Der gute Umgang mit Schmerzen: Reine Kopfsache

Reine Kopfsache ?
Der gute Umgang mit dem Schmerz: Aufmerksamkeitstraining zur Schmerzlösung
Körperliche und seelische Schmerzen sind für viele Menschen eine häufige, manchmal tägliche Erfahrung. Normalerweise versuchen wir, Schmerzen und unangenehme Gefühle zu vermeiden oder zu unterdrücken. Schmerzmittel zählen zu den
Pharmaartikeln mit den höchsten Nachfragewerten in der Apotheke trotz vielfach
ungeklärter Nebenwirkungen und der Gefahr der Medikamentenabhängigkeit. Analgetika haben ihre lebenswichtige Berechtigung, jedoch rücken zunehmend ganzheitliche Aspekte, die die Interaktion von Körper, Seele und Geist gleichwertig einbeziehen, in den Mittelpunkt der Schmerztherapie.
Im Folgenden soll der Begriff Schmerz nicht nur im engeren medizinischen Sinne
verstanden werden, sondern auch für alle unerwünschten bzw. unangenehmen körperlichen oder seelisch-geistigen Körperwahrnehmungen stehen, z.B. für chronische
Anspannung, Druckgefühle, Schwäche, Zittern, Schwere, Traurigkeit, Nervosität
etc…Der Unterschied zwischen seelischen und körperlichen Schmerzen ist ein künstlicher geschaffener da sich ausnahmslos alle Schmerzen körperlich manifestieren
und, kulturell bedingt, der seelische Schmerz häufig nur körperlich ausgedrückt
werden darf.
Schmerzhafte Erfahrungen machen
Schmerz ist eine subjektive Erfahrung und daher objektiv schwer zu messen. Die
persönliche Schmerzschwelle ist nicht nur abhängig von äußeren situativen Gegebenheiten oder einer anlagebedingten Schmerzhaftigkeit. Sie ist auch abhängig von
der Erwartungshaltung bzw. der individuellen Wahrnehmung von Schmerz. Die
angstvolle Erwartung: „Das wird bestimmt sehr weh tun!“ vergrößert das subjektive
Schmerzempfinden deutlich. Andererseits kann z.B. ein Fußballspieler nach einer
Verletzung während hektischer Aktivitäten im Spiel kaum Schmerzen verspüren, in
einer anderen Situation würde die gleiche Verletzung sicherlich als deutlich
schmerzhafter empfunden werden. Diese Beispiele zeigen, dass die Entscheidung,
was und in welchem Ausmaß etwas als Schmerz empfunden wird, im Gehirn getroffen wird. Bewusstsein und Aufmerksamkeitsverhalten, die sich auf den Schmerz
richten, bestimmen seine Intensität und nicht immer die Schwere der Verletzung.
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Die Art und Weise, wie wir dem Schmerz Aufmerksamkeit schenken, spielt besonders eine entscheidende Rolle bei der langfristigen Schmerzverarbeitung. Ein chronisch anhaltender oder wiederkehrender Schmerz gilt als gelerntes Verhalten, ähnlich wie ein in Körper und Geist abgespeichertes "Programm". Es scheint so zu sein,
dass die Art der Wahrnehmung unserer Welt den Schmerz im Körper festhalten
kann. Andererseits ist aber auch durch ein verändertes, lernbares Wahrnehmungsverhalten eine Auflösung von überflüssigem Schmerzgeschehen möglich.
Der Umgang mit Schmerzen durch eine veränderte Wahrnehmung des Schmerzgeschehens ist somit ein Schlüssel in einem erfolgreichen Umgang mit Schmerzen.
