Leseprobe DuNebenMir

LESEPROBE
nicola yoon
» AM AN FA NG WAR NICHTS .
UND D ANN WA R ALLES . «
S e i te 2 4 7 aus »DU NEBEN MIR U ND
ZWISCH E N U NS DIE GANZE W ELT «
© Dressler Verlag GmbH, Hamburg 2015
Alle Rechte vorbehalten
Originalverlag: Delacorte Press, an imprint of
Random House Children’s Books, New York 2015
Originaltitel: Everything, Everything
Aus dem Amerikanischen von Simone Wiemken
Umschlaggestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg, unter
Verwendung einer Illustration von © Good Wives and Warriors
Artwork im Inhalt von © David Yoon
Printed 2015
ISBN 978-3-7915-2540-2
#dunebenmir
www.dressler-verlag.de
LE B E N UND TOD
OL LY K L E B T NI C H T an der Wand. Er sitzt auch nicht am
Couch­ende, sondern genau in der Mitte, die Ellbogen auf
den Knien, und lässt sein Gummiband schnippen.
Ich zögere an der Tür. Er kann den Blick nicht von meinem Gesicht abwenden. Spürt er dasselbe Verlangen wie ich,
denselben Raum zu beanspruchen, dieselbe Luft zu atmen?
Ich stehe immer noch im Türrahmen und bin verunsichert.
Ich könnte an seinen üblichen Platz an der Wand gehen. Ich
könnte an der Tür stehen bleiben. Ich könnte ihm sagen,
dass wir lieber kein Risiko eingehen sollten, aber ich kann
es nicht. Dazu kommt noch, dass ich es auch gar nicht will.
»Ich glaube, Orange ist deine Farbe«, sagt er schließlich.
Ich trage eines von meinen neuen T-Shirts. Es hat einen
V-Ausschnitt, sitzt ziemlich eng und ist gerade zu meinem
Lieblingsshirt geworden. Ich glaube, ich werde noch zehn
Stück davon kaufen.
»Danke.« Ich lege die Hand auf meinen Bauch. Die
Schmetterlinge sind wieder da und flattern.
»Soll ich auf meine Seite gehen?« Mit Daumen und Zeigefinger zieht er das Gummiband stramm.
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»Ich weiß nicht«, sage ich.
Er nickt und will aufstehen.
»Nein, warte«, sage ich, drücke auch die andere Hand auf
meinen Bauch und gehe zu ihm. Ich setze mich hin, lasse
aber etwa dreißig Zentimeter Abstand zwischen uns.
Er lässt das Gummiband gegen sein Handgelenk schnippen.
Ich presse meine Knie dicht zusammen und ziehe die
Schultern ein. Ich mache mich so klein wie möglich, als wäre
ich gar nicht da und vor allem nicht in seiner Nähe.
Er hebt einen Arm von seinem Knie, streckt die Hand aus
und bewegt seine Finger.
Mein Zögern ist wie weggeblasen und ich lasse meine
Hand in seine gleiten. Unsere Finger finden zueinander, als
hätten wir uns schon unser ganzes Leben lang an den Händen gehalten. Ich weiß nicht, wie sich der Abstand zwischen
uns verringert hat.
Hat er sich bewegt? Oder war ich das?
Jetzt sitzen wir nebeneinander. Unsere Oberschenkel
berühren sich, die Unterarme sind ganz warm und meine
Schulter ist fest an seinen Oberarm gedrückt. Er fährt mit
seinem Daumen über meinen und weiter bis zum Handgelenk. Unter meiner Haut fängt jede einzelne Zelle an zu
glühen. Machen das normale, gesunde Leute immer so? Wie
überleben sie das bloß? Und wie schaffen sie es, sich nicht
pausenlos zu berühren?
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Er zupft leicht an meiner Hand. Ich weiß, dass es eine Frage ist, und ich schaue von unseren Händen hoch zu seinem
Gesicht, seinen Augen und seinen Lippen, die meinen immer näher kommen. Habe ich mich bewegt? Oder war er
das?
