Sprach- und Sprachnormenwandel

Sprach- und Sprachnormenwandel –
Ergebnisse öffentlicher Sprachberatung
Von Gerhard Müller (Oestrich-Winkel)
1. Vorbemerkungen
In dieser Sektion sind schon etliche Phänomene, die mein Thema betreffen, diskutiert worden, so daß mein Kurzreferat stofflich wenig Neues zu bieten vermag. Ich stelle das Sektionsthema unter einer anderen Perspektive dar und hoffe, daß sich einige interessante ergänzende Aspekte ergeben. Das Ganze ist etwas gewagt, doch das ergiebige Material sollte ausgewertet werden.
Meine Idee war, die Beschreibung des Sprachwandels von der öffentlichen Sprachberatung aus zu versuchen, also die Fragen/Zweifelsfragen zu untersuchen, die von
Sprachteilhaberinnen und -teilhabern an Beratungseinrichtungen gestellt werden. Solche Fragen entspringen in der Regel einem Feld des sprachlichen Wandels; der Sprachgebrauch schwankt, es gibt nicht die gewohnte Normensicherheit, man möchte nachfragen und sich bei einer Sprach-Autorität absichern.
Feste Normen beruhigen, Dynamik verunsichert. So hat Ulrike Lehr ("Sprachberatungsstellen in Deutschland und der Schweiz", in: Muttersprache 3/1998,
S. 207 ff.) zu Recht darauf hingewiesen, daß solche Anfragen "Sprachwandelerscheinungen" erkennen lassen.
2. Einleitung
Ich stütze mich auf Material, das auf Fragen an Sprachberatungsinstitutionen
zurückgeht, Institutionen, die es seit etwa hundert Jahren gibt, insbesondere auf
die Akten der Gesellschaft für deutsche Sprache (Wiesbaden), die seit ihrer
Gründung (1947) einen Sprachberatungsdienst unterhält und deren Zeitschrift
Der Sprachdienst seit Ende der fünfziger Jahre diese "Fragen und Antworten" in
Auswahl abdruckt; in den sechziger Jahren kam die telefonische Beratung hinzu. Die Leipziger Zeitschrift Sprachpflege veröffentlichte ab 1952 einschlägige
Beispiele aus dem Sprachberatungspraxis der dortigen Dudenredaktion.
Ich kontrastiere also die fünfziger Jahre mit der Gegenwart, den späten neunziger Jahren. Meine Hypothese: Es würden sich an den Anfragen mehrere, vielleicht viele und: deutliche Unterschiede zeigen, es würden sich zumindest an
einigen Phänomenen Tendenzen des Sprachwandels aufzeigen lassen.
3. Diskussion der Phänomene
Im Hinblick auf den zur Verfügung stehenden Raum verzichte ich darauf, die
Vielzahl der Anfragen und Antworten im einzelnen zu analysieren, und konzentriere mich auf die Hauptpunkte und die Resultate. Auch die Einzelbelege
müssen unterdrückt werden.
Notabene: Das Korpus deckt nicht alle Bereiche der Gegenwartssprache ab; Lücken (z. B. bestimmte Fragen der Grammatik und des Stils, Regional- und Um-
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gangssprachliches, die sog. Szenesprache) müssen leider in Kauf genommen
werden.
a) Fragen aus den fünfziger Jahren
Das Korpus der Fragen an Sprachberatungsstellen in den fünfziger Jahren des
20. Jahrhunderts läßt folgende sprachwandelbezogene Schwerpunkte erkennen:
1. Rechtschreibung: Gefragt wurde oft nach Groß-/Kleinschreibung und Getrennt- und Zusammenschreibung; weiter sind zu nennen: Schreibung von Abkürzungen groß/klein bei adjektivischen Attributen: freie/Freie Berufe,
t/Technischer Direktor, auch bei geographischen Namen: hamburger/H. Hafen.
2. Kommasetzung: Fraglich z. B. bei und/oder, bei eingeschobenen Gliedsätzen,
bei weder – noch, bei sondern, und zwar.
3. Aussprache: Es ging um -ig oder um Chemie/Chile/China.
4. Deklination von Substantiven: Genitiv-s (z. B. des Europa/-s); das flüchtige -e
(Genitiv/Dativ: des Mikroskop[e]s u. v. a.); weiterhin ging es um den Genitiv mit
-ens bei Personenbezeichnungen (Hans > Hansens etc.).
5. Konjunktivgebrauch: Unsicherheit bestand besonders bei der Umschreibung
mit würde.
6. Tempusgebrauch: Was ist der Unterschied/Wann soll man sagen ... bin gewesen/... war?. Wo liegt die Differenz zwischen Präsens und Präteritum?
