Wenn die Welt Kopf steht - Deutsche Rheuma-Liga

Kompakt
Wenn die Welt Kopf steht
E
s gibt verrückte Momente, da denke ich:
„Zum Glück habe ich als Kind Rheuma
gekriegt.“ So ein Augenblick ist, wenn mein
Vater auf dem Zehenklavier „Hänschen
klein“ klimpert. Beim Eincremen der Füße
tippt er zärtlich auf jede Zehe, spielt die
Tonleiter hoch und runter und summt zu
imaginären Tönen. Ich wünsche mir den
„Flohwalzer“. Nein, den könne er nicht; er
imitiert einen missglückten Akkord und
34
schickt stattdessen noch mal „Hänschen
klein“ in die Welt hinaus. „Ach, ihr seid ja
albern“, kommentiert meine Ma und zieht
ihre Füße unter die Bettdecke. Das Atmen
fällt ihr schwer, aber das Lächeln leicht.
Früher waren es meine Kinderfüße, die
das Wunderwerk Zehenklavier entstehen
ließen. Heute sind es die meiner todkranken Mutter, auf denen mein Vater Momente der Leichtigkeit zaubert. Vielleicht
würde er nicht so virtuos die Klaviatur der
Pflege beherrschen, wenn unsere Familie
nicht so krankheitserprobt wäre.
Als meine Mutter ihr 40. Lebensjahr erreichte, war ich zehn Jahre jung und bekam
den ersten Schub. Ein Martyrium auch für
meine Mom: Das Kind krank, ratlose Ärzte,
Schuldgefühle und Vorwürfe von der eigenen Mutter. Als Teenager habe ich meine
Ma gefragt, ob Abtreibung eine Option für
mobil 5•2015
Fotos: privat
Als Kind stand Maiken Brathe mit ihrer Erkrankung im Mittelpunkt der
Familie. Als sie mit 40 ihre todkranke Mutter pflegt, kehrt sich das Leben
um: Der unfreiwillige Mittelpunkt einer Familiensorge wechselt die Seiten.
Pflege
sie gewesen wäre, wenn sie vom Rheuma
gewusst hätte. Sie blieb mir die Antwort
schuldig und meinte nur, sie wollte nie,
dass ich leiden müsste, aber mich auch
niemals missen.
Die Krankheit ändert alles
Nun bin ich 40 und meine Mom hat Lungenkrebs. Die Ärzte sind nicht im Ungewissen und ich brauche die Schuld nicht bei
mir suchen. Dennoch fühle ich mich schuldig. Weil ich hilflos zusehen muss, wie sie
immer „weniger“ wird. Weil ich innerlich
wieder Mädchen bin, das unsichtbar in dem
erwachsenen Körper kauert und weint,
weil es seine Ma verlieren wird. Und vor
allem spüre ich, wie herzzerreißend es ist,
einen geliebten Menschen leiden zu sehen.
Ich begreife, dass ich mit Mamas Erkrankung endgültig erwachsen geworden
bin. Es erschüttert meine Welt, dass die
stärkste Person in meinem Leben nun meinen Halt benötigt. Als ich Rheuma bekam,
war meine Mutter mein Mantel der Geborgenheit. Sie vertrieb all die dunklen Gestalten mit Namen Furcht. Für alles hatte sie
eine Zauberformel. Ich habe mich nie wieder in meinem Leben so sicher gefühlt.
Dann wurde ich älter und Mamas Feenstaub wirkte nicht mehr auf meiner rationalen Seele. Wir rieben uns oft aneinander
auf und entfernten uns von einander.
Doch Krankheit ändert alles.
Die folgenden 14 Monate waren eine
Zeit der Umkehrung. Und der Parallelen.
Während mein Dad sich 24 Stunden um
die Pflege meiner Mutter kümmert, mu-
dert das Unmögliche von mir: „Als du
krank wurdest, da haben wir dir schwören
müssen, immer die Wahrheit zu sagen, wie
es um dich steht. Und das taten wir. Jetzt
schwöre, mir nichts zu verheimlichen.“ „Ich
schwöre, Mama.“ So viel Verantwortung
für das innere kleine Mädchen.
Wofür schämst du dich?
