt werden könne, um die Prämissen der Menschenrechte zu erweitern. Die Diskussion im Anschluss war sehr angeregt und die Fragen aus dem Publikum gingen sehr in die Tiefe. Ein Einwand war beispielsweise, dass das Konzept der 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von der Generalversammlung der Vereinten Nationen proklamiert, dies war die erste Niederschrift des Menschenrechtsgedankens, allerdings völkerrechtlich noch nicht verbindlich. Erst die zwei 1966 verabschiedeten und 1976 in Kraft getretenen Zusatzabkommen („Sozialpakt“ und „Zivilpakt“) waren verbindlich und erweiterten und modifizierten die Erklärung von 1948. Alle drei Abkommen zusammen bilden die Internationale Charta der Menschenrechte. Siehe auch http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsinstrumente/vereintenationen/menschenrechtsabkommen.html 3 Projektdokumentation Menschenwürde selbst wiederum nicht universell sei, sondern auch unterschiedlich verstanden werden könne. Jede_r habe andere Vorstellungen davon, was benötigt werde, um die eigene Würde zu wahren. Pollmann erwiderte, dass dies insofern dem Universalismus der Menschenrechte nicht widerspreche, da die Wahrung der Menschenwürde ÜBERALL für ALLE das Ziel sei. Die konkrete Umsetzung davon könne sich aber wiederum an lokalen, regionalen Wertvorstellungen orientieren. Die Frage, was Gerechtigkeit ist, sorgt immer wieder für erhebliche Verwirrung. Mögliche Antworten reichen von der vermeintlich einfachen antiken Losung „Jedem das Seine“ zu überaus komplexen mathematischen Umverteilungsmodellen. Dabei wird leicht übersehen, dass es sehr unterschiedliche Güter zu verteilen gilt, wenn es gesamtgesellschaftlich gerecht zugehen soll: natürliche Ressourcen, Geld, Rechte, Anerkennung, Gesundheitsvorsorge, Bildungschancen, Zukunftsaussichten, Macht, Privilegien, Belohnungen für Anstrengungen und Leistungen. In Abhängigkeit davon, wo genau man hier die Focus setzt, ergeben sich sehr unterschiedliche Gerechtigkeitskonzeptionen und auch Spannungen. Zum Beispiel: Zählen Bedürfnisse mehr als Leistungen? Und, wenn ja, warum eigentlich? Und doch gibt es ein allgemeines, wenngleich konjunktivisches Kriterium dafür, wann in etwa die Verhältnisse gerecht eingerichtet wären – und zwar dann, wenn alle Beteiligten gleichermaßen zufrieden bzw. gleichermaßen unzufrieden sind. PD Dr. Arnd Pollmann Abbildung 11: Was ist gerecht? Arnd Pollmann 3.4 Reden wir über… Globale Gerechtigkeit Entwicklungspolitik als Instrument Globaler Gerechtigkeit Vortrag am 10. Dezember 2014, 19.30 Uhr. Mit Dr. des. Dorothea Gädeke (Leibnizforschungsgruppe ‚Transnationale Gerechtigkeit‘, Goethe-Universität Frankfurt). Moderation: Nicole Vrenegor (Open School 21, Hamburg entwickeln für Eine Welt) Im letzten Vortrag der Theoriereihe „Reden wir über…“ zum Thema Globale Gerechtigkeit wollten wir uns mit zeitgenössischen Gerechtigkeitstheorien beschäftigen. Leitideen für Gerechtigkeit beziehen sich traditionell auf innerstaatliche Ordnungen. Wie aber müssen diese mit Blick auf Globalisierungsprozesse und Nord-SüdBeziehungen politisch und philosophisch neu definiert werden? Leitideen für globale Gerechtigkeit wurden lange unabhängig vom Entwicklungsdiskurs gedacht. Dorothea 27 28 WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort Gädeke gehört zu den wenigen Forschenden, die diese Diskurse miteinander verbinden. Dadurch schafft die Politikwissenschaftlerin auch für die Arbeit mit entwicklungspolitischen Fragestellungen neue Grundlagen. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Leibniz-Forschungsgruppe ‚Transnationale Gerechtigkeit‘ an der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Theorien globaler Gerechtigkeit, normative Grundlagen der Entwicklungspolitik sowie gerechte Migrations- und Flüchtlingspolitik. An konkreten Beispielen im Bereich der Migrationsund Asylpolitik, Entwicklungszusammenarbeit oder Praktiken der externen Demokratieförderung fragt sie also: Ist das gerecht? In ihrem Vortrag (siehe auch ihre Präsentation) schlug Dorothea Gädeke den Bogen zwischen Entwicklungspolitik und Theorien der Gerechtigkeit, so dass die abschließende Frage diskutiert werden konnte, ob die gegenwärtige Entwicklungspolitik aktuellen Maßstäben von Gerechtigkeit standhalte. Um sich dieser Frage zu nähern stellte Dorothea Gädeke zunächst verschiedene Gerechtigkeitstheorien vor und überprüfte, inwiefern diese auch globale Ordnungen mit berücksichtigten. Sie markierte vor allem die 1970er Jahre als den Zeitpunkt, ab dem Gerechtigkeit nicht nur innerstaatlich, sondern auch global verhandelt wurde. Dies sei stark an die Hungersnot in Äthiopien gekoppelt gewesen, die erstmals eine weltweite Hilfsmaschinerie in Gang setzte. Der Aufsatz Peter Singers ‚Die Pflicht der Nothilfe‘ sei in diesem Zusammenhang wegweisend gewesen. Im Weiteren stellte sie die verschiedenen Argumente der Kosmopoliten (Pflicht zu institutionalisierter Umverteilung) und Etatisten (freiwillige Nothilfepflicht) vor, formulierte aber auch die nach wie vor aktuelle Kritik, dass mit der Nothilfe Opfer von Ungerechtigkeit (Stichwort: Rohstoffprivileg) gleichzeitig zu notleidenden dankbaren Empfängern gemacht würden und die Gebernationen somit weiter an Macht gewännen, obwohl sie mitverantwortlich für bestehende Ungerechtigkeitsmuster seien. Als Vorschläge, wie dieser Ungerechtigkeitsmechanismus aufgebrochen werden könne, nannte sie eine Reform der Weltwirtschaftsordnung (wodurch Entwicklungspolitik in globale Strukturpolitik eingebunden würde), von entwicklungspolitischen Entscheidungs- und von Durchführungsprozessen (Verfahren der wechselseitigen Rechenschaftspflicht). Gädeke sieht für diese Reformen teilweise schon gute Ansätze. Nach diesem Inputvortrag führte die Moderatorin Nicole Vrenegor in die Diskussion ein. Dabei wurde vor allem die Rolle der NGOs diskutiert. Diese sollten in ihrer Rolle innerhalb der Institutionen gestärkt werden, damit sie Umverteilungsgedanken weiter voranbringen und die den Institutionen inhärenten Machtstrukturen aufbrechen könnten. Zudem sei die Funktion von NGOs, Gegenöffentlichkeit zu schaffen und Machtstrukturen innerhalb der Institutionen offenzulegen und zu kritisieren, sehr wichtig und notwendig. NGOs unabhängig von Institutionen in ihrer Macht zu stärken, sah Dorothea Gädeke zumindest kritisch, da diese in diesem Fall keinerlei Rechenschaftspflicht hätten. Zum Abschluss zitierte sie John Rawls mit den Worten: Eine Projektdokumentation realistische Utopie müsse utopisch genug sein, um kritisch zu sein und gleichzeitig realistisch genug, um Perspektiven zu bieten. Spontan würde ich so reagieren: Ungerecht ist, wenn Menschen willkürlicher, d.h. ungerechtfertigter Macht unterworfen sind. Gerechtigkeit erfordert zunächst Verfahren, die soziale Machtverhältnisse einer wechselseitigen Rechtfertigung durch die Betroffenen öffnen. Damit ist letztlich eine enge Verbindung von Gerechtigkeit und partizipativen, deliberativen Strukturen gegeben, in denen die jeweiligen Akteure selbst konkretisieren, was Gerechtigkeit fordert. Dorothea Gädeke Abbildung 12: Was ist gerecht? Dorothea Gädeke 29 30 WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort III. Fazit Mit der Veranstaltungsreihe haben wir versucht uns Antworten auf die Fragen „Was ist gerecht? Und wie kann Gerechtigkeit erreicht werden?