Noch wissen wir relativ wenig über die Schmerzverarbeitung an Ort und Stelle im
Gehirn, auch wenn das Reizleitungssystem, das Schmerzsignale ins Gehirn übermittelt, mittlerweile gut erforscht ist. Sicher ist, dass persönliche Erinnerungen eine
wichtige Rolle spielen. Sensorische Erfahrungen werden durch sie im Gehirn moduliert. Dabei scheint das Gehirn aktuell gemachte Schmerzerfahrungen mit früheren
Erlebnissen zu vergleichen und so zu bestimmen, wie der neue Schmerz interpretiert
und kontrolliert wird. Man schätzt, dass bis zu 80 Prozent unsere Wahrnehmung,
und damit auch unsere Schmerzwahrnehmung, auf emotional geladenen Erinnerungen beruht, wir erleben also gar nicht vollständig das, was in der Gegenwart ist oder
uns tatsächlich geschieht, sondern reagieren mit „voraussagenden Hypothesen“ (Les
Fehmi) des Gehirns.
Zwei, die zusammengehören: Schmerzen und Gefühle
Schmerzen sind eine sehr emotionale Angelegenheit. Gefühle wie Angst begleiten
häufig das Schmerzgeschehen und andere unterdrückte Gefühle liegen häufig einem
Schmerzgeschehen zugrunde. Tritt ein Schmerzgeschehen ein, veranlassen unbewusste Reaktionen, dass wir uns instinktiv eng auf den Schmerz fokussieren, Muskelanspannung aufbauen, und unser Stresspegel ansteigt. Diese unbewussten Reaktionen haben zunächst primär ihren biologischen Sinn. Schmerz und Angst sollen
uns warnen und in Gefahrensituationen eine schnelle Abwehr- und Fluchtreaktion
auslösen Ist dies kurzfristig gut zu verkraften, ergeben sich längerfristig Probleme.
Schmerzen, die nach einer medizinischen Diagnose und Versorgung länger weiter
anhalten, können eine erhebliche chronische Belastung für Körper, Geist und Seele
darstellen. Der Schmerz hat dann seine Warnfunktion verloren und die Angst rückt
mehr in den Mittelpunkt. Diese löst wiederum neue Schmerzen aus, so dass ein
Kreislauf beginnt.
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Alle den Schmerz begleitenden oder auslösenden Gefühle können sich durch eine
veränderte Wahrnehmung wandeln und dann viel von ihrem Schrecken und damit
von ihrer Macht verlieren. Dabei ist es im Rahmen der Schmerzlösung zunächst unwichtig, um welche Arten von Gefühlen es sich handelt oder welche Geschichte sich
hinter ihnen verbirgt. Immer dann, wenn sie unterdrückt bleiben, tragen sie zu einer
Intensivierung des Schmerzgeschehens bei, indem sie das Gehirn instabiler und anfälliger werden lassen.
Die schmerzhaften Folgen: das Schmerzgedächtnis
Die Art und Weise der menschlichen Schmerzverarbeitung ist ein zunehmend intensiver erforschtes Gebiet. Mit dem Begriff „Schmerzgedächtnis“ drückt sich ein übersteigertes Schmerzempfinden aus, das dem ursprünglichen Anlass nicht mehr entspricht, sondern zu einer neuronalen Überreizung bzw. zu einem elektrisch instabilen oder überaktiven Gehirn geführt hat. Einen Wirkstoff zur Löschung dieser Überempfindlichkeit der Zellen nach Ausheilung der Schmerzursache gibt es bis heute
noch nicht. Wiederholt auftretende oder ständige Schmerzreize verändern zudem
nachhaltig das Nervensystem und das Gehirn. Bleibt der Schmerz als ständiger Begleiter, stellt sich zwangsläufig die Frage, warum wir positive Lebenserfahrungen
wie Freude mühelos vorbeigehen lassen gehen können und sich negative Empfinden
und Schmerzen in unser Bewusstsein länger und auch häufig subjektiv stärker einbrennen.
Über das eigentliche Schmerzempfinden hinaus verdient ein zweiter Aspekt größere
Beachtung, der zu einer sekundären Beeinträchtigung führt, die oft nicht weniger
tiefgreifend ist: Schmerzen vermitteln oft das Gefühl, nicht gut oder nicht richtig zu
funktionieren und bringen Unsicherheit und Selbstvorwürfe, manchmal auch
Schuldzuweisungen, Scham und Selbstbestrafung mit sich. Gerade Gefühle der
Scham können einen Heilungsprozess erheblich erschweren.
