"Die Freiheit aufzutauchen" Predigt von Pfrn. Caroline Schröder Field über Römer 6,1-14 2. Sonntag im Advent - 6. Dezember 2015 Basler Münster "Wo kann man sich am besten vor Gott verstecken?" mit dieser Frage überraschte neulich einer unserer Konfirmanden unseren Vikar David Jäger. Als dieser die Antwort nicht wusste, bekam er zu hören: "Unter Wasser." Natürlich spielte der Junge darauf an, dass Jesus auf dem Wasser gehen konnte, wie es in den Evangelien erzählt wird. Die Rückseite dieser göttlichen Begabung jedoch ist, mindestens nach Auffassung des jugendlichen Witze-Erzählers, dass Jesus respektive Gott nur sieht, was sich über der Wasseroberfläche befindet. Folglich ist man gut versteckt, wenn man untertaucht, wenn man also unter Wasser ist. Es ist ein Witz, natürlich. Der Konfirmand wollte Herrn Jäger ein wenig hochnehmen. Doch manche Witze provozieren zu längerem Nachdenken. Denn in ihnen kann sich ein Körnchen Wahrheit verbergen. Woran der Konfirmand nämlich gewiss nicht gedacht hatte, war die Taufe. Wozu sonst braucht man in der Kirche Wasser, wozu, wenn nicht zum Taufen? Zugegeben, wir taufen meist Kinder und wir taufen sie, indem wir ihnen dreimal eine Handvoll Wasser über den Kopf geben, und eine Handvoll ist schon grosszügig. Jesus selbst liess sich von Johannes dem Täufer taufen. Er stieg dazu in den Jordan und tauchte unter oder wurde vielmehr untergetaucht. Und ähnlich haben es auch die ersten Christinnen und Christen praktiziert. Bevor sie ihren Glauben leben konnten, waren sie erst einmal unter Wasser. Und warum soll man dieses unter Wasser-Sein, dieses Untertauchen nicht tatsächlich als ein Versteck ansehen, als ein Versteck vor Gott? Sich vor Gott zu verstecken, das ist wie zu einem Teil unserer menschlichen Natur geworden. Denken Sie an die Paradiesgeschichte, an Adam und Eva und wie sie von jenem Baume assen, von dem sie nicht hatten essen dürfen. Nach diesem Übergriff verbargen sie ihre paradiesische Nacktheit hinter geflochtenen Feigenblättern und versteckten sich vor Gott. Sich vor Gott zu verstecken, hat nach biblischem Empfinden etwas mit Sünde zu tun. Aus dem Versteck herauszukommen, könnte dagegen etwas mit der Taufe zu tun zu haben. Denn die Taufe ist das Zeichen dafür, dass die Sünde keine Macht mehr hat über den Menschen, der sie empfängt. Wer getauft ist, hat die Freiheit sich zu outen. Denn die Pointe der Taufe ist nicht das Untertauchen, ist nicht das Unterwasserversteck des Menschen, der sich den Blicken Gottes entziehen möchte. Die Pointe der Taufe ist das aus der Taufe gehoben Werden, wie es früher hiess. Der Täufling ist nicht dazu bestimmt, unter Wasser zu bleiben, sondern aus dem Wasser herausgezogen zu werden an die lebensrettende Luft und an das befreiende Licht des Tages. Der Mensch ist nicht dazu bestimmt, in seinem Versteck zu verharren, in das ihn die Sünde getrieben hat. Er ist dazu bestimmt, herausgerufen zu werden an einen Ort, wo er sich sehen lassen kann, ohne sich in Grund und Boden zu schämen. Die Pointe des menschlichen Lebens ist nicht die Sünde, sondern die Freiheit von ihr. Dies schärft uns der Apostel Paulus ein. Mit seinen Worten setzen wir die Predigtreihe zum Römerbrief fort, die uns auch durch den Advent begleiten soll. Hören Sie aus dem sechsten Kapitel: "Was sollen wir nun sagen? Sollen wir denn in der Sünde beharren, damit die Gnade umso mächtiger werde? Das sei ferne! Wie sollten wir in der Sünde leben wollen, der wir 1 doch gestorben sind? Oder wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln. Denn wenn wir mit ihm verbunden und ihm gleich geworden sind in seinem Tod, so werden wir ihm auch in der Auferstehung gleich sein. Wir wissen ja, dass unser alter Mensch mit ihm gekreuzigt ist, damit der Leib der Sünde vernichtet werde, sodass wir hinfort der Sünde nicht dienen. Denn wer gestorben ist, der ist