Keine Nationen – mehr Körper! Internationales Jugendtheater-Festival „fairCulture“ in Hannover mit furioser Power und düsteren Zukunftsvisionen Fair Culture hatte sich das gleichnamige Jugendtheater-Festival in Hannover auf die Fahnen geschrieben. Aber wie kann das gehen: ein gleichberechtigter Austausch so unterschiedlicher Kulturen wie Afrika, Vorderasien, Osteuropa, Deutschland? Einen Schlüssel lieferte eine Situation, die nicht auf einer Bühne passierte, die nicht inszeniert war. Beim Gottesdienst für die 160 DarstellerInnen aus sechs Ländern sollte in der ehrwürdigen Marktkirche Lied Nummer 266 aus dem evangelischen Gesangsbuch angestimmt werden. Doch niemand außer der Pastorin kannte die Melodie, vier Strophen lang hörte man nur die Orgel. Etwas später, schon nach dem Schlusssegen, kam ein Mädchen aus Malawi zum Altar und begann einen Gospel, ganz allein, ohne Orgelbegleitung. „He’s got the whole world in his hands.“ Das kannte jede/r, sofort sangen und klatschten alle mit. Wer internationale Begegnung will, braucht einen gemeinsamen Nenner jenseits kultureller Differenzen. Schauspiel Hannover, Bundesarbeitsgemeinschaft Spiel und Theater (BAG) sowie die Stadt Hannover hatten sich als VeranstalterInnen zusammengetan, um das ambitionierte Unterfangen mit einem breiten Netzwerk von Kooperationspartnern im Rücken zu realisieren. Festival plus Symposion zu entwicklungsbezogener Theaterarbeit, beides mit TeilnehmerInnen aus aller Welt, verbunden durch eine Überzeugung: Theater muss soziale Verantwortung übernehmen. Bei den Aufführungen im Ballhof beeindruckte die Vielfalt der Ausdrucksformen und theatralen Mittel. Die Gruppe der Chichiri Secondary School aus Blantyre in Malawi spannte mit „The Lost Key“ einen furios-witzigen, mit Tanzeinlagen gespickten Bogen von der göttlichen Schöpfung der Erde bis zur Vorausschau in eine bessere Zukunft: Bildung für alle als Tor zu einem gerechten Miteinander. Keine andere Gruppe schrie ihre Vision so laut in die Gesichter des Publikums: „No more Malawi, no more Palestine, no more Turkey, no more Ghana, no more Poland, no more Germany – fair culture!“ Eine radikale Absage an nationale Interessen. Positive Power vermittelten auch die Beiträge aus Ghana, Palästina, der Türkei und der Ernst-Reuter-Schule Pattensen, obwohl die Geschichten wenig hoffnungsvolle Schlaglichter auf die Gegenwart warfen. Das Tete Adehyemma Dance Theatre aus Accra zeigte in „By the Road“ in einem Rausch aus Trommelrhythmen und slapstickhaften bis bitter-realen Choreografien einen Jugendlichen, der vergeblich versucht, illegal nach Europa einzureisen. Das Diyar Dance Theatre aus Bethlehem entführte in ein von Schüssen durchpeitschtes Palästina, in ein Wechselbad aus Lebensfreude und Angst („Portraits of Fear“). Die Creative Youngsters aus Ankara begleiteten mit trockenem Humor einen von Katastrophen gespickten Lebensweg von der Wiege zum Tod („From Yesterday to Today. From Today to Tommorrow“). Auch die aktuellen Ereignisse auf dem Taksim-Platz in Istanbul fanden hier ihren Niederschlag – „Taksim ist überall“: Und die SchülerInnen aus Pattensen beamten sich ins Jahr 2113, um von dort aus einen – meist – freundlich-spöttischen Blick zurück zu werfen. Zukunftstöne, allerdings ohne einen Funken Optimismus, schlug auch „Download a Dream“ an, gespielt vom Da-Vinci-Gymnasium in Poznan. Die polnischen Jugendlichen entwarfen unter großen, beklemmend-kalten Kunststoff-Röhren das Bild einer Matrix-artigen Zukunft. Der dritte Science Fiction im Bunde kam vom Schiller-Gymnasium Hannover, das im Gewand traditionellen Sprechtheaters eine drogenkontrollierte Form der Sklaverei als Gesellschaftsmodell in 50 Jahren prognostizierte. Von einem eher klassischen Theaterverständnis zeugten ebenso das Stück „Es gibt auch Kinder anderswo“ des BüchnerGymnasiums Seelze über Kinderarbeit in der Dritten Welt sowie das Erzähltheater „Der Schlüssel“ der BBS 11 in Hannover nach einem