Materialien Juristische Zeitgeschic…

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JURISTISCHE ZEITGESCHICHTE
MATERIALIEN
Die Vorlesung beschäftigt sich mit Kontinuitäten und Zäsuren anhand der
Systembrüche 1919, 1933, 1945 und 1990: Wie erfolgte die „Nazifizierung“ deutscher Juristen nach 1933 und wie ihre Entnazifizierung nach 1945? Welche
Spuren hat der NS-Muttermythos im Recht der BRD trotz postulierter Gleichberechtigung der Geschlechter hinterlassen? Wie gingen deutsche Strafgerichte einerseits mit dem Justizunrecht des „Dritten Reichs“ und andererseits
mit dem der DDR um? Daneben geht es um die erste Jahrhunderthälfte des
20. Jh. prägende Entwicklungen im Strafrecht und im bürgerlichen Recht und
um eine Skizze der (das Recht der Bundesrepublik entscheidend stabilisierenden) Grundzüge der Verfassungsbeschwerde.
Durch die Lektüre von normativen und empirischen Schlüsseltexten (oder
Auszügen daraus) und durch die Diskussion darüber soll vor allem deutlich
werden, was eine „juristische Zeitgeschichte“ überhaupt ist, sein kann und/
oder sein sollte und was sie leisten kann.
Die Materialien zu dieser Veranstaltung finden sich im folgenden Skript und soweit sie umfangreicher sind - als pdf-Dokumente auf der website www.schmidt-recla.de/Lehrveranstaltungen. Sie stehen dort vor der jeweiligen
Stunde zur Lektüre bereit.
Folgende Themen werden behandelt:
1. Rudolf v. Jhering, das BGB und die culpa in contrahendo
2. Hermann Staub und die „größte vorstellbare Lücke“ des jungen BGB
3. Rechtsfolgen der Inflation: Die Aufwertungsrechtsprechung des RG
4: Das Arbeitsrecht der Weimarer Republik in Aufschwung und Krise: Der
„Ruhreisenstreit“ von 1928/1929
5. „Eisernes Strafrecht“. Schuld und Schuldfähigkeit im NS-Rechtsdenken
6. Krankenmorde und Euthanasieprozesse
7. „Arisches“ Familienrecht: arisch-jüdische „Mischehen“ vor dem RG
8. „Entnazifizierung“. Verfahren und Probleme
9. Gerechtigkeit durch Verfahren. Grundlegendes zur Verfassungsbeschwerde
10. Der Herrenreiter und die absoluten Rechte
11. Rückgabe vor Entschädigung, Investitionsvorrang, Enteignung
12. Die „Mauerschützenprozesse“ des BGH
13. c. n.
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JURISTISCHE ZEITGESCHICHTE
THEMA 10: DIE BABELSBERGER KONFERENZ. GRUNDLAGEN DES „SOZIALISTISCHEN RECHTS“
Andrej Wyschinski (1883-1954; 1953): „Das Recht ist die Gesamtheit der Verhaltensregeln, die den Willen der herrschenden Klasse ausdrücken und auf gesetzgeberischem Wege festgelegt sind, sowie der Gebräuche und Regeln des
Gemeinschaftslebens, die von der Staatsgewalt sanktioniert sind. Die Anwendung dieser Regeln wird durch die Zwangsgewalt des Staates gewährleistet
zwecks Sicherung, Festigung und Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Zustände, die der herrschenden Klasse genehm und vorteilhaft
sind.“
„Wenn mich jemand fragt, woher ich meine juristischen Kenntnisse habe, so
werde ich ganz offen sagen: vor allem durch das Studium der Theorie des
Marxismus-Leninismus.“
Karl Polak (1905-1963;1963):„Das Individuum wird eins mit der gesellschaftlichen Entwicklung, und seine persönlichen Energien entfalten sich in der
Richtung der Entwicklung der Gesellschaft. Für die sozialistische Gesellschaft
gilt es also nicht, den einzelnen vom Staate abzugrenzen. Die Grundlage des
Staatsrechts kann nicht die Konstituierung in Individualrechten gegenüber
dem Staat sein. In der sozialistischen Gesellschaft, in der Staat und Volk, Gesellschaft und Individuum eins geworden sind, kommt für das Staatsrecht
alles darauf an, diese Einheit zu entwickeln, die Tätigkeit des Staates zu einer
solchen Entfaltung zu bringen, wie sie den Entwicklungsgesetzen des Volkes
selbst sowie des Individuums entspricht. Die Wissenschaft muss als ihre
Grundlage die Entwicklung der Gesellschaft durch die proletarische Staatsmacht herausarbeiten. Bei der Herausarbeitung dieser Grundsätze tappt der
Forscher nicht im Dunkeln, diese Grundsätze sind bekannt. Auf ihnen baut
unsere staatliche Praxis auf. Durch die Orientierung auf unsere revolutionäre
sozialistische Praxis bekommt auch unsere Wissenschaft den festen Boden des
Marxismus-Leninismus, der materialistischen Dialektik unter die Füße.“
Arthur Baumgarten (1884-1966;1972): „Recht ist geleitet von den Interessen der
Arbeiterklasse und ihrer Partei. Es dient dem Aufbau einer neuen, gerechteren
Gesellschaftsordnung. Eine Pervertierung des Rechts ist wegen der Verlässlichkeit der Weltanschauung und der Redlichkeit der Partei ausgeschlossen. ...