Sein Atem ist warm, und dann berühren seine Lippen meine, wie ein Schmetterling so zart. Meine Augen schließen
sich ganz von selbst. Was das betrifft, ist auf Liebesfilme also
Verlass. Man muss die Augen schließen. Er zieht sich zurück und meine Lippen sind plötzlich ganz kalt. Habe ich
etwas falsch gemacht? Ich öffne die Augen und starre direkt
in das dunkle Blau seiner Augen. Er küsst mich, als hätte er
Angst, mich zu küssen, aber auch Angst, damit aufzuhören.
Ich greife nach dem Stoff seines T-Shirts und halte ihn fest.
Meine Schmetterlinge laufen Amok.
Er drückt meine Hand, meine Lippen öffnen sich und wir
schmecken uns. Er schmeckt nach salzigem Karamell und
Sonnenschein. Oder zumindest, wie ich mir salziges Karamell und Sonnenschein vorstelle. Er schmeckt nach Dingen,
die ich noch nie erlebt habe, wie Hoffnung und Möglichkeiten und Zukunft.
Diesmal bin ich es, die sich als Erste zurückzieht, aber nur,
weil ich Luft holen muss. Wenn ich könnte, würde ich ihn
von jetzt bis in alle Ewigkeit jede Sekunde des Tages küssen.
Er legt seine Stirn an meine. Sein Atem wärmt meine Nase
und meine Wangen. Er riecht ein bisschen süßlich. Die Art,
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von der man nie genug bekommen kann.
»Ist das immer so?«, frage ich atemlos.
»Nein«, sagt er. »So ist es nie.« Ich höre das Staunen in
seiner Stimme.
Und mit einem Mal ändert sich alles, einfach so.
EHRLICH
Später, 20 : 03
Olly: kein filmabend mit deiner mom?
Madeline: Ich habe gesagt, ich hätte keine Lust. Carla
wird sauer auf mich sein.
Olly: wieso?
Madeline: Ich habe ihr versprochen, mehr Zeit mit
meiner Mom zu verbringen.
Olly: ich bringe dein leben total durcheinander
Madeline: Nein, das darfst du nicht denken.
Olly: was wir heute gemacht haben war verrückt
Madeline: Ich weiß.
Olly: was haben wir uns eigentlich dabei gedacht?
Madeline: Weiß nicht.
Olly: vielleicht sollten wir uns eine weile nicht sehen
Madeline: …
Olly: tut mir leid. wollte dich nur beschützen
Madeline: Und wenn ich nicht beschützt werden muss?
Olly: wie meinst du das?
Madeline: Weiß nicht.
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Olly: ich will dich nicht in gefahr bringen.
will dich nicht verlieren
Madeline: Du hast mich doch gar nicht!
Madeline: Tut es dir leid?
Olly: was? das küssen?
Olly: ehrlich?
Madeline: Klar.
Olly: nein
Olly: tut es dir leid?
Madeline: Nein.
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DRA U S N
D AS U NI VE R S U M U N D mein Unterbewusstsein
müssen sich gegen mich verschworen haben. Ich spiele
Skräbbl mit meiner Mom. Bis jetzt hatte ich die passenden
Buchstaben für DRAUSN , FRY und VALOGN . Für das
letzte Wort habe ich sogar Extrapunkte kassiert. Meine
Mom runzelt die Stirn, und ich rechne damit, dass sie mein
gelegtes Wort anzweifelt, aber sie sagt nichts dazu. Sie rechnet den Punktestand zusammen und zum ersten Mal in meinem Leben gewinne ich mit sieben Punkten Vorsprung.
Ich betrachte den Punktestand und schaue zu ihr auf.
»Bist du sicher, dass du dich nicht verrechnet hast?«, frage
ich. Ich will sie zusätzlich zu allem anderen nicht auch noch
besiegen.
Sie mustert mich, aber ich starre weiter auf die Karte mit
unseren Punkten. So ist sie schon den ganzen Abend, irgendwie wachsam, als wäre ich ein Puzzle, das sie zusammensetzen muss. Vielleicht bin ich aber auch nur paranoid.
