Zu diesem Buch: Wie gut kennst du deinen Feind? Sobald Leonore Danner den Namen Nathan Cole nur hört, sieht sie rot. Denn er ist der Grund, weshalb ihre Großmutter bald ihren geliebten Lebensmittelladen in Miami verkaufen muss. Fest entschlossen, dies abzuwenden, schmuggelt sich Leonore an Bord seiner Luxusyacht. Doch bevor sie die Sache mit ihrem Erzfeind klären kann, geschieht ein Unfall und beide landen im Meer. Mit nichts als ihren Kleidern am Leib, stranden sie auf einer einsamen Bahama-Insel. Von diesem Zeitpunkt an kämpfen sie ums Überleben, denn die Insel hält so manche Überraschung bereit – genau wie Nathan Cole … © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 Impressum E-Book-Originalausgabe November 2015 bei LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH, Gertrudenstraße 30–36, 50 667 Köln Copyright © 2015 bei EGMONT Verlagsgesellschaften mbH Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: © Guter Punkt, München | www.guterpunkt.de Umschlagmotiv: © Guter Punkt unter Verwendung von Motiven von thinkstock und istock Redaktion: Catherine Beck Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln ISBN: 978-3-7363-0090-3 www.egmont-lyx.de http://www.egmont-lyx.de/buch/allein-mit-dem-feind/ © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 1. Kapitel „Nein!“ Leonore Danner knallte den Regenschirm auf die Theke. „Nein, nein, nein!“ Rumms. Rumms. Rumms. „Das werde ich nicht zulassen, hörst du, Gran?“ Theresia Danner holte Luft. „Ich weiß nicht, was wir dagegen tun können, Liebes.“ Ratlos senkte sie den Blick auf den Brief in ihrer Hand. Leonore pflückte ihn aus den Fingern ihrer Großmutter und überflog die wenigen Zeilen mit gerunzelter Stirn. „Das werde ich nicht zulassen“, wiederholte sie und versuchte zu ignorieren, wie ihre Unterlippe dabei zu zittern begann. Schlimmer hätte ihr die bittere Realität gar nicht ins Gesicht springen können. Dafür genügten diese schlichten Buchstaben. Leonore hatte gewusst, dass sie mit den Darlehensraten für den Gemüseladen ihrer Großmutter im Rückstand waren. Ein wenig ... gut, zwei Monate – aber das konnte doch noch lange kein Grund für die Bank sein, gleich mit einer Versteigerung des Grundstücks zu drohen. Hatten sie nicht jahrelang pünktlich bezahlt? Angespannt legte sie den Brief und den leicht verbogenen Regenschirm auf der Theke ab, bevor sie sich auf einen der niedrigen Gemüsetische direkt daneben setzte. Genau wie die restliche Einrichtung bestand auch er aus robustem Holz, was dem Gemüseladen ein naturnahes, fast mediterranes Flair verlieh. Ein ungewöhnliches Kleinod inmitten von Downtown Miami. Ihre Großmutter nahm ebenfalls Platz. „Dass uns gleich drei Lieferungen mit Früchten verderben, war einfach Pech, © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 Leo. Solche Dinge passieren.“ Zärtlich wischte sie ihrer Enkelin die rabenschwarzen Haare aus dem Gesicht. Leonores Kopf ruckte herum. „Pech! Pech?“ Sie stieß ein abfälliges Schnauben aus, Wut in den Augen. „Wohl eher Nathan Cole. Würde mich nicht wundern, wenn dieser fiese Mistkerl auch noch dahintersteckt. Der hat seine schmierigen Finger doch überall.“ „Jetzt übertreibst du aber, Leo“, tadelte ihre Großmutter. „Wie sollte Mr Cole denn so etwas bewerkstelligen?“ „Ich weiß nicht, Grandma. Irgendwie.“ Aufgebracht sprang Leonore wieder auf die Füße und wanderte über den blitzsauberen Steinboden des Ladens. „Seit ich herausgefunden habe, dass er mit dem Vorstand unserer Bank jede Woche Golf spielt, wundert mich gar nichts mehr. Der Mann sieht nicht nur aus wie der Teufel ... er benimmt sich auch so.“ Sie ballte die Hände zu Fäusten. Seufzend rieb sich ihre Großmutter die betagten Knie. „Er ist jung und erfolgreich. Da kümmert es ihn wenig, was mit einem kleinen Gemüseladen wie unserem passiert.“ Leonore biss die Zähne aufeinander. „So jung ist er nun auch nicht mehr, Gran. Er ist vier Jahre älter als ich, und ich bin immerhin schon achtundzwanzig. In unserem Alter ist einem sehr wohl bewusst, was ,unter die Gürtellinie tretenʽ heißt. Aber dafür interessiert sich Mr Superreich-Cole ja nicht. Der denkt nur an sein neues Businessgebäude.“ Sie beäugte den Regenschirm, weil sie gute Lust hatte, damit den dunkelbraunen Haarschopf ihres Widersachers zu bearbeiten. Vielleicht würde sie das auch tun – sollte sie es je schaffen, ihm persönlich zu begegnen. Etwas, das ihr trotz aller Versuche bisher nicht vergönnt gewesen war. © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 Unwirsch kreuzte Leonore die Arme vor der Brust. „Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der derart über Leichen geht wie dieser Schickimicki-Arsch.