Oft berühren Schmerzen auch den grundlegend seelischen Schmerz des Menschen,
allein zu sein und nichts wert zu sein. Hier gilt es, sich dieses bewusst zu machen,
sich selbst vollständig anzunehmen, Mitgefühl für sich selbst zu entwickeln und sich
selbst zu vergeben. Auch dadurch können alle Arten von Schmerzen viel von ihrem
bedrohlichen Charakter verlieren
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Schmerzbehandlung und Selbsttherapie
Sich selbst von Schmerzen abzulenken durch Fokussieren der Aufmerksamkeit auf
ein bestimmtes Ziel, ist eine häufig gewählte Strategie. Entspannende Ablenkung z.B.
durch das Hören von Musik, kann das Schmerzempfinden deutlich senken. Aber
wird die Ablenkung zu einer zielgerichteten Aufmerksamkeit in Form von chronisch
angestrengter Konzentration, erfordert dieses Vermeidungsverhalten sehr viel Energie und verhindert zudem letztlich die Auflösung des eigentlichen Schmerzgeschehens und der damit einhergehenden Stressfolgen und Ängste. Paradoxerweise geben
wir dem Schmerz mehr Macht über uns, wenn wir versuchen, uns von ihm zu distanzieren.
Die schulmedizinische Schmerztherapie favorisiert eine Kombination von medikamentöser Versorgung und Verhaltenstherapie und ergänzendem Entspannungsoder Bewegungstraining als Maßnahmen gegen chronische Schmerzen. Auch gelten
Hypnose-Verfahren als wirksame therapeutische Mittel. Nachhaltige Hilfe können
allerdings nur Behandlungskonzepte bieten, die die Trennung zwischen Körper und
Geist aufgeben. Die Wiederherstellung dieser Verbindung kann der Beginn einer
umfassenderen Heilung auf allen Ebenen sein.
Hier findet sich auch die große Chance für eine selbstverantwortliche Eigenbehandlung von Schmerzen durch geeignete Übungstechniken. Viele Methoden zur
Schmerzbewältigung gibt es seit Jahrhunderten, auch wenn es manchmal scheint, sie
seien erst heute entwickelt worden. Es gibt daher heute viele erprobte Wege sich
wieder ganz, heil oder gesund zu fühlen, egal welche psychischen oder körperlichen
Ursachen für Schmerzen vorliegen mögen. Die eigenen Ressourcen zu ergründen
und zu stärken ist dabei eine Möglichkeit. Im Buddhismus heißt es zum Beispiel: Der
Geist ist immer vollständig heil und gesund.
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Generell gilt für alle Methoden: Lernen wir den Schmerz und die damit verbunden
Gefühle und Gedanken neu wahrzunehmen, ist das Ergebnis auch immer ein mitfühlender und liebevollerer Umgang mit sich selbst. Zur Befreiung von Schmerzen trägt
zudem die buddhistische Erkenntnis bei, dass Schmerzen zwar individuell erlebt
werden, aber letztlich nichts Persönliches sind. Leben in der menschlichen Form bedeutet auch immer Leiden, von dem allerdings auch eine Befreiung möglich ist.
Buddha wies dabei Wege, sich ebenso von Schmerzen wie auch von anderen Belastungen zu befreien. Die Transformation von Schmerzen beginnt mit der Akzeptanz
und Annahme in Stille. Lassen wir den Körper zum offenen Raum werden, können
sich Gefühle klären, der Körper kann sich regenerieren und der Geist findet zur ursprünglichen Klarheit zurück.
Auf eine einfache Art und Weise formuliert kann dies heißen: „Lassen Sie Ihre Gedanken und Sorgen los, und seien Sie eins mit dem Wesen des Himmels…. Der grenzenlose
Himmel hat überreichlich Platz für unser Leid. Üben Sie sich darin, ihren Schmerz, ihre Belastung und Ihr Festhalten allesamt in den Raum loszulassen. Stellen Sie sich vor, dass alle
Sorgen und negativen Gedanken dorthin verschwinden, Wie Nebel oder Wolken, die sich
spurlos auflösen.“ Aus: Tulku Thondup. Die heilende Kraft des Geistes (Knaur, 1997).