Im Wartezimmer sind wir wie damals eine
Einheit mit Angst im Herzen, aber dennoch scherzend. Niemals aufgesetzt oder
gekünstelt fröhlich; vielleicht ein bisschen
selbstironisch mit Rettungsanker-Funktion
und dem dankbaren Bewusstsein, dass wir
einander haben. Und wenn wir schweigen,
dann nicht aus Befangenheit, sondern
weil Mom auf ihrem Handy bunte Blasen
mit virtuellen Kugeln abschießt, um ein
paar Punkte für ein Bonusleben zu verdienen. Schade, in den Achtzigerjahren gab
es noch keine Mobiltelefone. Und heute
kein echtes Extraleben für Mama.
Einmal muss ich in der Praxis meiner
Mutter auf der Toilette helfen. Ihr ist das
furchtbar peinlich und ich lächle: „Wofür
schämst du dich? Du hast das tausendmal
bei mir gemacht!“ Mit einem Schlag bin
ich erwachsen, weil ich begreife, was es
heißt, für jemanden zu sorgen, der krank
ist. Und ich streichle Mamas Wange und
sie schmiegt sich wie eine schnurrende
Katze in meine Hand.
Als es mir schlecht ging, hat meine Mutter mir das Leben ans Krankenlager gebracht. Sie war mein Rettungsring, um nicht
in Einsamkeit zu ertrinken. Nun bringe ich
„Mein Rheuma hat uns gelehrt, dass die
wichtigste Antwort auf Krankheit unser
Zusammenhalt, gnadenloser Optimismus
und eine Dosis schwarzer Humor ist.“
tiere ich zum „klaren Kopf“ der Familie, versuche herauszufinden, was es bedeutet,
Lungenkrebs im Stadium IV zu haben. Ein
Stadium V gibt es nicht. Meine Mom for5•2015 mobil
Mama das Leben ans Bett: durch Hundegeschichten, Facebook-Anekdoten, Grüße von
Freunden. Durch Marschluft, die an mir haftet, wenn ich jeden Tag nach dem Gassige-
hen meine Eltern besuche. Ich verschweige
ihr nur, was ich zuvor in der herbstlichen
Dunkelheit tue: Ich wandere einsam durch
die Landschaft, weine, schreie um Hilfe und
Mamas Namen. Meine Hunde sind verstört,
aber ich kann nicht anders. Danach bin ich
in der Lage, meine Verzweiflung an der Garderobe abzulegen, meine Mom aufzufangen
und erst wieder beim Verlassen der Woh-
nung meine Emotionen überzustülpen und
die Tränen fließen zu lassen.
Meine Mutter hat im Nachhinein meine
Erkrankung als Glücksfall für ihr Leben
bezeichnet. Auch wenn diese Aussage
schmerzt, verstehe ich, was sie meint: Jetzt,
da sie mich und mein „Alles wird gut“ erwartet, begreife ich die Macht des Gefühls,
gebraucht zu werden. Etwas tun zu können, nicht nur Zuschauerin zu sein. Es
macht das Schlimmste nahezu erträglich.
Wir sind alle überfordert
Nach einem Jahr Pflege meiner Ma stürzt
mein Vater und bricht sich die Hüfte. Wir
sind alle verzweifelt, überfordert, ratlos.
Hilflos. Ich ziehe zu meiner Mutter. „Pflegefall pflegt Pflegefall“ ist das
➔
35
Kompakt
makabre Motto. Ohne die Hilfe meines
Liebsten würden wir untergehen.
Meine Mutter, geschwächt durch Bestrahlung, den Kopf voller Metastasen, die
Lunge ein quälendes Organ, ist unglaublich tapfer und gefasst. Ich wache an ihrem Bett, wie sie einst an meinem. Erkläre
ihr, warum Freunde sich nicht mehr blicken
lassen, versuche nette Worte dafür zu fin-
sprichwörtlichen Berge lassen sich wie Kiesel versetzen: Für diesen einen Augenblick,
in dem Mama mich fragt, ob alles gut
wird. Ja. Es wird alles gut. Meine Zauberworte lassen die Welt still stehen, für einen
Moment ohne Krankheit, ohne Angst,
ohne Tränen. Nur für den einen Augenblick, in dem meine Mama sich bei mir geborgen fühlt. Nur sie und ich. Mutter und
Kind. Oder umgekehrt.
Ich mache sie nicht fit fürs Leben
den, wie sie ehemals für meine Spielkameraden. Creme ihre Hacken ein, damit sie
nicht wund werden. Lotion auf ihren Rücken, damit die Haut nicht aufreibt. Es ist
schwer, denn meine Finger sind krumm,
die Handgelenke versteift. Ich muss um ihren Körper wandern, um sie einzucremen.
Und sie sagt: „Du machst das perfekt, Maiken, ich liebe, wie du das machst.“
Trotz all der Tränen lachen wir. Darüber,
wie Mama ihre Perücke nach dem Bestrahlungstermin auf der Stehlampe platziert.
