Festvortrag Margarete Udolf

Partizipation als Korrekturerfahrung bei
Trauma
Teilhabemöglichkeiten für Mädchen und junge Frauen,
die von Gewalt im Namen der Ehre bedroht sind
Vortrag von Margarete Udolf
Stuttgart
29.10.2015
Inhalt
1. Folgen von Bedrohung und Misshandlung im Namen der
Ehre
2. Trauma-Auswirkungen auf Autonomiebestrebungen von
betroffenen Mädchen und jungen Frauen
3. Partizipation als Korrekturerfahrung bei Trauma
4. „Widersacher“ der Partizipation: Angst, Überanpassung,
erlernte Hilflosigkeit und Dissoziation
5. Umsetzung des Unterstützungsbedarfs der Mädchen und
jungen Frauen
Gewalt im Namen der Ehre
• Menschenrechtsverletzung
• Gewalt zur Erhaltung oder Wiederherstellung der
Familienehre
• Betroffene: Personen, die bezichtigt werden, die "Ehre"
der Familie oder Gemeinschaft verletzt zu haben (in der
Regel Frauen und Mädchen)
• vielfältige Formen: psychischer Druck, emotionale
Erpressung, Drohungen, körperliche und sexualisierte
Gewalt, Zwangsverheiratung, bis hin zum Ehrenmord
• traumatisierende Wirkung
Definition von Trauma
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seelische Verletzung
ein oder mehrere lebensbedrohliche Ereignisse (subjektiv!)
Erleben als Opfer oder Zeug_in
extreme Gefühle von Angst oder Entsetzen,
Ausgeliefertsein, Hilflosigkeit und Ohnmacht
• Bewältigungsmechanismen überfordert
• völliger Kontrollverlust
• führt zur Erschütterung des Selbst- und
Weltverständnisses
→ langanhaltende Belastungsreaktionen möglich
Ursachen von Traumata
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Unfälle
Naturkatastrophen
Krankheiten
Krieg, Folter, Flucht
Verlust von Bezugspersonen
Misshandlung: emotional, körperlich, sexuell und
Vernachlässigung
Besonders schwerwiegende Folgen bei Misshandlung durch
nahe Bezugspersonen!
Trauma durch Verrat
„Betrayal Trauma“ von Jennifer Freyd
• besondere Beziehungsdynamik mit den wichtigsten
Bezugspersonen, von denen die Betroffenen abhängig sind
und die eigentlich für Schutz und Sicherheit zuständig
wären
• Gefühl, verraten zu werden bzw. verraten worden zu sein
• Grundlegende Erschütterung des Vertrauen in die Eltern
und die Geschwister
• Auslöser für eine Traumatisierung auch ohne konkrete
körperliche Misshandlung!
Trauma durch Verrat
Betroffene Mädchen und junge Frauen:
• stehen infolge dieses massiven Vertrauensbruches oft
unter Schock
• erleiden einen kompletten Kontrollverlust
• Zerrissenheit zwischen den Erwartungen der Eltern, dem
patriarchalischen Erziehungs- und Ehrenkodex und der
angestrebten Lebensweise in der deutschen Gesellschaft
• um dies auszuhalten, leugnen sie manchmal die reale
Gefahr → dramatische Eskalationen
• bei Flucht: realer Verlust der Familie…
Ehre versus Autonomiebestrebungen
Betroffene Mädchen und Frauen:
• waren der Gewalt im Namen der Ehre hilflos ausgeliefert
• erlebten, dass ihre Autonomiebestrebungen, Bedürfnisse,
Befindlichkeiten und Wünsche von den wichtigsten
Bezugspersonen weder respektiert noch beachtet wurden
Häufige Folgen:
• geringes Selbstwertgefühl
• Schwierigkeiten für sich selbst aufzutreten
Partizipation ist DIE Korrekturerfahrung
für Traumatisierte!
