Beilage 2 «Mündliche Texte» im Kindergarten erkennen und für die

«Mündliche Texte» im Kindergarten erkennen
und für die Sprachförderung nutzen
Beilage 2
DIETER ISLER, CLAUDIA HEFTI UND CLAUDIA NEUGEBAUER
Im Kindergarten wimmelt es von Gesprächen zwischen
Lehrpersonen und Kindern. In dieser Praxisbeilage wird
beschrieben, welche Gelegenheiten für «mündliche Texte»
dabei entstehen, wie die Kinder beim Sprechen unterstützt werden können und wie mit dem Ansatz der «situativen Sprachförderung» im QUIMS-Angebot «Sprache
im Kindergarten» gearbeitet wird.
«Mündliche Texte» sind ...
...längere Gesprächsbeiträge einzelner SprecherInnen
...zu «distanten» (nicht in der Situation präsenten)
Themen
... mit «textueller» (mehrere Informationen verknüp fender) Struktur,
... die differenzierte sprachliche Mittel (z.B. bestimmte
Zeitformen oder Konjunktionen) erfordern.
Zum Beispiel wenn Kinder Erlebnisse berichten, erfundene Geschichten erzählen, Sachverhalte erklären oder
mit anderen argumentieren.
1. Gelegenheiten zum Produzieren «mündlicher Texte»
aufgreifen und schaffen
In Alltags- und Unterrichtsgesprächen finden sich viele
Gelegenheiten zur Produktion «mündlicher Texte». Dazu
drei typische Beispiele:
• Spontane Initiativen der Kinder. Auf dem Rückweg in
den Kindergarten fragt Sheila die Lehrerin: «Freust
du dich auf den Europapark?» Die Lehrerin bejaht
Sheilas Frage und begründet ihre Antwort: Bei ihrem
letzten Besuch haben ihr die hübschen Häuser von
«Klein-Venedig» gefallen. Sheila spinnt den Faden
weiter, indem sie von ihrem eigenen Besuch und im
Besonderen vom Hexenhaus berichtet. Pedro bestätigt
und präzisiert ihre Aussagen, und die beiden Kinder
produzieren einen gemeinsamen Erlebnisbericht.
• Spontane Impulse der Lehrpersonen. Die Kinder sollen
ein bekanntes Bilderbuch im Kreis nacherzählen.
Nachdem einige Seiten bearbeitet wurden, setzt die
Lehrerin das Buch ab und sagt: «Aso ich wür mis Büsi
nöd so gern streichle, wänn's sötigi Stachle hett.» Daraufhin produziert Lena mit Hilfe der Lehrerin einen
längeren Bericht über ihre eigenen Kätzchen. Nach der
nächsten Bilderbuch-Episode meldet sich Gina und
produziert nach dem Vorbild der Lehrerin selbst einen
fiktiven Bericht.
• Geplante didaktische Arrangements. In der Freispielphase können einzelne Kinder mit der Lehrperson im
«Gsprächli-Zelt» (auf Voranmeldung) Gespräche führen.
Die Lehrperson setzt sich mit dem Kind – und auf
Wunsch mit 1–2 weiteren Kindern – in ein kleines Tipi.
Alle sitzen auf Kissen im Kreis, es gibt etwas zu trinken
und zu knabbern, und das wortführende Kind berichtet
von einem Erlebnis oder erzählt eine Geschichte.
Bei diesen und ähnlichen Gelegenheiten realisieren die
Kinder mit grosser Motivation und differenzierten
sprachlichen Mitteln anspruchsvolle Sprachhandlungen
– auch wenn sie noch wenig Deutsch sprechen.
2. Kinder beim Produzieren «mündlicher Texte»
interaktiv unterstützen
Neben spontanen und arrangierten Gelegenheiten brauchen Kinder auch massgeschneiderte Unterstützung bei
der Produktion «mündlicher Texte»:
•Rahmung und Steuerung. Beim Produzieren «mündlicher Texte» muss geklärt sein, wer SprecherIn ist und
wer für eine Weile vor allem zuhört. Alle beteiligten
Kinder müssen ihren Platz in der Gruppe haben. Der
Gesprächsfaden muss vor Störungen und Abbrüchen
geschützt und das sprechende Kind in seiner Rolle gestärkt werden.