“ im Rahmen der globalen Bildungsarbeit anzunähern. Bei der Auseinandersetzung mit diesen Fragen ergeben sich allerdings nicht immer konkrete Antworten, sondern häufig vielmehr Analysefragen für das eigene Verhalten und die eigene Arbeit, die vor allem notwendig für eine kritische Reflexion der Rolle von NGOs und anderen Akteur_innen in diesem Bereich sind. Solche Fragen können beispielsweise sein: - - Wer redet über wen? Wie ist die Perspektive der Betroffenen? Welche Machtstrukturen liegen einem Gerechtigkeitskonflikt zugrunde und wie können diese sichtbar gemacht oder gar durchbrochen werden? In welcher privilegierten Rolle bzw. Position befindet man sich selbst? Findet das solidarische Handeln auf Augenhöhe statt? Wem ist das Handeln von Vorteil? Welche Ansatzpunkte sind für ein Einwirken im Sinne von mehr globaler Gerechtigkeit richtig und wirksam? (z.B.: Ist ein Einwirken in Brüssel bei der EU nachhaltiger und sinnhafter, als Aktionen in den Ländern selbst, die von der EUPolitik betroffen sind?) Was ist die eigene Verantwortung als Multiplikator_in in diesem Feld und wird man dieser gerecht? Uns ist natürlich bewusst, dass eine zwölfteilige Veranstaltungsreihe nur einen kleinen exemplarischen Einblick in eine so große Fragestellung wie jene der Globalen Gerechtigkeit liefern kann. An dieser Stelle sollen dennoch die zentralen Ergebnisse zusammengefasst festgehalten werden: Zentrale Erkenntnis des Veranstaltungsblocks „Vom Recht auf…“ war zum einen, dass es oft eine Diskrepanz zwischen dem zugesprochenen Recht und dem subjektiven Erleben sowie der gesellschaftlichen Anerkennung davon gibt. Zum anderen zeigte sich deutlich, dass der Zugang zu und die Umsetzung von Rechten nicht immer gewährleistet sind. Zudem haben die Veranstaltungen, in denen vor allem Betroffene von Unrechtserfahrungen zu Wort gekommen sind, gezeigt, wie deren Erfahrung stark von den medial oder mehrheitsgesellschaftlichen Annahmen abweicht. Deshalb ist eine wichtige Erkenntnis aus diesen Veranstaltungen für die globale und interkulturelle Bildungsarbeit nicht – wie vielfach der Fall – über Betroffene zu sprechen, sondern mit ihnen und aus ihrem Erfahrungshorizont heraus. Die Workshops für Multiplikator_innen zeigten ebenfalls, was für eine gerechte(re) globale Bildungsarbeit wichtig ist: eine selbstkritische Analyse und Hinterfragung der eigenen verwendeten Materialien, Bilder und Texte auf versteckte Rassismen und Reproduktionsmechanismen von Ungleichheiten, Stereotype und Machtasymmetrien. Projektdokumentation Dies ist zentral, um dem Anspruch einer global gerechten Arbeit zu entsprechen. Sie haben die Notwendigkeit und große Verantwortung von NGOs deutlich gemacht, vorurteilsfreie Bilder und Texte zu produzieren, um nicht in die Falle der immer wiederkehrenden Stereotypisierungen und Exotisierungen zu tappen. Abschließend haben die eher theoretisch und diskursorientierten Vortragsveranstaltungen gezeigt, dass es sich bei der Frage nach globaler Gerechtigkeit um einen dynamischen Diskurs handelt, der viel Selbstreflexion und kontinuierlicher Wiederaushandlungen bedarf. Claudia von Braunmühls Vortrag lieferte die Erkenntnis, dass Solidarität auf nichtpaternalistische oder nicht-imperiale Art und Weise nur umgesetzt werden kann, wenn Bewegungen und Veränderungsmodelle in einer global vernetzten Welt sich vor allem auf Ansätze vor Ort konzentrieren und von der Zivilgesellschaft mitgetragen werden. Der Vortrag von Martina Neuburger zum Entwicklungsbegriff bezog sich auf Erkenntnisse aus der Postkolonialen Theorie und der Post-Development-Forschung. Diese bieten zwar nicht unbedingt konkrete Alternativen, aber sie verweisen immer wieder auf die Notwendigkeit einer Selbstreflexion und -positionierung. Viel zu oft geschieht auch entwicklungspolitische Bildungsarbeit noch mit einem Gestus paternalistischer Solidarität und einem Habitus des „über Betroffene…“-Redens anstatt mit ihnen. Arnd Pollmann betonte die Wichtigkeit von Menschenrechten als Orientierungspunkt für eine gerechtere Welt, da sie das Ziel haben, die Würde