Vielleicht sind es die Schuldgefühle, weil ich so selbstsüchtig
bin und sogar jetzt lieber mit Olly zusammen wäre. In jedem Moment, den ich mit ihm verbringe, lerne ich etwas
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Neues, werde ich jemand Neues. Sie nimmt mir die Karte
aus der Hand und hebt mein Kinn an, sodass ich ihr in die
Augen sehen muss. »Was ist los, mein Schatz?«
Ich will ihr gerade eine Lüge auftischen, als draußen
plötzlich ein schriller Schrei zu hören ist. Sofort darauf erfolgt ein zweiter Schrei, dann unverständliches Gebrüll und
ein lautes Krachen. Wir fahren beide herum und starren zum
Fenster. Ich will aufspringen, aber meine Mutter drückt mir
fest auf die Schulter und schüttelt den Kopf. Ich lasse zu,
dass sie mich auf meinem Platz hält, aber als draußen jemand
»HÖR AUF « schreit, hasten wir beide ans Fenster.
Die drei – Olly, seine Mom und sein Dad – sind auf der
Veranda. Olly hat die Position eines Boxers eingenommen,
die Fäuste geballt, die Füße etwas auseinander und fest auf
dem Boden. Sogar von hier aus kann ich sehen, wie die
Adern an seinen Armen und in seinem Gesicht hervortreten.
Seine Mom macht einen Schritt auf ihn zu, aber er sagt etwas
zu ihr, das sie zurückweichen lässt.
Olly und sein Dad stehen sich gegenüber. Sein Dad hat
einen Drink in der rechten Hand. Er lässt Olly nicht aus
den Augen, als er das Glas ansetzt und es mit wenigen Zügen leert. Er hält Ollys Mom das leere Glas hin, damit sie
es ihm abnimmt. Sie will gehorchen, aber wieder sagt Olly
etwas, das sie zurückhält. Da beginnt sein Dad, sie stattdessen anzustarren, und hält ihr immer noch fordernd das Glas
entgegen. Einen Moment lang bin ich davon überzeugt, dass
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sie nicht zu ihm gehen wird. Aber ihr Widerstand bricht
schnell. Sie macht einen Schritt auf ihn zu. Er will nach ihr
greifen, wütend, bedrohlich. Aber plötzlich ist Olly zwischen den beiden. Er schlägt den Arm seines Vaters zur Seite
und schiebt seine Mutter aus der Gefahrenzone.
Jetzt ist sein Vater noch wütender und will sich auf ihn
stürzen. Olly schubst ihn weg. Er prallt gegen die Hauswand, fällt aber nicht hin.
Olly beginnt, leichtfüßig herumzutänzeln und seine
Arme und Handgelenke zu schütteln wie ein Boxer vor dem
Kampf. Er versucht, die Aufmerksamkeit seines Dads von
seiner Mutter abzulenken. Es funktioniert. Sein Dad stürzt
sich auf ihn. Olly weicht erst nach rechts aus, dann nach
links. Er springt rückwärts die Stufen der Veranda herunter,
als sein Dad wieder zum Schlag ausholt. Er verfehlt Olly
und sein eigener Schwung lässt ihn die Stufen hinunterstürzen. Er landet auf der betonierten Einfahrt und rührt sich
nicht mehr.
Olly erstarrt. Seine Mutter presst beide Hände an den
Mund. Meine Mom legt mir den Arm um die Schultern. Ich
drücke meine Stirn an die Fensterscheibe und meine Finger
umklammern die Kante der Fensterbank. Wir können den
Blick nicht von Ollys Dad abwenden. Die Sekunden werden unglaublich lang, aber jede Sekunde, die er sich nicht
regt, ist eine Erleichterung. Seine Mom ist die Erste, die sich
bewegt. Sie hastet die Stufen hinunter, hockt sich neben ihn
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und streicht ihm prüfend über den Rücken. Olly bedeutet
ihr, dass sie von ihm weggehen soll, aber sie ignoriert ihn. Sie
beugt sich noch tiefer über Ollys Dad, der sich plötzlich auf
den Rücken dreht. Mit seinen großen Händen packt er ihr
Handgelenk. Triumphierend zerrt er ihre Hand nach oben,
als wäre es eine Trophäe, die er gerade gewonnen hat. Er
rappelt sich auf und zieht sie mit sich hoch.
Wieder will sich Olly zwischen die beiden werfen, aber
diesmal ist sein Dad darauf vorbereitet. Schneller, als ich es
je bei ihm erlebt habe, lässt er Ollys Mom los, packt Olly am
Kragen und schlägt ihm in den Bauch.
Ollys Mom schreit. Dann schreie auch ich. Er schlägt ihn
noch einmal.