Definition von Partizipation
• Politisch: zentrale Komponente der Entfaltung einer
freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft
• Soziologisch: Einbindung von Individuen in Entscheidungsund Willensbildungsprozesse
• sozialpädagogisches Arbeitsfeld: Einbindung von jungen
Menschen (und der Eltern) bei allen das Zusammenleben
und die individuelle Perspektivplanung betreffenden
Ereignissen und Entscheidungsprozessen
Trauma
versus
Ohnmacht
↔
Überwältigung
Kontrollverlust
Manipulation
Sprachlosigkeit
Unüberschaubarkeit
Isolation
Geheimnis
Entwürdigung
Respektlosigkeit
Gewalt
Partizipation
Selbstwirksamkeit
Bewältigung
Kontrolle
Selbstbestimmung
Mitsprache
Transparenz
Kontakt
Offenheit
Würde
Respekt
Gewaltlosigkeit
„Widersacher“ der Partizipation
• Überanpassung
durch übermäßiges Angepasst-Sein und blinden, ggf.
vorauseilenden Gehorsam sollen die stets als bedrohlich
erlebten Erwachsenen beschwichtigt und eigene Ängste
reduziert werden
• Totstell-Reflex
Völliges Erstarren, nicht mehr „Mucksen“ beim kleinsten Anflug
von Gefahr
„Widersacher“ der Partizipation
• Identifikation mit dem Aggressor
Aggressives und zerstörerisches Verhalten, um abzuschrecken
und stark zu erscheinen, in der Hoffnung, dass "Wenn ich nie
wieder schwach bin, kann mir keiner mehr was tun!“
• Erlernte Hilflosigkeit (M. Seligman, S. Maier)
- Einstellung, keine Kontrolle zu haben = hilflos zu sein aufgrund
von negativen Erfahrungen der Hilf- oder Machtlosigkeit
z.B. durch Verlust oder Gewalt
- Folge: Einengung des Verhaltensrepertoires: Betroffene
versuchen nicht, negative Zustände zu verändern, obwohl
sie es (von Außen betrachtet) könnten
Arbeitsgrundlage: Sicherer Ort
Traumatisierte Mädchen und junge Frauen brauchen einen
sicheren äußeren Ort für einen sicheren inneren Ort:
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•
Schutz (inkl. lebensnotwendige Anonymität)
Sicherheit
Verlässlichkeit
Kontrollierbarkeit
Was tun?
Wir brauchen Partizipation als
• pädagogische Grundhaltung
und
• Ausgangsbasis der Beziehungsgestaltung zwischen
Fachkräften und Betreuten
Was tun?
• Tatsächlichen Entwicklungsstand und aktuelle
Stabilität der Mädchen und jungen Frauen bei der
Planung der Unterstützung berücksichtigen!
• Schwierige Hilfeverläufe nicht als Niederlage sondern
eher als diagnostische Informationen über die
beteiligten Mädchen und jungen Frauen bewerten!
Hinweise für die partizipative Arbeit
• Traumabezogene Erwartungen und lebensfeindliche
Normen der Mädchen und jungen Frauen sollen in
Einzel- und Gruppenarbeit korrigiert werden
• Selbstwertgefühl der Betroffenen soll gefördert und
ihrer chronischen Entmutigung entgegengewirkt
werden
• Heimliche Entscheidungs- und Gewaltstrukturen unter
den Betroffenen sollen offen gelegt und reflektiert
werden
Stufen der Partizipation
Traumapädagogische Standards für stationäre Einrichtungen
formuliert von der BAG Traumapädagogik 2011:
„Strukturen und Ansätze schaffen, die dem jeweiligen
Entwicklungstand entsprechend die höchst mögliche Teilhabe
gewährleisten“
Stufen der Partizipation
(nach R. Hart und M. Kühn)
Mitwirkung
Mitbestimmung
Mitsprache
Information
Nicht-Information
Manipulation
Mit der Zeit…
• wird das Gefühl traumatisierter Mädchen und jungen Frauen,
der Willkür Erwachsener ausgeliefert zu sein allmählich
abgebaut
und
• das Gefühl von Selbstwirksamkeit wird entstehen
Was brauchen Traumatisierte noch?
Resilienzstärkung durch Freude und Spaß!
„Es gilt daher die Freudenseite zu beleben und ihr einen
besonderen Schwerpunkt zu geben, um die Belastung und
Widerstandsfähigkeit (Resilienz) ins Gleichgewicht zu bringen.“
Standards der BAG Traumapädagogik zur traumapädagogischen
Arbeit in Einrichtungen der stationären Kinder- und Jugendhilfe
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!