Ulf Abraham L/literarisches v/Verstehen als Aufgabe(n) Literaturbezogene Kompetenzen und Aufgabenformate im Literaturunterricht Reutlingen, 6.5.2015 Jürg Schubiger (1936-2014) Der blaue Falke Ein Mädchen ging an einem Garten vorüber, in dem breitbeinig und gebeugt eine Frau stand. Haben Sie meinen blauen Falken gesehen? fragte es. Nein, sagte die Frau. Das Mädchen ging weiter. Es traf einen Mann, der unter einem Auto lag. Nur die Beine schauten hervor. Haben Sie meinen blauen Falken gesehen? fragte das Mädchen. Blauen was? Blauen Falken. Gibt es denn das? fragte der Mann. Das Mädchen ging weiter, immer fragend, doch niemand wußte etwas von seinem Vogel. Es war schon Abend, als sie die Frage noch einmal stellte: Haben sie meinen blauen Falken gesehen? Die Gefragte war eine Ausländerin. Ich bin nicht von hier, antwortete sie in schlechtem Deutsch. Sie zeigte auf eine Bushaltestelle: Schau, dort! Tatsächlich saß dort ein Vogel auf einer Banklehne. Der ist aber nicht blau und sieht nicht aus wie ein Falke, wandte das Mädchen ein. Nun war es der Vogel, der sprach: Aber ich bin's! sagte er. Das Mädchen trat näher. Es entschuldigte sich: ich habe dich nicht gleich erkannt. Du bist eher schwarz und siehst eher aus wie ein Rabe. Schon gut, sagte der blaue Falke. Hauptsache, wir haben uns wieder. Aus Jürg Schubiger: Als die Welt noch jung war. Weinheim: Beltz & Gelberg 1995. Gliederung des Vortrags 1. Das Verstehen verstehen 2. Literaturbezogene Verstehenskonzepte 3. Verstehen und Können: Kompetenz(en) im Literaturunterricht 4. Aufgaben in einem kompetenzorientierten Literaturunterricht 5. Verstehen als Aushandeln von Sinn und Bedeutung 6. Resümee 1. Das Verstehen verstehen „Das Verstehen literarischer Texte eignet sich als Muster des Verstehens überhaupt.“ „Einheitliche Prüfungsanforderungen“ für die Reifeprüfung in der BRD (EPA 2002., 5f.) Wenn poetische Texte mehrdeutig sein können, wie sind dann auf sie bezogene Verstehensleistungen zu bewerten? (vgl. Pieper 2010) 1. Das Verstehen verstehen Manuela Roßbach (Hrsg.): Literatur verstehen – wozu eigentlich? 55 Antworten. Hamburg: Igel 2015. 1. Das Verstehen verstehen „Wir können nicht schon damit zufrieden sein, dass die Lernenden Poesie irgendwie `verstehen´; Sinnzuweisung soll in einem zweiten, reflexiven Schritt auch auf die Bedingungen ihres Zustandekommens hin transparent gemacht werden.“ (Scherner 2005, 57) 2. Literaturbezogene Verstehenskonzepte Konzepte literarischen Verstehens Verstehen als Einfühlung (Das Mädchen ist verzweifelt.) Verstehen als Entziffern (Wofür steht der blaue Falke?) Verstehen als (Re-/De-)Konstruktion („Gibt es denn das?“) Verstehen als Überwindung eines Widerstands („Der ist aber nicht blau und sieht nicht aus wie ein Falke.“) 2. Literaturbezogene Verstehenskonzepte „Hier verstehe ich, ich kann nicht anders!“ Nils Lehnert (Roßbach Hrsg. 2015, 175) Feststellung I Verstehen ist keine Kompetenz. Als eine solche müsste es klar abgrenzbar, in Niveaustufen fassbar und vor allem auf konkrete, idealerweise in Testformaten vorliegende Problemstellungen bezogen sein … Irgend etwas verstehen wir immer! 3. Verstehen und Können Um Verstehensleistungen einschätzen zu können, müssten wir eigentlich trennen: - kognitive oder affektive Verstehensakte von Äußerungen über subjektive Verstehensergebnisse - und damit Verstehens- von Darstellungsleistungen! 