7. Syntax: Nachgefragt wurde die Hauptsatzinversion ... und bitten wir Sie; und
der "weiterführende Relativsatz" stand – wie noch heute – in der Kritik, z. B.
... fiel ein kleiner Junge ins Wasser, den mehrere Arbeiter wieder herauszogen.
8. Wortbildung:
8.1. Suffix: Verbableitungen mit -bar: geht öffenbar (zu öffnen)?; unverzichtbar
wurde kritisch ("undeutsch") angegriffen.
8.2. Öfter gefragt wurde (wie heute) nach Fugenzeichen: Asche(n)gehalt, Schiffahrt(s)unfall, Sichtvermerk(s)zwang oder Werk[s]leiter, Werk[s]direktor).
8.3. Verb-Endungen/Suffixerweiterungen: Fraglich waren (wie heute) z. B. linieren/liniieren, prämi(i)eren.
9. Fachsprachliche Bildungen, Terminologiefragen: Nur ein konkretes Beispiel:
Ist elektrisieren oder elektrifizieren zu bevorzugen?
10. Wortgebrauch, hier verstanden im Hinblick auf "guten"/"richtigen" Gebrauch:
10.1. Darf man fünfzigjähriges Geschäftsjubiläum sagen, oder muß es 50. Geschäftsjubiläum heißen? Kennzeichnend war: hochachtungsvoll im Briefschluß; ebenfalls
wurde die Frage gestellt nach der Differenz Unterzeichner/Unterzeichneter, und
man erkundigt sich auch (wie heute) nach der Differenz des Plurals Worte/Wörter und erfragt den korrekten Gebrauch von vergebens/vergeblich oder von
gesinnt/gesonnen.
10.2. Präpositionen: Es ging um Unsicherheiten im Gebrauch: Wie unterscheiden sich z. B. auf/in/nach (ortsbezogen).
11. Lexik:
11.1. Erläuterungs-/Verständnisfragen (Quiz, Roxybar, Treppenwitz). Bei Marzipan wurde die Etymologie erfragt. Oder es ging um Bedeutungswandel, ty-
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pisch: rasant – damals übrigens wurde der heutige Gebrauch als "umgangssprachl.", ja "falsch" bezeichnet. Bei Dispatcher – ein seltenes Beispiel dieser Art – war DDR-Sprachgebrauch im Spiel. Im Fall einander/sich ("sie liebten
e./sich") gab sich der GfdS-Sprachberater bewußt konservativ-normativ.
11.2. Anglizismen traten schon damals als fraglich auf: Maritime Claims – verdeutscht als "Seeansprüche" oder "Schiffahrtsansprüche"?
12. Stil: Siehe oben 10.1: hochachtungsvoll. Leider ist das Korpus hier unergiebig,
so daß keine bestimmte Aussage getroffen werden kann.
Ich gebe nun – wieder in knappster Form – die relevanten Phänomene aus den
letzten Jahren wider, wie sie sich aus den Sprachanfragen erschlüsseln lassen,
und benutze dieselbe Gliederung – kann dieselbe Gliederung benutzen.
b) Fragen aus den späten neunziger Jahren
1. Rechtschreibung: Fragen dieser Art gehören nach wie vor zum Kernbestand
der Anfragen, besonders zur Groß-/Kleinschreibung und Getrennt-/Zusammenschreibung, Schreibung nach Doppelpunkt und Schreibung von Anglizismen. Seit 1996 werden Fragen zur ministeriellen Neuregelung, teils informatorisch, teils kritisch, insbesondere bezüglich der unbefriedigt geregelten Getrennt- und Zusammenschreibung wesentlich häufiger gestellt; Beispiele: sogenannt/so genannt/Abk. sog.; schnell( )wüchsig, wohl( )bekannt, -gefällig, gering( )achten.
2. Fragen zur Kommasetzung sind nach wie vor häufig, insbesondere bei und,
bei Attributen und – immer noch – bei eingeschobenen Gliedsätzen, werden
allerdings zumeist am Telefon gestellt (und im Sprachdienst heute selten publiziert).
3. Aussprache: Allergisch sind Ausspracheunsicherheiten auch heute bei -ig
(König/Königin, richtig) und bei (exotischen) geographischen Namen.
4. Deklination von Substantiven:
4.1. Nach wie vor bei Firmennamen und ähnlichen Bezeichnungen, z. B. An den
Vorstand der Deutsche/Deutschen Zementhandel AG, ein Bericht des "Spiegel"/
"Spiegels".
4.2. Flüchtiges e, vor allem im Genitiv: des Erfolg(e)s, des Vertrag(e)s etc.
4.3. Immer noch gefragt wird nach der Opposition des Plurals von Wort: Worte/
Wörter.