“ Die Türklingel bimmelte, und Leonore und ihre Großmutter blickten sich gleichzeitig um. Eine junge Mutter mit Kinderwagen betrat den Laden. Sie gehörte zu ihrem doch recht beachtlichen Kundenstamm und kaufte regelmäßig bei ihnen ein. Leonore spürte einen Stich ins Herz. Sie wollte ihrer Kundschaft nicht sagen müssen, dass ihr Lieblingsladen für immer die Pforten schließen würde, nur weil sie nicht fähig gewesen wäre, einem skrupellosen Schönling die Stirn zu bieten. Ihr Kinn versteifte sich. So weit würde es nicht kommen. Das würde sie zu verhindern wissen, und wenn sie bis zu ihrem letzten Atemzug dafür kämpfen müsste! Beherzt straffte sie die Schultern und wischte dabei mit dem Handrücken die Mahnung von der Theke. Sie flatterte in einem Bogen abwärts und landete in einer Kiste mit Melonen, die hinter der Theke auf die Preisauszeichnung warteten. Obwohl Leonore bemerkte, dass ihre Großmutter ob des fahrlässigen Umgangs mit dem Schriftstück eine weiße Augenbraue lüftete, schritt sie lächelnd ihrer Kundin entgegen. „Hallo, Mrs Farrell. Wie geht es Ivy denn heute?“ Sie kitzelte das Baby im Kinderwagen am Bauch und erntete ein breites Grienen. „Hat sich ihr Husten wieder gebessert?“ „Oh ja, zum Glück.“ Mrs Farrell ergriff Leonores Hand. „Vielen Dank für Ihren Tipp mit dem Kandis-Zwiebelsaft. Das hat wirklich schnell geholfen.“ Leonore strahlte. „Das freut mich zu hören. Es ist ein Rezept meiner Großmutter.“ „Das stimmt“, bestätigte die. „Und ich habe es wiederum © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 von meiner Großmutter erfahren.“ Theresia Danner verschwand kurz im Lager und kehrte dann mit einer prall gefüllten Papiertüte zurück. „Manchmal sind die alten Hausmittel eben die besten.“ Sie reichte der Kundin die Tüte. „Hier, die Tomaten, die Sie bestellt hatten.“ „Danke. Die sehen ja wieder toll aus. Richtig schön rot und saftig.“ Leonore nickte lächelnd. „Sie kommen auch direkt aus Italien. Entschuldigen Sie mich einen Moment.“ Sie wandte sich der Theke zu, auf der gerade das antike Telefon zu klingeln begonnen hatte. „Gemüseladen Danner“, meldete sie sich freundlich. „Haben Sie eigentlich schon mal darüber nachgedacht, in einem Callcenter zu arbeiten?“, bekam sie ein freches Angebot. „Ihre Stimme klingt echt sexy. Ich könnte Ihnen gleich einen Job besorgen. Für 3,40 die Stunde.“ Leonore musste lachen. „Das ist mir zu billig“, entgegnete sie Mateo am anderen Ende der Leitung. „Versuch’s mal mit 34 pro Stunde.“ „Das kann ich mir nicht leisten.“ Mateo grunzte gespielt enttäuscht. „Hallo Leo! Wie sieht’s bei euch aus? Viel los im Laden?“ „Darüber können wir nicht klagen.“ „Aha. Worüber dann?“ Wie immer war ihr bester Freund schnell von Begriff. Leonore machte ein paar Schritte zum Lagerraum hin, damit sie im Laden nicht zu hören war. „Die Bank hat uns ein Ultimatum gesetzt. Wenn wir nicht innerhalb von zehn Tagen die aufgelaufenen Raten zahlen, versteigern sie unser Grundstück.“ © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 „¿Qué? Das kann nicht wahr sein! So was ist nie und nimmer rechtens.“ „Doch“, antwortete Leonore bitter. „Wenn das Recht durch Nathan Cole ausgelegt wird.“ Mateo gab ein Brummen von sich. „Gegen diesen Mann musst du endlich was unternehmen. Ich kann da gern was organisieren. Du weißt, ich kenne gewisse Leute.“ Trotz der prekären Situation entlockte das illegale Angebot Leonore ein Schmunzeln. Die Worte waren kein leeres Versprechen. Mateo war Kubaner und hatte lange Zeit in einem Viertel von Miami gelebt, das die Polizei selbst am Tag nur ungern betrat. Dadurch pflegte er Kontakte, die Lösungen für jede noch so verfahrene Situation fanden. Leonore atmete durch. „Vielleicht komme ich bald darauf zurück. Ganz sicher sogar, wenn ich weiterhin keinen Termin bei Mr Cole bekomme. Mit drei Versuchen bin ich schon gescheitert. Aber so leicht gebe ich nicht auf. Warte mal einen Moment, Mateo.“ Sie blickte über die Schulter, weil sie die Stimme ihrer Großmutter hörte. „Ich muss leider Schluss machen. Gran braucht mich. Die Ananas-Lieferung scheint endlich gekommen zu sein.“ „Okay, bis bald dann. Wir sehen uns.“ „Ja, bis bald“, verabschiedete sich Leonore, den Blick bereits auf den Lieferanten gerichtet, der neben ihrer Großmutter wartete. Seine betretene Miene verursachte ein flaues Gefühl in ihrer Magengrube. Ohne sich die Unruhe anmerken zu lassen, ging sie auf den Mann zu. „Hallo, Mr Bradshaw, haben Sie die Ananas-Lieferung dabei?“ „Ähm, nein. Kann man so nicht sagen.“ Der Lieferant nahm seine Mütze ab, um sich den stoppeligen Kopf zu kratzen. © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 Leonore befiel eine ungute Vorahnung. „Ich hätte Ihnen die fünf Kisten heute gern gebracht, aber die Zollbehörde hat die Ware direkt im Hafen von Key Biscayne konfisziert.