• Anpassung. Lehrpersonen können auf vielfältige Weise
adaptiv auf das sprechende Kind reagieren: durch Zeitgeben, Signalisieren des (Noch-nicht-)Verstehens, unterstützende Blicke und Gesten, durch Ausdruck von
Engagement (Interesse, Erstaunen usw.), klärendes
Nachfragen und Bündeln des bereits Gesagten.
• Anregung. Lehrpersonen können Kinder durch Impulse
dazu einladen, ihre Aussagen zu präzisieren oder
weitere Aspekte des Themas zu beleuchten. Oder sie
regen die Kinder dazu an, weitere Sprachhandlungen
zu realisieren (z.B. durch Fragen wie «Hast du das auch
schon erlebt?», «Weisst du, warum?» oder «Was meinst
du dazu?»).
•Sprachliche Mittel. Kinder, die Deutsch als Zweitsprache lernen, brauchen Unterstützung beim Formulieren, z. B. durch Auswahlangebote von Wörtern und
Wendungen, stellvertretende Aussagen, die das Kind
annehmen oder verwerfen kann, oder durch nonverbale
Verstehenshilfen (z.B. Symbol- und Zeigegesten).
Rundschreiben Zentrum Lesen – Pädagogische Hochschule der FHNW – Institut Forschung und Entwicklung
28/2015
3. Kollegiales Videocoaching zur Verankerung
der «situativen Sprachförderung»
Unser eigenes Handeln ist uns in Gesprächen mit Kindern
nur zu einem kleinen Teil bewusst: Der weitaus grössere
Teil der Kommunikation ist automatisiert. Deshalb geht
es beim Ansatz der «situativen Sprachförderung» darum,
Interaktionen genauer zu verstehen und bewusster zu
gestalten. Dazu ist eine zweifache Haltungsänderung
notwendig:
1. vom Blick auf das Kind zum Blick auf die Interaktion
(und damit auch auf unser eigenes Handeln in Zusammenarbeit mit dem Kind)
2. vom Blick auf die Oberfläche der sprachlichen Form
zum Blick auf sinnstiftende Sprachhandlungen
Haltungsänderungen sind tiefgreifende Lernprozesse,
die Erfahrungen, Reflexion und Austausch erfordern.
Deshalb sollen beim kollegialen Videocoaching im Schulteam selbst Expertise und eine kontinuierliche kollegiale
Zusammenarbeit aufgebaut werden. Von uns ausgebildete
Lehrpersonen führen zunächst Einzelcoachings durch:
Sie filmen ihre Kolleginnen und Kollegen bei Gesprächen
mit Kindern, werten dieses Filmmaterial mit ihnen aus
und unterstützen sie bei der Formulierung und Überprüfung von persönlichen Zielen. Ausserdem werden
ausgewählte Filmsequenzen im pädagogischen Team diskutiert, um eine gemeinsame, praxisnahe, verbindliche
und kontinuierliche Auseinandersetzung mit Sprachförderung sicherzustellen. Die Erfahrungen zeigen, dass
erst das Filmmaterial aus der eigenen Praxis diesen
forschenden Blick ermöglicht. Auf dieser Grundlage gelingt es Lehrpersonen und Teams, bedarfsgerechte neue
Ansätze der Sprachförderung zu erproben und weiterzuentwickeln.
Informationen zum Projekt:
www.fhnw.ch/ph/zl/quims/kindergarten
Informationen zur Tagung «Erwerb und Förderung bildungssprachlicher Fähigkeiten» vom 19./20. Juni 2015
in Basel: www.fhnw.ch/ph/zl/veranstaltungen
Foto: Projekt ProSpiK
Rundschreiben Zentrum Lesen – Pädagogische Hochschule der FHNW – Institut Forschung und Entwicklung
28/2015