Nie läßt der Marxismus-Leninismus im Stich, er zeigt sich allen Schwierigkeiten gewachsen, die in irgendeiner gesellschaftlichen Lage der Fortbildung des
sozialistischen Rechts entgegenstellen können. Der Rechtspositivismus
schwebt zwischen Himmel und Erde. Ihm fehlt der Höhenflug, der dem Naturrecht mit dem Marxismus gemeinsam ist, und ihm fehlt, wie dem Naturrecht,
die wissenschaftliche Erkenntnis, die dem Marxismus eigen ist. Er ist, während
das Naturrecht das Erzeugnis einer aufsteigenden Klasse war, das typische
Erzeugnis einer Klasse, die sich dem Untergang entgegenbewegt.“
Walter Ulbricht (1893-1973), Referat auf der Babelsberger Konferenz 1958:„Es
gibt nicht erst seit kurzer Zeit, sondern schon seit einigen Jahren Bestrebungen, die Lehre von unserem volksdemokratischen Staat mit dem alten bürgerlichen Recht zu füllen. Viele Juristen fuhren fort, die Form der Tätigkeit unseres
Staates und auch unseres Rechtes mit der bürgerlichen Methode erfassen zu
wollen. Es ist klar, daß damit unsere Staatsmacht in ihrer revolutionären vorwärtstreibenden Kraft gehemmt wurde. Das mußte sich auf die gesamte
Entwicklung auswirken. Ich halte es für unrichtig, von einem spezifischen
Verwaltungsrecht der DDR zu sprechen. Aus dem Beschluß der Volkskammer
über die Rechte der Volksvertretungen ergibt sich, daß es nur ein Recht gibt,
das von den gewählten Volksvertretungen beschlossen wird […] Der Begriff
des speziellen Verwaltungsrechts verleitet direkt zu einem formaljuristischen
Verhalten der Mitarbeiter des Staatsapparates gegenüber den Beschlüssen
der gewählten Volksvertretungen. Es ist doch bekannt, daß der spezifische
Zweig des Verwaltungsrechts mit der Vervollkommnung der bürokratischen
Staatsmaschine der Bourgeoise aufkam, daß er auf das engste verbunden ist
mit den bürgerlichen Tendenzen, die staatliche Tätigkeit als politisch neutral
darzustellen, mit der Trennung der Beschlußfassung und Durchführung. Unser
ganzes Streben ist es hingegen, die Einheit von Beschlußfassung und Durchführung herzustellen, die Verwaltungstätigkeit als unmittelbare staatliche
Tätigkeit zu verstehen und zu entwickeln. Darum sind eben Staatsrecht und
Verwaltungsrecht miteinander auf das engste verbunden und können für das
eine und das andere keine verschiedenartigen Prinzipien gelten. Die erfolgreiche Durchführung der Verbesserung des Arbeitsstils erfordert die richtige
Einsicht in das politische Wesen unserer Staatsmacht und ihrer Aufgaben. So
ist die Trennung von Staatsrecht und Verwaltungsrecht ein bürgerliches Prinzip, das wir rasch aufgeben sollten.“
„In Wahrheit schaffen die Beschlüsse der Partei die Grundlage für die Staatsund Rechtswissenschaft. Sie ergeben eine lückenlose Kette unserer ganzen
gesellschaftlichen Entwicklung, die das Fundament ist, auf dem allein die
Entwicklung unserer Staatsmacht und damit unseres Staats und Rechts erarbeitet werden kann.“
Bericht des ZK der SED an den V. Parteitag der SED (1958):„Die Konferenz
deckte das Zurückbleiben der Staats- und Rechtswissenschaft auf. Sie stellte
fest, daß in der Staats- und Rechtswissenschaft ein Einbruch der bürgerlichen