“ Er zuckte ratlos die Schultern. „Sie sagten irgendwas von einer Stichprobeninspektion. Die Papiere müssen wohl erst durch die U.S. Food and Drug Administration geprüft werden.“ „Schon wieder die FDA?“ Leonore kniff die Augen schmal. „Wie lange wird es dauern, die Papiere zu prüfen? Lassen Sie mich raten. Drei Wochen, so wie beim letzten Mal.“ Sie begriff erst, welcher Frust in ihrer Stimme mitschwang, als Theresia eine Hand auf ihren Rücken legte. „Das kann ich leider nicht sagen, Ms Danner.“ Mr Bradshaw fühlte sich sichtlich unwohl. „Es tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass die Früchte danach noch ...“ Leonore nickte und riss sich zusammen. „Schon okay. Sie müssen sich keine Vorwürfe machen. Danke, dass Sie uns informiert haben.“ Gezwungen lächelnd wartete sie, bis der Mann den Laden verlassen hatte. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, marschierte sie in das kleine Büro hinter der Theke. Wutentbrannt riss sie ihre Tasche an sich. Ihre Großmutter folgte ihr. „Wo willst du denn jetzt hin, Leo?“ Mit kriegerischer Miene steuerte Leonore die Ladentür an. „Den Teufel besuchen.“ Eine halbe Stunde später legte Leonore vor dem riesigen Glasgebäude, das Nathan Coles Firmensitz darstellte, den Kopf in den Nacken und blickte an der in der Sonne glänzenden, verspiegelten Fassade hinauf. Irgendwo dort, © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 ganz weit oben im Penthouse, saß er vermutlich gerade, ihr verhasster Widersacher – und sie musste ebenfalls dorthin. Am besten heute noch. Energisch packte Leonore den breiten Edelstahlgriff der Glastüren und betrat den Eingangssaal. Kühle Luft empfing sie. Der schwarze Granitboden war glatt genug geschliffen, dass man ihn auf High Heels nur mit einer guten Unfallversicherung betreten sollte. Ihre Flip-Flops verursachten ein leises Quietschen, während sie zügig auf die Rezeption zuging. Neben einem extravaganten Blumenbouquet saß eine junge Frau, die ihre Schönheit sicher nicht allein Mutter Natur zu verdanken hatte. Leonore biss die Zähne aufeinander. Jedes Mal, wenn sie hier eintraf, musste sie sich mit einer anderen Empfangsdame herumschlagen. Das heutige Modell war blond. Die Frau hob den Kopf, als Leonore vor ihr stehen blieb. „Willkommen bei NaCo Business Systems Ltd.“, flötete sie unter Einsatz eines derart strahlenden Betonlächelns, dass sie es sich vermutlich nach Geschäftsschluss aus dem Gesicht meißeln musste. Ihr Blick umfasste mit einem Hauch von Missbilligung Leonores luftiges Sommerkleid und die alte Stofftasche über ihrer Schulter, ehe sie sich dem PC zuwandte. „Wen darf ich bitte anmelden?“ „Leonore Danner.“ Die Empfangsdame nickte verbindlich und tippte ihren Namen in den PC. Leonore bezweifelte, dass ihr Name dort tatsächlich irgendwo vermerkt war – allenfalls unter der Rubrik „Unerwünscht‟. Die Frau bediente die kabellose Maus, klickte einmal, zweimal. Tippte erneut auf die Tasten. Dann kam, was kommen musste. „Sie stehen leider nicht auf meiner © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 Liste. Hatten Sie einen Termin vereinbart, Mrs Danner?“ „Ms Danner“, korrigierte Leonore beiläufig. „Nein, deshalb bin ich ja hier. Ich möchte wegen dieser Mahnung hier ...“, sie legte das Schreiben auf die steinerne Theke, „dringend persönlich mit Mr Cole sprechen.“ „Was ist das?“ Angewidert zeigte die Frau auf einen gelblichen Fleck, der neben dem Adressfeld auf dem Papier prangte. „Melonensaft“, erwiderte Leonore, ohne mit der Wimper zu zucken. „Darf ich nun zu ihm? Oder erzählen Sie mir gleich wieder, dass er ausgerechnet heute verhindert ist?“ „Ich bin sicher, dass Mr Cole ein Gespräch mit Ihnen sehr begrüßen wird, sobald er einen Termin frei hat“, zuckerte die Frau genau wie erwartet. „Heute ist er zu meinem Bedauern jedoch komplett ausgebucht.“ Heute. Morgen. Und wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit. Leonore unterdrückte ein Schnauben. „Hören Sie, Miss …“, flink scannte sie das Metallschildchen an der Bluse der Frau, „… Keller. Mir ist durchaus klar, dass Sie Ihre Aufgabe, den Publikumsverkehr zu koordinieren, sehr ernst nehmen.“ Der ruhige Ton verlangte Leonore allerhand ab. Am liebsten hätte sie jedwede Freundlichkeit sausen lassen und lautstark zum Ausdruck gebracht, wie verärgert sie über Mr Coles stetige Indisponiertheit war. Aber das hätte sie leider keinen Schritt vorangebracht. „Sie werden jedoch sicher einsehen“, fuhr sie fort, „dass man einen Versteigerungstermin nicht einfach verlegen kann. Also bitte schauen Sie noch einmal nach, ob Sie heute nicht doch einen Termin finden können.“ Das Betonlächeln bröckelte keine Sekunde. „Ich bin bereits © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 alles durchgegangen. Mr Cole hat wirklich keine Termine frei. Vielleicht kann ich Ihnen stattdessen ein Gespräch mit der Serviceabteilung offerieren?