Über die Kotztüten im Rettungswagen, die
aussehen wie Elefantenkondome. Ich
sammle diese kleinen Momente wie Diamanten und weiß, sie werden mir unbezahlbarer Reichtum sein, wenn meine
Mom nicht mehr bei mir sein wird.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten
lernt meine Mutter, meine Fürsorge anzunehmen. Und zuzulassen, dass die Welt
Kopf steht. Ich kann ihr eine Mutter sein.
Meine Wahrheiten neu definieren. Strahle
Gottvertrauen aus, wo ich keines habe. Die
36
Der schmerzhafteste Unterschied: Als krankes Kind hatte ich eine Zukunft. Meine
Mutter nicht. Mein Urvertrauen in das Leben haben meine Eltern in mir gepflanzt.
Ich habe immer geglaubt, gesund zu werden. Meine Ma kämpft gegen den mächtigsten aller Gegner. Wir können uns nur
ein bisschen Zeit abknapsen. Mit einer
chronischen Erkrankung lässt es sich irgendwann leben. Lungenkrebs hat den
Tod immer im Gepäck. Ich mache sie nicht
fit fürs Leben wie sie einst mich. Mit mir
bereitet sie sich auf das Sterben vor.
Meine Mutter stirbt Weihnachten 2011.
Sie ist nicht allein. Ihre Hand in meiner.
Ich wollte, dass Mama stirbt. Sie wollte
das. Ihr Körper konnte nicht mehr. Ich
weiß, es ist richtig so wie es ist. Dennoch
schließe ich oft die Augen und fühle ihrer
Haut nach. Wenn ich sie im Rollstuhl fuhr
und ich mein Gesicht über ihre Schulter
hinweg an ihres lehnte und sie erst überrascht war und dann wonnig die Augen
schloss und ihre Wange an meine
schmiegte, so wie damals an meine Kinderwange, als ich im Rollstuhl saß. Dieses Gefühl will ich nie vergessen.
Ihre Schlacht war schlimmer
Wie konnte ich meine Ma fragen, ob sie
mich abgetrieben hätte? Eine ähnliche
Frage ist es wohl, ob ich das letzte Lebensjahr meiner Mom hätte missen wollen. Nie
wollten wir einander leiden sehen. Ihre
Schlacht war schlimmer als meine, aber sie
hat mir beigebracht, meine zu schlagen
und an ihrer Seite zu kämpfen. Niemals
„Du machst das perfekt,
Maiken, ich liebe, wie
du das machst.“
wäre diese Intensität zwischen uns ohne
dieses Extrem möglich gewesen. Krankheit
beinhaltet auch Chancen, schenkte uns
das Vermögen, Augenblicke intensiv wahrzunehmen, wie ein gesummtes „Hänschen
klein“ von Papas Lippen, gespielt auf dem
Zehenklavier an Mamas Füßen.
Ein Bekannter erzählte, er habe gehurt
und gesoffen und wenn er abtreten muss,
kann er sagen, er habe gelebt. Ich habe
weder gehurt noch gesoffen, aber ich kann
das Gleiche behaupten. Denn diese Intensität der letzten Monate mit meiner Ma war
nicht nur emotionaler Hochleistungssport,
sondern Umarmungen, gemeinsame Tränen,
lachende Oasen, Liebe und Kraft und der Beweis, welche Menschen immer zu dir stehen.
Ich habe auch gelebt, in diesem letzten
Lebensjahr meiner Mom. So intensiv wie
noch nie zuvor. Habe das erste Mal begriffen, was es bedeutet, gebraucht zu werden
und Unmögliches zu leisten – auch als behinderter Mensch. Es war das schlimmste
und schönste Jahr in meinem Leben.
Es gibt kranke Kinder, die stark für ihre
Eltern sind. Ich war es nicht. Ich bin heute
stark durch meine Eltern. Stark für meine
Eltern war ich erst jetzt.
Maiken Brathe hat ein Buch über die
letzten Lebensmonate ihrer Mutter
geschrieben. Es ist eine Art Entwicklungsroman, der tabulos Einblicke gewährt,
wie eine Familie lernt, das Schicksal Krebs
anzunehmen. Die studierte Journalistin
und Germanistin sucht einen Verlag dafür:
[email protected]
Weiterlesen ...
Die ungekürzte Version dieses
Essays findet sich online unter
www.rheuma-liga.de/XXXX.
mobil 5•2015