Ideologie erfolgt war. In einigen Fällen übernahmen unsere Rechtswissenschaftler „Ideengut“ der bankrotten bürgerlichen Rechtswissenschaft. … Eine
Anzahl Juristen erfaßte die die Formen der Tätigkeit des Staates und unseres
Rechts mit der bürgerlichen Methode, d. h. sie sind noch im alten Rechtsdenken verstrickt. In der Staats- und Rechtswissenschaft - so stellte die Babelsberger Konferenz fest - besteht ein besonders enger Zusammenhang zwischen Erscheinungen des Revisionismus und des Dogmatismus und dem
bürgerlichen Rechts-Formalismus. Staats- und Rechtswissenschaftler … gingen nicht genügend von der Frage der politischen Macht aus und machten
sie zur Grundlage ihrer Arbeit.“
(gemeint waren Karl Bönninger, Bernhard Graefrath, Uwe-Jens Heuer, Hermann Klenner, Heinz Such, Wolfgang Weiß)
Die BK stellte folgende Ergebnisse als verbindlich für die wissenschaftliche
und praktische Arbeit fest:
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Die Gesetzmäßigkeit des Rechts und die Gesetzlichkeit sind nichts
anderes als die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung der sozialistischen
Gesellschaft selbst.
Recht hat keine spezifische Eigenheit, es ist Werkzeug der Macht (der
Arbeiterklasse).
rechtliche Formen, rechtliche Verfahren, Normativität überhaupt sind
irrelevant.
Erich Mielke (1907-2000;1965):„Die Ausbildung an der Hochschule [Juristische
Hochschule – des MfS – Potsdam-Eiche] muß vor allem darauf gerichtet sein,
daß sich die hier studierenden Genossen umfassende und gründliche Kenntnisse des Marxismus-Leninismus aneignen, daß sie in die Lage versetzt werden, die Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung und die Probleme ihrer Durchsetzung richtig zu verstehen. … Es gibt keine juristischen
Probleme, keine Rechtsfragen und auch keine Aufgaben zur Sicherung der
DDR, die isoliert und unabhängig von der Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung behandelt werden können.“
Hilde Benjamin (1902-1989), 1958:„Sozialistische Gesetzlichkeit bedeutet zwar
strikte Einhaltung der Gesetze, aber nicht formal, allein am Buchstaben klebende, sondern parteiliche Anwendung. Das Gesetz parteilich anzuwenden
heißt, es so anzuwenden, wie es der Auffassung der Mehrheit der Werktätigen
und damit den Zielen der Politik der Partei der Arbeiterklasse und der Regierung entspricht.“
Kurt Wünsche (1929), 1970:„Wir haben nie ein Hehl daraus gemacht, daß die
Unabhängigkeit der Rechtsprechung im Sinne der bürgerlichen Theorie der
Gewaltenteilung dem Sozialismus und dem in ihm erstmalig verwirklichten
Prinzip der umfassenden Volkssouveränität wesensfremd ist, und daß die
sozialistische Rechtsprechung Ausdrucksmittel und Bestandteil der einheitlichen sozialistischen Staatsmacht ist. Wir haben aber stets ebenso klar betont
und in unserer Verfassung (Art. 96 I) festgelegt, daß die Richter, Schöffen und
Mitglieder der gesellschaftlichen Gerichte in ihrer Rechtsprechung unabhängig sind und insoweit auch nur von den übergeordneten Gerichten angeleitet
werden können.“
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