3. Verstehen und Können Kompetenzorientierung im Literaturunterricht? Verstehen Können 3. Verstehen und Können Kompetenzorientierung im Literaturunterricht? Verstehen Können Außenseite: kognitiv pragmatisch gedanklich nachvollziehen die Handlung verstehen Innenseite: mentale Prozesse emotional nachvollziehen affektiv die Handlung ausführen instrumentell interaktive Prozesse 3. Verstehen und Können Kompetenzorientierung im Literaturunterricht? Verstehen Verstehen als Entziffern Verstehen als (Re-) Konstruktion Verstehen als Überwindung eines Widerstands Können Außenseite: kognitiv pragmatisch Innenseite: mentale Prozesse Verstehen als Einfühlen Beobachtungen am Text auf Begriffe bringen Deutungshypothesen formulieren können Erschließungstechniken anwenden affektiv instrumentell Gedanken und Gefühle versprachlichen Interaktive Prozesse 3. Verstehen und Können „Literatur ist für alle da.“ Gundi Feyrer (Roßbach Hrsg. 2015, 674) Feststellung II Literaturunterricht muss Lernenden die Möglichkeit lassen, ihren Verstehensprozess (mit-)zugestalten. Dazu gehört zwar, ihnen verschiedene Ebenen nahe zu bringen, auf denen Bedeutung gesucht werden kann. Aber finden werden sie nur, wenn sie selbst gesucht haben. 3. Verstehen und Können Kompetenzmodelle in der Literaturdidaktik können sich beziehen auf Lesen und Verstehen literarischer Werke („Literarästhetische Rezeptionskompetenz“) das Herstellen eigener Texte („literarästhetische Produktionskompetenz“ oder „poetische Kompetenz“) (vgl. z.B. Frederking 2010, Schilcher/Pissarek Hrsg. 2013) (z.B. Abraham/Brendel-Perpina 2015) 4. Aufgaben im Literaturunterricht „Das berechtigte Nicht-Verstehen, also ein Nicht-Verstehen des tatsächlich Unverständlichen, hat kaum Platz in der Literaturwissenschaft der Gegenwart. Was aber sagt das über ein Fach, wenn sein grundlegendes Verfahren nicht scheitern kann?“ Fotis Jannidis (Roßbach Hrsg. 2015, 156) Aufgaben in einem kompetenzorientierten Literaturunterricht Aufgabenstellungen und Erwartungshorizonte werden im Kontext von (zentralen) Prüfungen zu „Steuerungsinstrumenten.“ (Vgl. Zabka/ Stark 2010) 4. Aufgaben im Literaturunterricht Für zentrale Prüfungen listet Köster (2010, 13) fünf Aufgabenarten: einen literarischen Text … • untersuchen, analysieren, interpretieren • als Grundlage einer Problemerörterung verwenden • hinsichtlich einer aus ihm hervorgehenden Problemstellung erörtern • umformen oder weiterschreiben • von einer Textgrundlage ausgehend entwerfen oder gestalten. 4. Aufgaben im Literaturunterricht Aufgabenformate eines kompetenzorientierten Literaturunterrichts Format geforderte Leistung schriftlich Single-/Multiple-Choice entscheiden schriftlich Analyse benennen, erklären, belegen schriftlich Interpretation benennen, erklären, deuten, belegen schriftlich Poetische Gestaltung eigene poetische Textvariante konzipieren und umsetzen schriftbezogen/ mündlich Recherchieren Suchbegriffe finden und Ergebnisse bewerten/auswerten mündlich Gespräch/Diskussion eigenen Standpunkt einbringen; sich mit anderen Deutungen auseinandersetzen mündlich/szenisch Rollenspiel, Standbild Ausdrucksform für einen Aspekt lit. Verstehens finden und umsetzen 4. Aufgaben im Literaturunterricht