aller Menschen überall und immer zu gewährleisten und dabei gleichzeitig Raum für kultur- und gesellschaftsabhängige Auslegung ließen. Sich für Menschenrechte einzusetzen bzw. deren universale Umsetzung zu fordern, sei nicht eurozentristisch oder paternalistisch gegenüber Ländern, in denen die Menschenrechte möglicherweise weniger geachtet sind. Vielmehr sei es globale Verantwortlichkeit für die Würde eines jeden Menschen. Dorothea Gädeke verknüpfte in ihrem Vortrag kontemporäre Gerechtigkeitstheorien mit der Entwicklungspolitik und nannte konkrete Ansätze zur Durchbrechung von bestehenden Ungerechtigkeitsmechanismen der Entwicklungspolitik: - Einbindung der Entwicklungspolitik in globale Strukturpolitik Reformierung der Weltwirtschaftsordnung und zentraler Institutionen (z.B. Weltbank, IWF, etc.) Reformierung der Entscheidungs- und Durchführungsprozesse der Entwicklungspolitik Einbeziehung von NGOs in obige Reformen, da diese Umverteilungsgedanken weiter voranbringen, den Institutionen inhärente Machtstrukturen aufbrechen und Gegenöffentlichkeit schaffen können. Abschließend zeigten die Veranstaltungen somit eine Perspektive für eine gerechtere Welt auf: Neben einer reformierten Entwicklungspolitik könnten vor allem 31 32 WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort Nichtregierungsorganisationen und Bewegungen der Zivilgesellschaft, wie z.B. aktuell die Postwachstums-/Degrowth-Bewegung als Akteur_innen zu Umverteilung und globaler Gerechtigkeit beitragen. Wichtig ist hierbei vernetzte Zusammenarbeit und ein reflektierter Umgang mit Machtstrukturen und Privilegienverteilung. Die Methoden, Ansätze, Konzepte und Begriffe von globaler Bildungs-Arbeit müssen dabei immer wieder selbstkritisch hinterfragt und reflektiert werden, um nicht erneut ungerechte Strukturen zu reproduzieren. Außerdem verlangt dies, nicht über die Betroffenen zu sprechen, sondern mit ihnen und sich der eigenen Machtposition bewusst zu sein. Zukünftig zu behandelnde Themen, die sich daraus für die globale und interkulturelle Bildungsarbeit ergeben, sind dementsprechend eine intensivere Beleuchtung des Entwicklungsdiskurses, von Machtstrukturen in der global vernetzten Welt, die Perspektive der Betroffenen und globale Interdependenzen, die es ermöglichen nicht in der Ferne, sondern vor Ort und lokal Veränderungen anzustoßen. Ein neuer Entwicklungsbegriff oder ein neues Verständnis von Entwicklung in der globalen und interkulturellen Bildungsarbeit sollte sich an Kriterien der Nachhaltigkeit, der sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit orientieren. All dies kann als Aufgabe für die W3 und andere Institutionen, NGOs und Initiativen verstanden werden. Diese Themenreihe lieferte den Impuls für die nötige Selbstkritik und das Verständnis von Diskursen und Konzepten, sowie aber auch einen Einblick in die Situation von Betroffenen. Das letzte Wort geben wir in diesem Sinne ab an Mahmood Falaki, der in seinen Ausführungen zu Gerechtigkeit mehrere Aspekte unserer Themenreihe zusammenfasst und einen interessanten Einblick in seine Gedanken dazu gewährt. Jeder glaubt, dass er „Recht“ hat, egal in welcher Situation oder in welcher Hinsicht. Kann man aber jedem Recht geben, um so Gerechtigkeit zu gewährleisten? Jeder interpretiert, was Recht ist, aus seiner Perspektive. Aus Sicht eines religiösen Menschen wird Gerechtigkeit von Gott bestimmt, die Menschen müssen dem Wort Gottes gehorchen. Darf man heutzutage solch tausende Jahre alten Vorstellungen von der Zentralstellung Gottes als „Rechtfertigungsinstanz“ unterstützen, weil man meint, auf diese Art die Meinungsfreiheit zu verteidigen? Hier antworte ich mit NEIN, denn das Göttliche ist absolut und schließt Pluralismus aus. Dieses NEIN gilt ebenso für alle anderen Ideologien, die die Gesellschaft