Ich sehe nicht mehr, was dann passiert, weil ich mich von
meiner Mom losreiße und renne. Ich rase aus dem Zimmer
und den Flur entlang. Ich hechte durch die Luftschleuse und
zur Haustür hinaus.
Ich weiß nicht, wohin ich gehe, aber ich muss zu ihm.
Ich weiß nicht, was ich tue, aber ich muss ihn beschützen.
Ich renne über unseren Rasen bis an den Rand von Ollys
Grundstück. Sein Vater holt schon wieder zum Schlag aus,
und ich schreie: »Aufhören!«
Die beiden erstarren einen Moment lang und sehen mich
entsetzt an. Sein Vater scheint erst jetzt zu merken, wie betrunken er ist. Er torkelt die Stufen hoch und verschwindet
im Haus. Seine Mutter folgt ihm.
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Olly steht vornübergebeugt da und hält sich den Bauch.
»Alles in Ordnung?«, frage ich.
Er schaut zu mir auf und sein Gesichtsausdruck verwandelt sich von Schmerz über Verwirrung zu Panik.
»Geh. Geh zurück«, sagt er.
Meine Mom packt meinen Arm und versucht, mich wegzuziehen. Ich nehme nur am Rande wahr, dass sie total
hysterisch ist. Sie hat mehr Kraft, als ich gedacht habe, aber
mein Verlangen, Olly zu sehen, ist noch stärker.
»Alles in Ordnung?« Diesmal frage ich lauter und rühre
mich nicht vom Fleck.
Er richtet sich langsam und vorsichtig auf, als würde ihm
etwas wehtun, aber seinem Gesicht kann man keine Schmerzen ansehen.
»Mads, mir fehlt nichts. Geh wieder rein. Bitte.« Unsere
Gefühle füreinander stehen unübersehbar zwischen uns.
»Ich schwöre, mir fehlt nichts«, sagt er, und ich lasse mich
wegziehen.
Madeline kann es nicht fassen: War sie wirklich gerade
da DRAUSSEN, in der echten, wirklichen Welt? Und können Gefühle einem nun das Herz brechen oder hat Carla
recht, und Liebe kann einem nichts antun? Maddy muss es
herausfinden. Und alles andere auch.
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WE R NI C HTS RISKIER T,
T R Ä U MT I MME R NU R VOM FLIEGEN.
»Ein echtes Lieblingsbuch!
Mit Sätzen, die man in Stein
meißeln möchte …«
elke weise , mayersche
buchhandlung , köln
Nicola Yoon
DU NEBEN MIR
UND ZWISCHEN UNS
DIE GANZE WELT
336 Seiten · Ab 14
16,99 €[D] · 17,50 € [A]
ISBN 978-3-7915-2540-2
Auch als E-Book erhältlich
Ungekürzte Lesung mit
Jodie Ahlborn und Julian Greis
Laufzeit: 388 Minuten · 2 mp3-CDs
UVP 19,99 €[D] · 20,60 € [A]
ISBN 978-3-8373-0887-7
Erscheint zeitgleich bei Oetinger audio
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© Sonya Sones
NIC OL A YOO N
geboren 1972, ist auf Jamaica und in Brooklyn groß
geworden. Mittlerweile lebt sie mit ihrem Mann David,
der das Artwork gestaltet hat, und der gemeinsamen
Tochter in Los Angeles. »Du neben mir und zwischen
uns die ganze Welt« ist ihr literarisches Debüt.
»I CH GLAUB E AN D I E L I E BE AL S E I NE
KRAFT, DIE V IELE S VE R ÄND E R N KANN.«
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dunebenmir
© Illustrationen S. 6 & 7: David Yoon
© Illustration: GWAW G E WIN N SP IE L
13-20448
Wenn ihr Leben ein Buch wäre,
sagt Madeline, würde sich beim Rückwärtslesen nichts ändern: Heute ist wie
gestern und morgen wird sein wie
heute. Denn Madeline hat einen seltenen Immundefekt und ihr Leben lang
nicht das Haus verlassen. Doch dann
zieht nebenan der gut aussehende
Olly ein – und Madeline weiß, sie
will alles, das ganze große, echte,
lebendige Leben! Und sie ist bereit,
dafür alles zu riskieren.