Aufgabenformate eines kompetenzorientierten Literaturunterrichts Format geforderte Leistung schriftlich Single-/Multiple-Choice entscheiden schriftlich Analyse benennen, erklären, belegen schriftlich Interpretation benennen, erklären, deuten, belegen schriftlich Poetische Gestaltung eigene poetische Textvariante konzipieren und umsetzen schriftbezogen/ mündlich Recherchieren Suchbegriffe finden und Ergebnisse bewerten/auswerten mündlich Gespräch/Diskussion eigenen Standpunkt einbringen; sich mit anderen Deutungen auseinandersetzen mündlich/szenisch Rollenspiel, Standbild Ausdrucksform für einen Aspekt lit. Verstehens finden und umsetzen 4. Aufgaben im Literaturunterricht Poseidon Franz Kafka (1920) […] Man kann nicht sagen, daß ihn die Arbeit freute, er führte sie eigentlich nur aus, weil sie ihm auferlegt war, ja er hatte sich schon oft um fröhlichere Arbeit, wie er sich ausdrückte, beworben, aber immer, wenn man ihm dann verschiedene Vorschläge machte, zeigte es sich, daß ihm doch nichts so zusagte, wie sein bisheriges Amt. Es war auch sehr schwer, etwas anderes für ihn zu finden. Man konnte ihm doch unmöglich etwa ein bestimmtes Meer zuweisen; abgesehen davon, daß auch hier die rechnerische Arbeit nicht kleiner, sondern nur kleinlicher war, konnte der große Poseidon doch immer nur eine beherrschende Stellung bekommen. Und bot man ihm eine Stellung außerhalb des Wassers an, wurde ihm schon von der Vorstellung übel, sein göttlicher Atem geriet in Unordnung, sein eherner Brustkorb schwankte. Übrigens nahm man seine Beschwerden nicht eigentlich ernst; wenn ein Mächtiger quält, muß man ihm auch in der aussichtslosesten Angelegenheit scheinbar nachzugeben versuchen; an eine wirkliche Enthebung Poseidons von seinem Amt dachte niemand, seit Urbeginn war er zum Gott der Meere bestimmt worden und dabei mußte es bleiben. […] Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente II, hg. von Jost Schillemeit. In: Ders.: Schriften. Tagebücher. Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Jürgen Born; Gerhard Neumann et al. Frankfurt am Main: S. Fischer 1982, S. 300 – 302. (355 Wörter) 4. Aufgaben... Ausgewählte Aufgaben zu „Poseidon“ (insgesamt 10; vgl. vgl. Standards Hochschulreife, 2012, S. 169-171) Geforderte Leistung: entscheiden, erklären Geforderte Leistung: Suchbegriffe finden, Ergebnisse auswerten 4. Aufgaben.. Aufgaben zu Schubiger, „Der blaue Falke“ Aufgabe 1: Rundgespräch Im Gesprächskreis wird die Geschichte 2x vorgelesen, das 2. Mal mit ausgeteiltem Text. Begleitaufgabe: Gibt es Textstellen, die du dir gar nicht erklären kannst? Unterstreiche sie nach dem Vorlesen! Geforderte Leistung: Nichtverstehen zum Ausdruck bringen! Aufgabe 2: Schreibaufgabe „Blauen Falken? `Gibt es das denn?´ fragte der Mann.“ Schreibe dem Mann eine Antwort. Du kannst wählen, in welcher Rolle: - aus der Sicht des Mädchens Geforderte Leistung: eigene - aus der Sicht der Ausländerin poetische Textvariante - aus der Sicht des Vogels umsetzen - aus der Sicht der Erzählerin Plenum: Austausch der Ergebnisse und kurzes Gespräch Aufgabe 3: Recherche im Internet (Gruppenarbeit) Sucht nach der symbolischen Bedeutung des Falken in der Kulturgeschichte verschiedener Völker. Fasst die Ergebnisse zusammen und tragt sie im Plenum vor. (Nach Rank 2014) 5. Verstehen als Aushandeln „Indem Literatur uns andere Welten vortäuscht, sprengt sie die Grenzen unseres eigenen Lebens, erweitert unsern Horizont, vervielfacht unsere Erfahrung.