“ Leonore atmete tief durch. Sie fühlte sich wie ein Hürdenläufer, der zehnmal am selben Hindernis scheiterte. Auf diesem Weg kam sie nicht weiter. Je länger sie hier herumdiskutierte, desto klarer zeichnete sich ab, dass Mr Cole keinerlei Interesse daran bekundete, sich in irgendeiner Weise mit ihr auseinanderzusetzen. Vergleichbar mit Julius Cäsar war er gekommen, hatte ihr Grundstück gesehen und beschlossen, darauf sein neues Medienzentrum zu errichten. Seitdem arbeitete er rücksichtslos darauf hin, das Lebensmittelgeschäft ihrer Gran von seinem Bebauungsplan zu tilgen. Leonore schluckte. Damit würde er auch Erfolg haben, wenn es ihr nicht bald gelänge, das Ruder herumzureißen. Aber wie sollte sie Mr Cole zu einer Alternative überreden, wenn er sich diese nicht einmal anzuhören gedachte. Das Telefon an der Rezeption klingelte, und Ms Keller tippte, eine Entschuldigung murmelnd, auf eine Taste an ihrem Headset, unübersehbar erleichtert, dass sie Leonore den Rücken kehren konnte. „NaCo Business Systems Ltd., Miami. Sie sprechen mit Ms Keller“, flötete sie ein weiteres Mal. Einige Momente lauschte sie dem Anrufer, dann erwiderte sie: „Ja, die Kisten müssen am nächsten Freitag bis siebzehn Uhr geliefert werden. Nein ... Das müssen Sie mit Mr Cole klären. Einen Moment bitte, ich suche den Namen der Yacht nochmals für Sie heraus.“ Sie drehte sich zum PC und warf Leonore einen genervten Blick zu, weil sich diese keinen Millimeter vom © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 Fleck rührte. Leonore nutzte die Chance und beugte sich süß lächelnd vor. „Haben Sie zufällig eine Toilette im Haus?“ Ms Keller zeigte kommentarlos in Richtung der Aufzüge, womit Leonore schon gerechnet hatte, denn genau dorthin wollte sie ja. Hastig blätterte die Frau durch einen Packen Unterlagen, der direkt neben ihrer Tastatur lag. „Danke.“ Leonore griff nach ihrem Mahnschreiben, faltete es zusammen und marschierte in die angegebene Richtung. Die Empfangsdame nahm das Gespräch in der Leitung wieder auf. „Entschuldigen Sie. Die Yacht heißt Meridian. Me-ri-dian ... Ja. Sie liegt am Pier 9 und ist ziemlich groß. Sie können sie im Grunde gar nicht verfehlen. Nein, es müsste jemand an Bord sein, der den Champagner entgegennimmt ... Gut, in Ordnung.“ Champagner? Offenbar plante Mr Cole eine Sause. Leonore hörte dem Gespräch mit halbem Ohr zu, während sie die beiden bulligen Männer neben den Aufzügen in Augenschein nahm. Wenige Schritte von den Stahltüren entfernt blieb sie niesend stehen und gab vor, nach einem Taschentuch zu suchen. Sie hatte Glück. Just in dieser Sekunde öffneten sich die breiten Schiebetüren. Leonores Blick überflog rasch die in teure Anzüge gekleideten Männer, die das Innere des Aufzugs ausspuckte. Nathan Cole war nicht dabei. Das wäre auch ein zu großer Zufall gewesen. Umständlich putzte sie sich die Nase, während die Männer um sie herum zur Eingangshalle gingen. Sie wartete, passte genau den richtigen Zeitpunkt ab. Dann flitzte sie mit einer Geschwindigkeit, die sie unter normalen Umständen nie zustande gebracht hätte, auf die sich © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 schließenden Aufzugstüren zu. Sie schaffte es knapp durch den schmaler werdenden Spalt, prallte dabei unsanft mit der Schulter gegen die Türkanten, aber sie gelangte ins Innere. Die Türen ruckten direkt hinter ihr gegeneinander, trotzdem konnte Leonore augenblicklich die Rufe der Security hören. Hastig hämmerte sie auf den Knopf für den obersten Stock. Alles hing davon ab, dass sich dieser Aufzug nicht gleich wieder öffnete. Als sich das Stahlgehäuse stattdessen in Bewegung setzte, lehnte sie sich aufatmend gegen die Rückwand. Damit war sie offiziell einen Schritt weiter als jemals zuvor. Unerlaubt und frech zwar, aber sie war weiter. Die Finger in den Griff ihrer Stofftasche gekrallt, zählte sie ungeduldig die Stockwerke bis zum Penthouse mit und betete gleichzeitig darum, dass der Aufzug nirgendwo dazwischen gestoppt wurde. Auch dieses Mal stand ihr das Glück zur Seite, denn wie durch ein Wunder erreichte sie wenige Sekunden später die oberste Etage. Dass damit ihr Punktekonto bei der Glücksfee verbraucht war, begriff Leonore, als sie, kaum aus dem Aufzug getreten, zwei schwarz gekleidete Security-Männer auf sich zustürmen sah. „Halt! Sofort stehen bleiben“, brüllten sie im Chor. Statt dem Befehl Folge zu leisten, sprang sie gelenkig um einen der riesigen Blumenkübel herum und rannte, ohne auch nur einen Moment mit Nachdenken zu verschwenden, auf die breiten Ledertüren an der rückwärtigen Wand des langen Raums zu. „Stopp!