Der Ansatz, die räumliche Auflösung von Schmerzen in den Mittelpunkt zu stellen,
ist zeitlos aktuell und kann mittlerweile als Aufmerksamkeitstraining auch im Westen als effektive Schmerztherapie zur Eigenbehandlung nachvollzogen worden. Dieser wissenschaftlich evaluierte und einfache Weg zum Abbau von Ängsten, Stress
und Schmerzen stellt die Wahrnehmung von Raum als objektlose Vorstellung in den
Mittelpunkt. Die Ausweitung der Raumwahrnehmung in die Grenzenlosigkeit, die
Einbeziehung von Stille und Zeitlosigkeit entspannt das zentrale Nervensystem und
erzeugt phasensynchrone Alphawellen im Gehirn. Wenn man behutsam die Aufmerksamkeit auf die Leere lenkt und sich vorstellt sie zu spüren, reagiert das Gehirn
sofort und alle seine Teile schwingen in einem synchronen Alpharhythmus. Da es
nichts gibt was zu erfassen oder zu deuten wäre, darf das Gehirn eine Pause machen,
alle Körperfunktionen normalisieren sich. Auf dieser Basis lassen sich Schmerzen
und unerwünschte Erfahrungen auflösen. In diesem panoramahaft breiteren Bewusstseinszustand ist es viel eher als im Alltagsbewusstsein möglich, den Schmerz
zu akzeptieren, sich ihm zu öffnen, sich auf ihn zu zu bewegen und ihn auf diese
Weise abzubauen.
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Während des Übens wird der Schmerz zunächst geringer und er wird zu einem immer kleineren Teil unserer nun erweiterten Wahrnehmung. Er wird dadurch weniger
bedrohlich, so dass wir bereitwillig mit ihm verschmelzen und ihn sogar vollständig
auflösen können. Dies gilt für alle körperlichen Schmerzen, aber auch für schmerzliche Gefühle im Körper, die wieder an die Oberfläche kommen dürfen und sanft losgelassen werden können.
Die folgenden Sätze vermitteln einen Eindruck der Grundlagen, in dem die Raumvorstellung eingeübt wird. Wir lernen unseren engen zielgerichteten Fokus in ein
diffuses Wahrnehmen hinein zu erweitern, unsere Umgebung und uns selbst als leeren Raum zu erspüren und gleichzeitig ein Gefühl für Stille und Zeitlosigkeit zu
entwickeln. Erst in diesem Zustand ist durch bewusstes, sanftes Versschmelzen mit
dem Schmerz seine Auflösung möglich.
„Können Sie sich den dreidimensionalen Raum zwischen Ihren Augen und diesen
gedruckten Zeilen wahrnehmen? Können sie allmählich den Raum um das Heft herum, links und rechts, oben und unten spüren, ohne dabei den Blick vom Papier zu
nehmen. Können Sie den Hintergrund gleichzeitig mit dem Vordergrund wahrnehmen, beide als gleichermaßen wichtig und interessant? Können Sie den Raum fühlen,
den Ihr ganzer Körper einnimmt und dann den Raum um Ihren Körper herum,
gleichzeitig unten, oben, vorne, hinten, links und rechts …? Können Sie sich vorstellen, dass Sie sich in diesen Raum um Sie herum ausdehnen und in ihn hinein entspannen und dass dieser Raum nicht nur das Zimmer umfasst, in dem Sie sitzen,
sondern sich bis in unendliche Weiten ausdehnt? Können Sie die Leere und die Stille
wahrnehmen? Können Sie selbst zur Zeitlosigkeit werden? „
Hartwig Lahrmann
Weitere Informationen unter: www.TaiMed.de
Literatur: Les Fehmi, Jim Robbins: Open Focus Aufmerksamkeitstraining, Goldmann/Arkana 2008.
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