Frauengeschichte: Bürgerliches Frauenbild Am Beispiel der Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte oder feministischen Geschichtswissenschaft können Schülerinnen und Schüler (möglicherweise in unterschiedlicher Weise) erfahren, wie historischer Erkenntnisgewinn von der Frage des Paradigmas und diese wiederum von gesellschaftlichen Entwicklungen abhängt (der Aufschwung der Frauengeschichte seit Beginn der Siebzigerjahre). Im Rahmen sozialgeschichtlicher Thematisierung wird hier nach bestimmten Strukturen gefragt und kann ermessen werden, wie weit die Beantwortung solcher Fragestellungen trägt. 5 10 15 20 25 30 35 »Aus dem Manne stürmt die laute Begierde; in dem Weibe siedelt sich die stille Sehnsucht an. Das Weib ist auf einen kleinen Kreis beschränkt, den es aber klarer überschaut; es hat mehr Geduld und Ausdauer in kleinen Arbeiten. Der Mann muß erwerben, das Weib sucht zu erhalten; der Mann mit Gewalt, das Weib mit Güte oder List. Jener gehört dem geräuschvollen öffentlichen Leben, dieses dem stillen häuslichen Cirkel. Der Mann arbeitet im Schweiße seines Angesichts und bedarf erschöpft der tiefen Ruhe; das Weib ist geschäftig immerdar, in nimmer ruhender Betriebsamkeit.« Aus dem Brockhaus von 1815 »Im unverdorbenen Weibe äußert sich kein Geschlechtstrieb, und wohnt kein Geschlechtstrieb, sondern nur Liebe; und diese Liebe ist der Naturtrieb des Weibes, einen Mann zu befriedigen.« Aus einem Buch des deutschen Philosophen J. G. Fichte, 1796 »Die bisherige Familien- und Frauengeschichtsforschung [...] weiß [...] zu berichten, daß erst der Kapitalismus mit seiner entfalteten Arbeitsteilung [. ..] überhaupt die Grundlagen für die Entfaltung der Frau als eigenständiges Wesen hervorgebracht, daß er sie von den Zwängen des Mittelalters befreit habe. Ich denke, daß die Entwicklung genau anders herum verlaufen ist: erst die Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft hat eine bis in die Psyche hineinreichende Unterdrückung der Frau mit sich gebracht [...]. [Die] relative Machtstellung [der Frau in der alten Gesellschaft] hat ihre Wurzel ganz offensichtlich in der Bedeutung der Frau in der Ökonomie des ‘ganzen Hauses’ [...]. In der Arbeitsteilung der ‘alten Gesellschaft’ brachte die Arbeit der Frau aber tatsächlich eine fast gleichberechtigte Stellung ein, denn diese Arbeit war nicht auf das Haus und die Familie beschränkt, sondern trug unmit- 40 45 50 55 60 65 telbar zur Ernährung der gemeinsamen Wirtschaft bei. [...] Die Frauen arbeiten außer Haus, auf den Feldern, sie sammeln Holz oder hüten Vieh. Sie machen sich mit dem vorbereiteten Brotteig auf den Weg zum Bäcker, um ihn im gemeinsamen Ofen backen zu lassen; sie treffen sich bei der Wäsche auf dem Marktplatz, auf der Bleiche und am Brunnen. Gerade der Brunnen ist der ‘eigentliche’ Frauenplatz des Dorfes oder der Stadt. Tatsächlich haben die Frauen an noch weit mehr Plätzen das ‘Sagen’ [...]. Die eigentliche Umbewertung der häuslichen Arbeit, die schließlich dazu tendiert, den Charakter von ‘Arbeit’ überhaupt verschwinden zu lassen, wird durch die Auslagerung der Arbeit des Mannes aus der gemeinsamen Familienwirtschaft in Gang gesetzt. Außerhalb des Hauses wird der Mann zum Gehaltsempfänger, und mit der zunehmenden Entwicklung der Geldverhältnisse wird dieser Erwerb von Geld zur eigentlichen Erwerbsquelle der Familie, der gegenüber die gebrauchswertschaffende Arbeit der Frau allmählich an Bedeutung verliert. Die Familie ist nicht mehr der Ort der gemeinsamen Wirtschaft, sondern der scheinbar von aller Arbeit befreite - Binnenraum, in dem der Mann [...] eine liebende Dienstleistung an sich und den Kindern erwartet [...]. So war am Ausgang der bürgerlichen Gesellschaft als ‘Bestimmung des Weibes’ ein weiblicher Geschlechtscharakter formuliert worden, in dem die Aufgabe der Frau identisch wurde mit ihrer Selbstaufgabe. Zu ‘sich selbst’ zu kommen hieß für sie, auf sich selbst zu verzichten. [...] Wer sich aber gegen [diese Form der Unterdrückung] auflehnen wollte, hatte mit der Schwierigkeit zu kämpfen, gegen den ‘eigentlichen’ weiblichen Kulturcharakter rebellieren zu müssen.« Aus: Duden, Barbara: Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende vom 18. zum 19.Jahrhundert, in: Michel, Karl Markus und Wieser, Harald: Kursbuch 47 (Frauen), Berlin 1977, S.139 Aufgaben Zeichnen Sie die Entwicklung, die die Rolle der Frau bzw. das Frauenbild in der Gesellschaft vom 18. Jahrhundert bis heute genommen hat, nach, indem Sie: a. die Rolle der Frau in der »alten Gesellschaft« beschreiben, b. die Veränderungen, die zum Verlust dieser Rolle führten, beschreiben, c. die Rolle der Frau in der »bürgerlichen Gesellschaft« beschreiben, d. die beiden Quellen (Brockhaus und Fichte) einer der drei Entwicklungsstufen begründet zuordnen, e. erläutern, warum man erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts die »wahre Natur« der Frau entdeckte und f. darstellen, welche heutigen Benachteiligungen ihre Ursache in der dargelegten Entwicklung haben bzw. ob diese als überwunden gelten können. 41
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