“ Die Männer brüllten immer noch und kamen mit jedem Atemzug näher. Leonore sprintete unbeirrt weiter. Sie schaffte es nicht. Kurz bevor sie ihr Ziel tatsächlich © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 erreichen konnte, prallten zwei weitere Security-Leute, aus einem Seitengang kommend, gegen sie. Leonore schrie und strampelte wie verrückt, als die Männer sie wie ein Hotdog-Würstchen zwischen sich einklemmten. „Nein! Lassen Sie mich los. Ich muss Mr Cole sprechen! Lassen Sie mich los!“ Natürlich dachten die beiden nicht im Traum daran. „Sie kommen erst mal mit uns, Miss“, informierte der Größere sie und zerrte an ihrem Arm. Vor lauter Verzweiflung trat Leonore dem Kleineren vors Schienbein, was ihn zum Jaulen brachte. Viel Erfolg bescherte ihr diese Aktion nicht, denn gleich darauf packte der Größere sie um die Beine und warf sie sich über die Schulter. „Halt still, kleine Kratzbürste!“ Ihre Gegenwehr schien ihm mittlerweile richtig Spaß zu machen. Hilflos in seinem Griff zappelnd hätte Leonore vor Wut am liebsten geweint. Warum war sie kein Mann? Warum hatte sie nur so lachhaft wenig Kraft? Wenigstens einmal im Leben wünschte sie sich, Hulk Hogan zu sein. Kopfüber sah sie, dass sich eine der Türen im Gang öffnete. Ein Mann und zwei Frauen traten heraus. „Mr Cole!“ Leonore versuchte sich von der Schulter ihres Häschers zu winden, obwohl sie sofort ahnte, dass es sich bei dem Mann nicht um den Gesuchten handelte. „Herrgott noch mal. Lassen Sie mich endlich mit ihm sprechen! Mr Cole!“, schrie sie immer lauter und hieb mit aller Kraft auf den massigen Rücken unter ihr ein. Davon völlig unbeeindruckt trug der Mann sie zum Aufzug zurück. „Nein! Das ist ungerecht!“ Nicht bereit, so schnell © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 aufzugeben, keilte sie pausenlos aus. Es half nichts. Was sie auch tat, verpuffte vollkommen nutzlos. Als sich die Aufzugtüren hinter ihr schlossen, wirkte es, als würden zwei Hälften einer Guillotine zusammenklappen. Nur mit Mühe schaffte Leonore es, die Tränen zurückzublinzeln. „Hörst du das, Nate?“ Gabriel Cole drehte wachsam den Kopf. „Da schreit doch jemand.“ Bevor sein Bruder hinter dem großzügig bemessenen Schreibtisch reagieren konnte, war er aufgesprungen und in Richtung Bürotür marschiert. „Warte, Gabe. Bleib hier.“ Nathan Cole stützte die Ellbogen auf die Unterlagen, über die sie gerade gesprochen hatten. „Kein Grund zur Sorge. Das ist bestimmt nur diese verrückte Stalkerin, die mir schon seit Wochen auflauert. Anscheinend hat sie es dieses Mal geschafft, sich an der Security im Erdgeschoss vorbeizumogeln.“ Gabriel hob die Augenbrauen. „An diesen bulligen Typen? Dann scheint sie ziemlich raffiniert zu sein.“ Langsam, immer noch jeden Muskel im Körper sprungbreit, ließ er sich wieder in den Sessel fallen. „Und was will die Lady von dir? Ihrer Stimmlage nach zu urteilen scheint es ziemlich wichtig zu sein.“ Nathan verengte die Augen zu Schlitzen. „Dafür, dass du in Afghanistan ständig Detonationen ausgesetzt warst, hörst du aber noch ziemlich gut.“ Gabriel biss ob dieser fiesen Anspielung auf seinen Einsatz bei der US Army die Zähne zusammen. Offenbar schätzte es sein Bruder nicht, wenn er sich in seine Angelegenheiten einmischte. Er dagegen schätzte es nicht, wie ungehobelt Nathan mit anderen Menschen umsprang. © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 Beherrscht riss sich Gabriel zusammen. Nur noch zwei Tage bis zu ihrem gemeinsamen Geburtstag. Da sollten sie weiß Gott nicht schon wieder einen Streit anfangen. „Können wir diese Scharmützel nicht endlich mal lassen.“ Er legte locker ein Fußgelenk auf das Knie. „Ich dachte, du willst mich um einen Gefallen bitten.“ Sofort verlor Nathans Miene den aggressiven Zug. „Ja, stimmt.“ Er schob den Stapel mit Dokumenten zur Seite und lehnte sich lässig zurück. „Über das Portfolio können wir später noch sprechen ... Wie jedes Jahr veranstalte ich zu meinem Geburtstag den Yachttrip in die Karibik.“ Er legte die Fingerspitzen gegeneinander. „Die Gäste sind eingeladen, der Caterer bestellt, die Reiseroute geht quer durch die Bahamas. Ich habe keinerlei Kosten und Aufwand gescheut ...“ „Komm zur Sache“, sagte Gabriel ruhig, weil ihm langsam schwante, worauf sein Bruder hinauswollte. „Dummerweise ist mir kurzfristig etwas Dringendes in Form eines sehr privaten Treffens mit der Frau des Bürgermeisters dazwischengegrätscht“, bestätigte Nathan seine Vorahnung. „Ich kann also nicht mitfahren – du dagegen schon.“ Nathan schien zu bemerken, dass sich Gabriel stocksteif aufsetzte, denn er sprach schnell weiter. „Komm schon, Mann. Niemandem wird es auffallen. Das haben wir als Kinder so oft gemacht – und es ist auch dein Geburtstag. Außerdem wird Blair ebenfalls an Bord der Yacht sein.