eintönig und die Menschen austauschbar und zu Marionetten machen wollen. Wir leben in einer Zeit mit allen Möglichkeiten und Freiheiten einer rechtsstaatlichen Gesellschaft, in der Vielfältigkeit in allen Bereichen im Vordergrund steht. Dies sind Errungenschaften von Aufklärung und Säkularisierung. Voraussetzung einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaftsordnung ist nicht nur die Freiheit des Andersdenkenden sich zu äußern, sondern die prinzipielle Bereitschaft dessen Position zu akzeptieren. Projektdokumentation Das säkularisierte Ich-Bewusstsein hat mit dem Modernisierungsprozess die Freisetzung des Individuums aus den "vorherbestimmten" sozial-politisch, ökonomischen und ideologischen Kontexten ermöglicht. Dieses noch immer „unvollendete Projekt“ der Modernität, versetzt uns in die Lage, Kants Vorstellung von Aufklärung folgend, uns des „eigenen Verstandes“ bedienen und Eigenverantwortlichkeit des Individuums zu erreichen. Insofern ist unter Gerechtigkeit die Anerkennung der Vielfältigkeit der Individuen und der Heterogenität der Ideen zu verstehen; Niemanden das Recht zuzugestehen, Lebensentwürfe zu diktieren. Voraussetzung für Gerechtigkeit ist die Bereitschaft das Andere als Mitsubjekt für Dialog und Kooperation anzuerkennen, nicht als Objekt strategischer Einwirkung. Man sollte das Fremde auf kultureller Basis und humanistischer Grundlage erfassen und sein Handeln danach ausrichten. Gerechtigkeit bedeutet also, das Andere zu akzeptieren, solange die der Moderne innewohnende Offenheit, Mündigkeit, Gesetzmäßigkeit und die Individualität nicht zu beschränken versucht wird. Das ist nur ein Aspekt der Gerechtigkeit, ein anderer ist die Würde des Menschen, die in untrennbarer Verbindung mit seiner wirtschaftlichen Lage steht. Die Finanzmärkte haben in ihrer Gier die bestehende Freiheit ausgenutzt. Das freie Individuum kann sich nicht entwickeln, solange Armut herrscht, solange Investmentfirmen Menschen durch die Macht des Geldes kontrollieren und Politik diktieren, wobei sie schwächeren Bürgern Schaden zufügen. Wenn Menschen durch die Macht des Geldes arbeitslos oder obdachlos werden, ist das eine Menschenrechtsverletzung, die unsere Welt zu einer ungerechten Welt macht. Armut ist ungerecht und niemand sollte für die Gier der Anderen bezahlen müssen. Armut bedeutet den Verlust von Freiheit und Würde, den Grundsteinen einer demokratischen Gesellschaft. Finanzgiganten, wie z. B. Black Rock, die zum größten Teil für die derzeitige wirtschaftliche Krise und Armut verantwortlich sind, müssen unter Kontrolle demokratisch legitimierter Regierungen gestellt werden, damit die Welt nicht ungerechter wird. Durch geeignete Maßnahmen zur Kontrolle solcher Investmentfirmen und Banken könnte mehr Gerechtigkeit in diesem Bereich hergestellt werden. Mahmood Falaki, Autor und Dozent 33 34 WeltGerecht? Umkämpfte Rechte hier und dort DANKSAGUNG Wir danken an dieser Stelle auch unseren Förderern des Gesamtprojektes für Ihre finanzielle Unterstützung und die Geduld, die sie uns entgegengebracht haben bei unseren konzeptionellen, finanziellen, zeitlichen und personellen Änderungen und uns damit die Realisierung ermöglicht haben. Ohne die großzügige Unterstützung der Norddeutschen Stiftung für Umwelt und Entwicklung und des Katholischen Fonds wäre das Projekt nicht umzusetzen gewesen. Wir danken ganz herzlich auch all unseren ehrenamtlichen Engagierten und Kolleginnen u.a. Lisa Grabe, Nina Scheer und Maríe-Line Petrequin für ihre tatkräftige Unterstützung. Sie haben sowohl bei der Recherche und Planung sowie bei der Veranstaltungsbetreuung mitgewirkt und uns in besonderen Engpässen wie beispielsweise krankheitsbedingten Ausfällen zur Seite gestanden. Projektdokumentation 35
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