Roman des israelischen Schriftstellers Eshkol Nevo. Die IGS Linden aus Hannover wählte in „Letters – Natirosec“ das Mittel einer Lesungsperformance, um den Briefwechsel der SchülerInnen mit einer Partnerschule in Tansania in Szene zu setzen. Und die IGS List, ebenfalls aus Hannover, kam mit einem „Stück, das es noch nicht gibt“: Eine Art inszeniertes Gemeinschaftsreferat über Malawi mit zwei afrikanischen Märchen als Intermezzi war letztlich nur das Vorspiel für das eigentliche Stück, das später entstehen soll. Vorher muss etwas anderes geschehen, die Botschaft leuchtete unmissverständlich von der großen Leinwand: „We want to travel to Africa!“ Man darf auf das Stück gespannt sein, das dann entstehen wird. Drei professionelle Aufführungen rundeten das Bühnenprogramm ab: Das Grips-Theater aus Berlin brachte sein brandneues Stück „Durst“ mit, ein witziges und temporeiches Spiel mit Perspektiven und Pestiziden. Die aktuelle Koproduktion des Staatsballetts Hannover mit der IGS Linden, „Herr der Fliegen“, passte sich thematisch gut ein, ebenso „2+X Welten“ von Cactus, Junges Theater Münster, das Erfahrungen afrikanischer Einwanderer in Deutschland reflektierte. Der Wechsel von Schülertheater und Profiproduktionen erweiterte nochmals den Blickwinkel des Festivals, das zudem ein vielfältiges Begleitprogramm bot mit Aware & FairMarket, Straßentheater, Flashmobs, Konzerten und internationalen Märchenstunden. Wichtigstes Bindeglied aber waren die zahlreichen, Länder- und Schulklassenübergreifenden Schauspiel- und Tanzworkshops vor und zwischen den Aufführungen. Hier traten allzu kulturspezifische Eigenheiten zurück, neue Berührungen und Begegnungen konnten sich ereignen, oft auch jenseits von Sprache. Ein Beispiel dafür war ein Theaterworkshop mit dem Leiter des Jungen Schauspiels Hannover, Florian Fiedler, der mit einfachen Übungen erst die Wahrnehmung und die Schwarmintelligenz der Jugendlichen weckte, bevor er an die szenische Arbeit ging. Oder der Workshopbeitrag der Gruppe aus Ghana mit ihrem Choreografen Frank Sam, der Rhythmus und Körpersprache in den Mittelpunkt stellte. Innerhalb von zehn Minuten war man nass geschwitzt. Es war genau diese Körperlichkeit, die Florian Fiedler in seinem kurzen Fazit am Festivalende in den Mittelpunkt rückte: Beim Einsatz des Körpers bestehe in Deutschland und Westeuropa im Vergleich zu anderen Kulturen ein gewaltiger Nachholbedarf. Mit dem Philosophen und Pädagogen Ken Robinson plädierte Fiedler für täglich mindestens eine Stunde Tanzunterricht an den Schulen. Man möchte hinzufügen: Aber bitte dabei den Humor nicht vergessen! Bis auf die Gruppe aus Pattensen waren alle deutschen Darbietungen von reichlich ernstem Eifer geprägt. Und dann gab Florian Fiedler den TeilnehmerInnen des Festivals noch eine Bitte mit auf den Weg nach Hause: nicht immer nur Bestätigung für die eigenen Denk- und Lebensweisen zu suchen. Fiedler: „Nichts ist so aufregend wie die Veränderung.“ Weitere Aufschlüsse darf man von den Ergebnissen des parallel im nahen Leibnizhaus stattfindenden Symposions „Theatre Network Impact Development“ erwarten. Der besondere Ansatz der Tagung waren die Diskussion der Schnittstellen zwischen künstlerischer und sozialer Arbeit sowie eine enge Verzahnung von Theorie und Praxis: Die WissenschaftlerInnen aus Europa und Afrika konnten ihre Thesen in den Aufführungen unmittelbar überprüfen und sich von dort wiederum mit neuen Impulsen füttern lassen. Welche der Aufführungen der Idee eines gerechten kulturellen Austausch am ehesten entsprochen habe, lautete eine Frage in der Expertenrunde „Spielleitung“. Das könne man so gar nicht sagen, hieß die erste Antwort einer Teilnehmerin. Sondern: „The festival in whole was fair culture.“ Unabdingbare Voraussetzung für die weitere Arbeit sei die freie Mobilität von Künsten und KünstlerInnen, betonte BAG-Ehrenvorsitzender Klaus Hoffmann.
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