“ Gabriel schluckte die Ablehnung hinunter, die ihm, nicht zuletzt wegen des moralisch fragwürdigen Verhinderungsgrunds seines Zwillingsbruders, auf der Zunge gelegen hatte. „Blair nimmt an dem Ausflug teil? Wie hast du sie denn dazu überredet? Normalerweise fühlt sie sich in deinen Yuppie- © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 Kreisen doch genauso unwohl wie ich.“ „Nun, ich habe ihr gesagt, dass ihr Lieblingsbruder mit von der Partie sein wird.“ Nathan lächelte selbstgefällig. „Sie freut sich schon auf dich. Wie lange habt ihr euch jetzt nicht gesehen? Fünf Wochen, sechs?“ „Sieben.“ „Gibt dir einen Ruck, Brüderchen. So ein Yachttrip ist lustig, sogar für eine Spaßbremse wie dich“, frohlockte Nathan, offenbar vollkommen überzeugt, dass er mit dem Hinweis auf Blairs Teilnahme den entscheidenden Trumpf ausgespielt hatte. Und das hatte er. „Okay“, gab sich Gabriel geschlagen. „Aber nur dieses eine Mal … und nur unserer Schwester zuliebe.“ © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 2. Kapitel „Violas!“ „Sí.“ Mateo streckte den Kopf unter der Motorhaube hervor, unter der er gerade gearbeitet hatte. „Ein Anruf für dich.“ Der Inhaber der winzigen Autowerkstatt in Little Havana kaute wie gewöhnlich an seiner Zigarre herum. „Ne Frau is dran. Klingt ziemlich aufgebracht, wenn de mich fragst.“ „Bin sofort da.“ Hastig wischte sich Mateo die Finger an einem Lappen sauber und lief zum Telefon. „Violas“, meldete er sich. „Mateo, ich bin’s.“ „Leo?“ Mateo drückte überrascht den Hörer fester an Ohr. Die Nummer auf dem Display kannte er nicht. „Was ist passiert? Wo steckst du?“ „Im Knast.“ „Wo? Kannst du das bitte noch mal wiederholen? Ich habe doch tatsächlich ,Knastʽ verstanden.“ Mateo musste bei der absurden Vorstellung grinsen. Leonore räusperte sich. „Ja, weil ich genau das gesagt habe ... Ich sitze im Gefängnis.“ Sie nannte ihm die Adresse. Mateo fuhr sich bestürzt durch die dunklen Locken, bis ihm bewusst wurde, dass er dabei Schleifstaub in seinen Haaren verteilte. „Was um Himmels machst du dort? Wolltest du nicht zu Nathan Cole? Hast du dem Mistkerl etwa eins übergebraten?“ Leonore seufzte tief. „Ich wünschte, ich wäre ihm so nah © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 gekommen. Nein, ich habe mich mit seinem Wachpersonal angelegt.“ In stockenden Worten erzählte sie ihm von ihrem völlig misslungenen Versuch, das Penthouse zu erobern – der, rechtlich betrachtet, Hausfriedensbruch gewesen war. „Und jetzt?“, fragte er. „Musst du Strafe zahlen?“ „Nicht wenn ich bis morgen früh hierbleibe. Kannst du bitte Gran erzählen, ich wäre heute Abend mit dir unterwegs? Ich möchte nicht, dass sie sich Sorgen macht.“ „Klar, kein Problem.“ Mateo lehnte sich tief atmend gegen die Wand. „Wann darfst du morgen früh denn raus? Ich hole dich ab.“ „Gegen acht Uhr.“ „Okay, bin da.“ Leonore setzte sich in der warmen Morgensonne mit angewinkelten Beinen auf die Betonmauer vor dem Polizeirevier und blickte auf ihre Armbanduhr. Mateo musste jeden Moment eintreffen. Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende geführt, bog bereits das betagte hellblaue Mustang-Cabrio ihres Freundes um die Kurve und kam vor ihr zum Stehen. „Na, Bonnie Parker. Hast du die Nacht gut überstanden?“ Mateo schwang sich wie üblich aus dem Wagen, ohne die Autotür zu öffnen. „Mehr oder weniger, Clyde“, gab Leonore zurück und raffte ihre Stofftasche an sich. „Aber ich sehne mich nach einer Dusche. Ich fühle mich extrem schmutzig, obwohl die Zelle fast steril war.“ „Das liegt an dem Grund, der dich dort hingebracht hat.“ „Nathan Cole.“ Ihr Kiefer verspannte sich von ganz allein. © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 „Wegen diesem Mistkerl werde ich noch zur Kriminellen.“ Sie blickte ihren Freund an. „Hat Grandma Dir die Geschichte mit der Übernachtung abgekauft?“ „Sí, du kennst doch meinen kubanischen Charme.“ Er ließ mit eben diesem Charme seine weißen Zähne aufblitzen. „Welches Manöver planst du als Nächstes?“ „Das weiß ich noch nicht. Langsam gehen mir echt die Ideen aus.“ Geduldig wartete Leonore, bis Mateo mit sanfter Gewalt die schräge Beifahrertür aufgerissen hatte, dann nahm sie auf dem tiefen Sitz Platz. „Vielleicht sollte ich es in seiner Privatvilla versuchen, dort gibt es wenigstens kein blondes Bollwerk am Eingang.“ „Dafür aber jede Menge Sicherheitselektronik.“ Schulterzuckend sprang Mateo auf der Fahrerseite in den Wagen und startete den Motor. „Du könntest Cole auch direkt auf der Straße aufzulauern.“ „Oder auf seiner Yacht, wenn er in den nächsten Tagen dort Geburtstag feiert“, ergänzte Leonore in Gedanken an das gestern belauschte Telefonat und drückte ihre Stofftasche neben einige zerknüllte Rechnungen in die Seitenablage. Plötzlich hielt sie inne. „Moment mal ...