frei geworden von der Sünde. Sind wir aber mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden, und wissen, dass Christus, von den Toten erweckt, hinfort nicht stirbt; der Tod kann hinfort über ihn nicht herrschen. Denn was er gestorben ist, das ist er der Sünde gestorben ein für alle Mal; was er aber lebt, das lebt er Gott. So auch ihr, haltet dafür, dass ihr der Sünde gestorben seid und lebt Gott in Christus Jesus. So lasst nun die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe, und leistet seinen Begierden keinen Gehorsam. Auch gebt nicht der Sünde eure Glieder hin als Waffen der Ungerechtigkeit, sondern gebt euch selbst Gott hin als solche, die tot waren und nun lebendig sind, und eure Glieder Gott als Waffen der Gerechtigkeit. Denn die Sünde wird nicht herrschen können über euch, weil ihr ja nicht unter dem Gesetz seid, sondern unter der Gnade." In äusserst dichten Sätzen schärft uns Paulus ein, dass nicht der Tod und nicht die Sünde die Pointe unseres Lebens ist, sondern Gerechtigkeit und Gnade. Die Gerechtigkeit, der wir dienen, und die Gnade, unter der wir stehen. Die Gnade, unter der wir stehen, ist die Schicksalsgemeinschaft mit Christus: Wir haben Anteil an seinem Tod und seiner Auferstehung. Wir sind mit ihm gekreuzigt, um mit ihm aufzuerstehen. Kreuz und Auferstehung sind für uns nicht als historische Tatsachen interessant, zu denen wir uns in 2000jährigem Abstand befinden. Heute trifft uns sein Sterben. Heute trifft uns seine Auferstehung. Die Lebensgeschichte eines jeden Christenmenschen darf diesen Tod durchblicken lassen, so wie das Leben eines jeden Christenmenschen auch auf diese Auferstehung hin transparent wird. Ich bin nicht mehr so, wie ich war, wenn ich in der Schicksalsgemeinschaft mit Christus stehe. Ich bin aus meinem Versteck herausgetreten, ich darf mich sehen lassen als die, die ich bin. Ein anderes, ein neues Licht fällt auf mich. Ich lerne mich kennen, wie ich mich nie gekannt habe. Ich bin Christus-Trägerin, bin Christus-Träger. Darum schreibt Paulus: "So haltet auch ihr euch selbst dafür, dass ihr der Sünde tot seid, für Gott aber lebt in Christus Jesus." Der Sünde tot sein? Für die Sünde gestorben sein? Was sollen diese rätselhaften Worte bedeuten? Lassen Sie es mich an einem Beispiel verdeutlichen. Manchmal ist das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern so zerrüttet, dass die Eltern zu ihrem Kind sagen: "Du bist für uns gestorben." Oder umgekehrt. Eine solche Haltung kommt einem Todesurteil gleich. Vollstreckt wird es nicht durch körperliche Gewalt, sondernd durch den Abbruch der Beziehung. Dieser Abbruch ist da besonders schmerzhaft, wo die Beziehung nah und innig gewesen ist. "Du bist für mich gestorben", das sagt man nicht unter flüchtigen Bekannten - diese können sich ohne dramatischen Beziehungsabbruch unauffällig voneinander entfernen. Aber wenn die andere Person zum eigenen Lebenszentrum gehört, dann trifft es beide Seiten ins Herz, wenn über die Beziehung das Todesurteil verhängt wird: "Du bist für mich gestorben." Für Paulus nun ist die Sünde nicht etwa bloss eine moralisch fragwürdige Tat. Sünde ist eine Macht, und ich stehe zu ihr wie zu einer Person, die immer schon zu mir gehört hat, die immer schon Teil meines Lebenszentrums gewesen ist. Erst wenn Christus mein Schicksal wird, ändert sich alles. Denn das erste, was geschieht, ist, dass sein Tod mein Tod wird. Wenn sich sein physischer Tod geistlich an mir vollzieht, dann bin ich für die Sünde nicht mehr existent. Zwischen der Sünde und mir hat nur noch ein einziger Satz Gültigkeit: "Du bist für mich gestorben." 