4.4. Nicht mehr gefragt wird nach der Form Türe ("... werden gebeten, diese Türe zu schließen").
4.5. Sehr gegenwartstypisch ist Existenz und Kritik bzw. Rechtfertigung eines
Werbeslogans wie Das König der Biere (s. Sprachdienst 1999, S. 155 f.).
5. Konjunktivgebrauch: Hier bestehen – nach wie vor – vielfach Unsicherheiten,
namentlich beim Gebrauch von Konjunktiv I in der wörtlichen Rede, bei der
Ersetzung des Konjunktivs I durch den Konjunktiv II und bei der würdeUmschreibung. (Vgl. Peter von Polenz, Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Band III: 19. und 20. Jahrhundert; Berlin/New York 1999,
hier S. 347 ff.) Ganz summarisch: Auch aus Sicht der Sprachberatung kann
durchaus vom "Rückgang" des Konjunktivs gesprochen werden.
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6. Tempusgebrauch: Auch hier zeigt sich kein Unterschied zur Situation in den
fünfziger Jahren.
7. Syntax: Der weiterführende Relativsatz wird auch heute gelegentlich als unschön bzw. falsch empfunden. Was aber für die letzten Jahre kennzeichnend ist
– und schon breit diskutiert wurde –, ist die Stellung des Prädikats nach weil
(vgl. v. Polenz, a. a. O., S. 357). Ebenfalls typisch für eine andere Sprachtendenz
ist folgender, den Massenmedien entnommener Satz: "Präsident Clinton drohte
mit Sanktionen, falls Kuba nicht einlenkt." (Ob ein solcher Satz "nicht korrekt"
sei, stehe dahin, s. Der Sprachdienst 1998, S. 16; eher ist hier eine sprachökonomische und gerade für Funk und Fernsehen charakteristische Verknappung zu
sehen; siehe ebenfalls v. Polenz: a. a. O., S. 358 ff., Stichworte "Massenmedien
und Demokratisierung" sowie zunehmende Akzeptanz von Formen des "Substandards".) – Nicht mehr gefragt wird nach der Hauptsatz-Inversion ... und bitten wir Sie ...
8. Wortbildung:
Suffix – Fugenzeichen – Verb-Endungen/Suffixerweiterungen: Zu allen drei
Punkten werden – immer noch – häufig Fragen gestellt, die aus Unsicherheiten
herrühren, etwa zum produktiven Suffix -bar oder zum Fugen-s.
9. Fachsprachl. Bildungen, Terminologiefragen: Weniger der Aspekt der Eindeutschung, sondern die erhöhte Frequenz der Anfragen bestimmt das Bild,
wobei die Skala von der Orthographie über die Semantik bis zur terminologischen Fixierung reicht.
10. Wortgebrauch: Hier einzugruppierende Fragen gehören nach wie vor zum
Standard; aufgrund der Dynamik des Wortschatzes (dies gilt auch schon für
den nächsten Punkt: Lexik) haben sich die Einzelphänomene gewiß beträchtlich
verschoben. Heute wird etwa gefragt nach Befindlichkeit, Soziokultur, vor Ort
oder Zecke (jugendsprachl.); aufschlußreich, weil die Entwicklung verdeutlichend, ist die Frage nach dem Adjektiv geil: Seinerzeit wurde nur die ältere Bedeutung 'üppig wachsend' mit der neueren 'lüstern' kontrastiert, und die heutige landläufige, jugendsprachliche Hauptbedeutung 'toll, klasse' oder: 'cool' war
noch unbekannt. – Unsicherheiten beim Gebrauch der Präpositionen gibt es
ebenfalls nach wie vor.
Kurzresümee: Der Wortschatz als "offenes System", in seiner Beweglichkeit,
Ausweitung, Differenzierung und Stilvariation – dies zumal unter den Bedingungen der Massenmedien –, stellt in den letzten Jahren für die Sprachteilhaberinnen und -teilhaber eine erhöhte Herausforderung dar.
11. Lexik: Hier werden (wie für die fünfziger Jahre) Verständnis- und Erläuterungsfragen zusammengefaßt, teils dialektbezogen (etwa bair. Blutzer/Blutzger
oder grottenschlecht, teils bildungssprachlich (kontingent, Triskaidekaphobie
'Furcht vor der 13', teils der Vergangenheit zugewandt (Josefsehe, Schäferstündchen) oder etymologisch orientiert (Gerücht, Ghetto. – Daß heute zuhauf Anglizismen aufgegriffen werden, wird nicht erstaunen: z. B. Spin-Doctor, WorldBall,
E-Mail (bei beiden letzteren spielt auch die Orthographie eine Rolle), Datenlink/Datalink, Event (hier ist das Genus unsicher), Generation X oder Thread. Anglizismen ziehen seit den letzten Jahren ja in der Öffentlichkeit allgemein vehement Klagen und Kritik auf sich (Stichworte: "Überfremdung", "Verschande-
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lung" der deutschen Sprache) – und werden auch der Sprachberatung vorgelegt.