“ „¿Qué?“ Mateo, der gerade Gas geben hatte, stoppte wieder. Leonore ruckte kurz im Gurt nach vorne, drehte sich aber trotzdem aufgeregt zu ihm. „Die Yacht. Das ist es! Ich muss irgendwie an Bord gelangen. Das dürfte doch nicht so schwer sein. Schließlich ist an einem Pier immer einiges los, besonders wenn Waren für eine Geburtstagsparty angeliefert werden.“ „So einfach funktioniert das leider nicht, Leo. Der Zutritt zum Anleger derart teurer Yachten wird rund um die © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 Uhr bewacht. Da kannst du nicht einfach reinmarschieren.“ Mateo kratzte sich den Nacken. „Allerdings habe ich recht passable Kontakte zum Hafenpersonal. Vielleicht lässt sich da was drehen. Wie heißt Coles Kahn denn? Ich würde mal auf ,NaCo No. 1ʽ tippen.“ Leonore musste grinsen. „Eher nicht. Warte ... Die Empfangsdame hat den Namen gestern buchstabiert.“ Die Fingerspitzen gegen die Stirn gedrückt schloss sie die Augen, als könnte sie ihrem Gehirn auf diese Weise befehlen, den gesuchten Begriff zu rekonstruieren. „Mi... Nein. Me-ridi-an. Stimmt, das war es. Meridian. Sie liegt an Pier 9.“ „Die Meridian? Ist nicht wahr!“ Mateo fing an zu lachen. „Also, wenn das kein Schicksal ist.“ „Wieso?“ „Zufällig kenne ich jemanden, der auf der Meridian arbeitet“, lüftete er das Geheimnis, während er sich in den Verkehr einfädelte. Leonore konnte ihn einen Moment lang nur sprachlos ansehen, dann schlug die volle Tragweite seiner Eröffnung in ihrem Verstand ein. Hektisch packte sie seinen Arm. „Wer ist es? Würde derjenige uns helfen? Könnte ich mich dadurch für eine Weile an Bord aufhalten?“ Sie schaffte es kaum, die Hoffnung zu bremsen, die in ihrem Innern zu sprießen begann. Vielleicht würde es ihr dieses Mal gelingen, Mr Ich-lassmich-ständig-verleugnen festzunageln. Mateo musste bei ihrem Eifer gleich wieder lachen. „Sie heißt Georgina Stevens und ist mit meinem Kollegen von der Autowerkstatt verlobt.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube, sie weiß überhaupt nicht, wer ihren Lohn bezahlt, ansonsten hätte sie mich schon längst informiert. Sie ist im Bilde © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 über das, was Cole mit eurem Gemüseladen treibt, deshalb hilft sie uns bestimmt.“ „Welche Stellung hat Georgina denn auf der Yacht?“ Leonore schnitt eine Grimasse. „Sag jetzt bitte nicht: Hostess.“ „No, keine Sorge.“ Mateos Grinsen wurde immer breiter. „Sie ist Kellnerin.“ „Das ist ja geradezu perfekt.“ Leonore konnte ihr Glück kaum fassen. Mateo bog in die Straße von Leonores Wohnung ein. „Wir rufen sie am besten gleich an. Schließlich haben wir nicht mehr viel Zeit.“ Ohne zu zögern schnappte sich Leonore ihre Handtasche und suchte den Hausschlüssel heraus. Einige Tage später griff Leonore mit einem tiefen Atemzug nach einer hellbraunen Flüssigkeit und gab mehrere Tropfen davon auf den Kamm. Geschickt fächerte sie die falsche Farbe durch einige Strähnen und verlieh ihrem schwarzen Haar so einen erheblich helleren Touch. Dass sich die Farbe mit ganz gewöhnlichem Wasser wieder auswaschen ließ, würde niemand bemerken. Als Nächstes griff sie nach der Kleidung, die Mateo ihr gebracht hatte. Sie schlüpfte in die weiße Bluse und eine lange dunkelrote Hosen. Als sie die knappe, farblich dazu passende Weste über ihrem Busen schloss, hatte Leonore das Gefühl, sich für einen Krieg zu rüsten. Und in gewisser Weise war es ja auch so, selbst wenn nur sie allein den Kriegsschauplatz kannte. Weil sie an Bord einer Yacht arbeiten würde, wählte sie flache Sandalen, dann setzte sie sich die Brille auf die Nase. Das robuste Gestell enthielt nur minimal getöntes © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 Fensterglas, veränderte aber effektiv die Konturen ihres Gesichts und den Grünton ihrer Augen. Es war ratsam, wenigstens ein Minimum an Tarnung zu wählen, schließlich konnte sie nicht sicher sein, ob Nathan Cole vielleicht über ihr Aussehen Bescheid wusste. Zu guter Letzt band Leonore ihr inzwischen getrocknetes Haar zu einem ordentlichen Knoten. Kritisch betrachtete sie das Ergebnis im Spiegel. Sie sah total verändert aus. Nicht nur der Brille und der braunen Strähnen wegen, sondern vor allem durch die ungewohnt strenge Frisur. Die biedere Note passte so wenig zu ihrem üblichen Stil, dass sie zufrieden nickte. Am Hafen angekommen stieg Leonore aus dem Bus und marschierte zum Hauptsteg. Leicht nervös zog sie Mateos Notiz aus der Hosentasche und überflog nochmals seine krakelige Handschrift: Pier 9, Ausleger 23 A, Anlegeplatz 10. Sie beäugte die säuberlich aufgereihten Yachten, die in den Hafenwellen träge im Wasser schaukelten, und wählte dann den Landungssteg zu ihrer Linken. Je näher Leonore ihrem