“ Katja Reetz (Roßbach Hrsg. 2015, 235) Feststellung III Verstehen ist Aushandeln von Sinn und Bedeutung. Der Erwerb reflektierter Verstehensfähigkeit ist nicht nur eine individuelle, sondern eine gemeinsame und interaktive Aufgabe. Die für literarisches Verstehen erforderlichen Kompetenzen sind damit zu allererst sprachliche und kommunikative Kompetenzen! 5. Verstehen als Aushandeln Einige Verfahren zur Auswahl, Bewertung oder Kritik literarischer Texte Leseclub (Brendel-Perpina/Stumpf 2013) Bewerten von Schulbucheignung (Winter 2013) Lesen und Schreiben von Kritiken (Bräuer 2012) Klassenjury (Abraham 2006, Esser-Palm 2012) 6. Resümee o Der literarische Verstehensprozess hat kognitive und affektive Aspekte. o Literarische Kompetenz (als Können) schließt neben der Anwendung von Verfahren der Analyse und Interpretation auch die Kenntnis und Beherrschung literarischer Techniken ein. o Literatur spielt sich nicht nur zwischen Text und Leser ab, sondern v.a. in der Auseinander-setzung über Gelesenes und (nicht) Verstandenes. o All dem sollte eine Aufgabenkultur für den Literaturunterricht Rechnung tragen! 6. Resümee Zum Schluss … „Man kann doch auch Sachen interessant finden, die man nicht versteht“, sagt Ira, was Finn bemerkenswert findet, denn sie ist mit Drago selten einer Meinung. „Vielleicht könnten wir so eine Art Rätsel für sie sein?“ sagt Mark. „Wie meinst’n das, ein Rätsel?“ will Merle in herausforderndem Ton wissen. „Ich hab ja nur gedacht“, erwidert Mark, und seine Stimme verrät Unsicherheit, „manche Leute lösen doch gern Rätsel und freuen sich, wenn sie es geschafft haben.“ „Brauchbarer Vorschlag“, sagt Finn. Es ärgert ihn, wie sich der große Mark von der kleinen Merle einschüchtern lässt. Das Arbeiterkind von der Schreibertochter. Immer das Gleiche. Ulf Abraham (Roßbach Hrsg. 2015, 16) Literatur Literatur Abraham, Ulf (2006): Fünf Lernende, fünf Texte, fünf Lesende, ein Spiel. Strategien in einer Inszenierung von Literaturunterricht. In: ide 30, H. 1, 64-70. -/ Brendel-Perpina, Ina (2015): Literarisches Schreiben im Deutschunterricht. Seelze: Klett/Kallmeyer, i.Dr. Brendel-Perpina, Ina/ Stumpf, Felix (2013): Leseförderung durch Teilhabe. Die Jugendjury zum Deutschen Jugendliteraturpreis. München: kopaed. Esser-Palm, Regine (2012): Klassenjury. Ein schülerorientiertes Modell zur Wahl der Klassenlektüre. In: Praxis Deutsch 231, 18-23. Fingerhut, Karlheinz (2010): Literarisches Lesen unter Bedingungen zentraler Leistungsfeststellungen. In: Der Deutschunterricht 62, H. 1, 31-39. Frederking, Volker (2010): Modellierung literarischer Rezeptionskompetenz. In: Kämper-van den Boogart/Spinner (Hrsg), DTP 11/1, 324-380. Frickel, Daniela/ Kammler, Clemens/ Rupp, Gerhard (Hrsg.) (2012): Literaturdidaktik im Zeichen von Kompetenzorientierung und Empirie. Freiburg/Br.: Fillibach. Kammler, Clemens (Hrsg.) (2006): Literarische Kompetenzen – Standards im Literaturunterricht. Seelze: Kallmeyer. Kepser, Matthis (2012): Anmerkungen zur Kompetenzorientierung in der Literaturdidaktik. In: Frickel et al. (Hrsg.), 67-84. 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