12. Stil: Ein Beispiel (s. o.): hochachtungsvoll im Briefschluß ist so gut wie verschwunden. – Stilblüten (oft den Medien entnommen) werden auch heute gern
eingesandt, wobei meist Tendenzen der Gegenwartssprache zum Vorschein
kommen, so bei einem Leitartikel der FAZ: "[Probleme] einer herausforderungsadäquaten Steuerreform, ... einer sozialverträglichen Kostendämpfung in
den Einrichtungen der Daseinsvorsorge ..." oder bezüglich eines Schultextes:
"Das Schriftbild ist sicherer geworden, noch nicht exakt".
13. Geschlechtsspezifischer Sprachgebrauch: Innovativ sind die in den letzten
Jahren, genauer: seit Ende der 70er Jahre gestellten Fragen zum geschlechtsspezifischen (geschlechtsneutralen) Sprachgebrauch, also die unter dem Einfluß
"sprachfeministischer Sprachkritik" aufgekommenen (vgl. v. Polenz, a. a. O.,
S. 326 ff.). Hatte man in den 50er Jahren sich nach dem Genus von Fräulein erkundigt, so geht es heute um die Frage, ob diese Vokabel überhaupt noch am
Platze sei. Es geht um das -in-Suffix bei weiblichen Berufsbezeichnungen (schon
beginnend in den späten 50er Jahren), um Mitarbeiter/in, Mitarbeiter/-in, Mitarbeiter(in), um Feminismus, um die Organisationsbezeichnung Fördererkreis/
Förderkreis der GfdS, um die Pronomen frau, man, um Gast/Gästin, Schirmfrauschaft, Nikolaus/Nikoläusin u. a., um Juniorticket, um das Binnen-I etc., also um
das Konglomerat orthographischer, syntaktischer, grammatischer und stilistischer Fragen, die im Zeichen der heutigen sog. "feministischen Linguistik" stehen und die auch Behörden und Ministerien beschäftigen. Der Wandel der
Sprachkonventionen folgt gesellschaftspolitischen Veränderungen.
Eng verwandt und im allgemeinen Sinne grundlegend sind dem öffentlichen
sprachkritischen Bewußtsein entspringende Fragen, auch Benennungen und
Umbenennungen, die seit der 68er Bewegung auffallen ("Hinterfragung herrschender gesellschaftlicher Zustände und Normen", so v. Polenz, a. a. O., S. 322;
vgl. G. Stötzel/M. Wengeler, Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen
Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland; Berlin/New York 1995), z. B.,
um das Thema anzudeuten: Krüppel/Behinderter; darf man (noch) Neger oder
türken, einen Türken bauen sagen?
4. Schlußbemerkung
Die Analyse des beschriebenen Korpus erlaubt m. E. folgende Aussagen:
1. Gezeigt haben sich eher Konstanten als Brüche, eher Nuancen als greifbare
Sprachwandlungen.
2. Die fortwährende Veränderung der Sprache, die von den Sprachteilhabern so
gut wie nicht wahrgenommen wird: sie geschieht in kleinen Dimensionen und
innerhalb eines großen Zeitraums (J. Göschel, Sprachprobleme vor hundert Jahren,
in: Der Sprachdienst 1983, S. 121 f.). Dies hat sich beim Vergleich der öffentlichen
Sprachberatung über fünf – nur fünf – Jahrzehnte hinweg bestätigt.
3. Ebenfalls bestätigt haben sich Thesen Peter v. Polenz' (a. a. O., S. 1, 5 ff.); ich
meine vor allem die Grundthese, "die Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart" sei als ein "sprachgeschichtliche[r] Zusammenhang zu betrachten", und
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hinsichtlich des Zeitraums 19./20. Jahrhundert sei keine "Periodisierung" durch
"Zäsuren" zu setzen, sondern seien "Entwicklungen festzustellen", wobei "langfristige und kontinuierliche" neben "Entwicklungsschüben" bestehen, die auf
bestimmte Jahre oder Jahrzehnte fallen.
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© beim Verfasser.
Zuerst erschienen in Band 2 der Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses (Wien 2000). "Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom
20. ins 21. Jahrhundert". Hrsg. von Peter Wiesinger unter Mitarbeit von
Hans Derkits. Bern etc.: Peter Lang 2002, S. 187–193.