2 Dramatisch ist dieser Beziehungsabbruch, weil er nicht etwa bloss flüchtige Bekannte voneinander entfremdet. Dramatisch ist dieser Beziehungsabbruch, weil wir uns nicht gleichgültig waren, die Sünde und ich. Dramatisch ist dieser Beziehungsabbruch, weil wir uns nahe waren wie Eltern und Kinder, wie Mann und Frau, wie beste Freunde. Die Sünde ist keine Macht, von der es mir leicht fiele, mich zu trennen. Sie ist ein Abhängigkeitsverhältnis, von dem ich mich nicht selbst befreien kann. Niemand sagt uns so deutlich wie Paulus: Christus ist die einzig wirksame Gegenmacht gegen die Sünde. Christus ruft nicht in die Nachfolge, so dass wir uns entschliessen könnten, in seine Fussstapfen zu treten. Auch diese Stimme gibt es ja in den Evangelien. Christus ist nicht ein Prophet wie Johannes der Täufer es wohl noch war, der den Menschen zur Umkehr ruft, zu einem neuen Handeln, das endlich den Geboten entspricht. Christus ist vor allem gestorben und hat die Beziehung zwischen mir und der Sünde in sein Grab genommen. Seitdem steht die Sünde verloren da und hat kein Gegenüber mehr, welches sie noch in ihren Bann ziehen könnte. Seitdem stehe ich da in Freiheit, und sie geht mich nichts mehr an. Ich muss nicht in meinem Unter-WasserVersteck bleiben. Ich kann auftauchen, mich outen, ein neues Leben anfangen, wie Menschen, für die eine alte, quälende Beziehung nicht mehr eine alles bestimmende Wirklichkeit, sondern höchstens noch ein sich verflüchtigender Schatten ist. Für mich gilt eine neue, unkündbare Wirklichkeit: Ich bin vom Tod zum Leben auferstanden. Es ist eine geistliche Auferstehung. Als Mensch, der den Tod hinter sich hat und das Leben vor sich, bewege ich mich in einer angstfreien Zone. Der Film "Le tout nouveau testament" läuft derzeit im Kino. Er ist schräg und skurril und nicht wirklich gut. Eine Voraussetzung, die man mitbringen muss, um diesen Film zu geniessen, ist leider, dass man den Glauben an Gott nicht ernst nimmt. Wenn man der Menschwerdung Gottes mehr zuschreibt als bloss noch Unterhaltungswert, wird man sich bald vorkommen wie im falschen Film. Aber nun denn, in einem Punkt hat der Film auch mich zum Nachdenken gebracht. Da erhalten auf einmal alle Menschen via sms eine verbindliche Auskunft über ihre noch verbleibende Lebenszeit. Was wäre, wenn alle Menschen plötzlich wüssten, wann sie sterben werden? Im Film reagieren die Menschen auf sehr unterschiedliche Weise. Manche von ihnen fordern den Tod heraus, weil sie wissen, dass der Zeitpunkt zu sterben noch nicht gekommen ist. Andere fühlen sich nun völlig entlastet von jeglicher moralischer Verantwortung. Wieder andere erleben eine Art Umkehr: sie besinnen sich auf das, was ihnen wirklich wichtig ist. Sie erinnern sich an das, was sie vom Leben einmal erhofft und erwartet hatten und verschwenden jetzt keine Zeit mehr. So unterschiedlich ihre Strategien sind, dieses unerwartete und unheimliche Wissen zu bewältigen: sie alle sehen den Tod als etwas, was ihnen bevorsteht, sie sehen den Tod als den unvermeidlichen Fluchtpunkt ihres Lebens. Vor dem Hintergrund der nie in Frage gestellten Ausrichtung unseres Lebens - wir werden geboren, wir leben, wir sterben - ist das, was Paulus schreibt, eine ungeheure, revolutionäre Umkehrung: Wir haben den Tod hinter uns. Wir sind in den Tod Jesu Christi hineingetauft, also haben wir hinter uns, was wir am allermeisten fürchten. Das zu erfassen, liebe Gemeinde, es an uns heranzulassen, dass der Tod hinter uns liegt und nicht vor uns, das könnte für uns in diesem Advent die ultimative Metanoia sein, ein Umdenken sondergleichen. Welche Freiheiten würden uns daraus entstehen - welche Liebe allen Menschen, ja, sogar den Feinden gegenüber? Und was hindert uns noch? Treten wir doch heraus aus dem Schatten, den Tod und Sünde auf unser Leben geworfen haben. Wir stehen ja bereits im Lichtkegel der Gnade. Es ist bereits viel heller, als wir meinen, wenn wir unseren Kopf immer noch unter Wasser halten. Auftauchen, liebe Gemeinde, erhebt eure Häupter, denn so ist Auferstehung! 3
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