Ziel entgegensteuerte, desto größer und luxuriöser wuchsen die weißen Aufbauten der Yachten in den kobaltblauen Himmel. Zwei Hafenarbeiter sahen von ihren Reparaturarbeiten an einem Polder auf, als sie an ihnen vorbeiging. Offenbar genügte der Anblick ihres Kellnerinnendress, um sie als eine der ihren zu identifizieren, denn sie grüßten nur kurz und widmeten sich dann wieder ihrer Aufgabe. Leonore las im Vorbeigehen die mit blauer Farbe auf den Beton gepinselten Liegeplatznummern. Aber im Grunde hätte sie sich die Suche © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 sparen und direkt auf den schwimmenden Palast am Ende des Anlegers zugehen können. Die Yacht am Liegeplatz mit der Nummer zehn dominierte die Reihe wie ein König seine Untertanen. Allein schon durch ihre Größe von geschätzten vierzig Metern ließ diese Yacht die in ihrer Umgebung ankernden Boote wie Nussschalen wirken. Leonore blickte an dem blendend weißen Bug empor. Bereits von hier unten konnte man erkennen, welch kostspielige Ausstattung die Yacht besaß. Allerlei technische Spielereien zierten die Flybridge, von der Einrichtung im Inneren sicher ganz zu schweigen. Das gesamte Schiff musste ein Vermögen gekostet haben. Leonore schob Mateos Zettel mit zusammengepressten Lippen in die Hosentasche zurück. Dieser Kahn passte exakt zu dem Bild, das sie von Nathan Cole hatte. Die Superlative waren gerade gut genug, wenn es nach diesem Mann ging. Sie zögerte trotzdem, bevor sie einen Fuß auf die Gangway setzte. Es schien fast, als stünde sie hier an einer Schwelle, nach der es kein Zurück mehr gab. Jetzt, im Angesicht dieser gigantischen Yacht, wirkte ihr Vorhaben plötzlich so unrealisierbar wie eine Reise zum Jupiter. Tief durchatmend rief sich Leonore noch einmal all die Gründe ins Gedächtnis, die sie hierher geführt hatten. Nach einem beherzten Ruck ihrer Schultern schloss sie die Finger um das chromglänzende Geländer und betrat den Steg. „Hey, Jackson!“, rief plötzlich jemand schräg hinter ihr. Vor Schreck hüpfte Leonore fast ins Hafenbecken. „Oh, bitte entschuldigen Sie“, sagte der grauhaarige Mann hinter ihr, dessen Eintreffen ihr vollkommen entgangen war. „Ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber dieser Jackson © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 scheint wieder auf seinen Ohren zu sitzen.“ Er grinste sie an und enthüllte dabei mehrere Zahnlücken. Nicht nur er, dachte Leonore und ignorierte das Zittern ihrer Knie. „Kein Problem“, murmelte sie laut, ebenfalls lächelnd, obwohl sie sich am liebsten selbst in den Hintern getreten hätte. Wenn sie sich schon zu Beginn derart unprofessionell benahm, konnte sie die ganze Sache gleich abblasen. Resolut strich sie sich über die Weste und trat zur Seite, damit der Mann seine Ware an Bord bringen konnte. Als er den voll beladenen Sackkarren an ihr vorbeiwuchtete, erhaschte sie einen Blick auf das Etikett der obersten Holzkiste. Man musste kein Russisch sprechen, um erkennen zu können, dass es sich bei dem Inhalt um importierten Kaviar handelte. Russischer Kaviar in solch verschwenderischen Mengen ... Leonore schürzte missbilligend die Lippen. Diese Unmenge an Kisten demonstrierte deutlich, welche Geringschätzung Nathan Cole Dingen entgegenbrachte. Dieselbe Geringschätzung, die er auch für arbeitende Menschen übrig hatte. Der Gedanke, dass er ihre Großmutter und sie wahrscheinlich nur als lästige Mücken betrachtete, die man problemlos von der Bildfläche schnippen konnte, ließ heiße Wut durch Leonores Adern sprudeln. Mit neuer Entschlossenheit packte sie das Geländer und folgte dem Lieferanten die Gangway hinauf. Ein Mann mittleren Alters in einer typischen Marineuniform bemerkte sie, sobald sie das polierte Mahagonideck betrat. Er nahm ein Klappbord von der Reling und kam auf sie zu. Die Falten in seinem wettergegerbten Gesicht vertieften sich zu einem Lächeln, als er ihre Kleidung sah. Freundlich © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 streckte er ihr seine Hand entgegen. „Sie müssen die Vertretung für Georgina Stevens sein.“ Unauffällig spähte er auf sein Klappboard. „Lena Foster, richtig?“, sprach er sie mit ihrem falschen Namen an. Leonore wappnete sich innerlich für ihre Mission, setzte ebenfalls ein strahlendes Lächeln auf und ergriff die Hand des Mannes. „Hallo.“ „Ich bin Arthur Stafford, der Kapitän der Meridian. Schön, dass Sie so schnell für Georgina einspringen konnten, Ms Foster. Wir haben heute Abend eine Menge Gäste an Bord, und da können wir jede helfende Hand gebrauchen.“ „Bitte, nennen Sie mich doch Lena.“ Leonore war froh, dass sie und Mateo sich auf einen Namen geeinigt hatten, der zumindest eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem eigenen besaß. Es wäre mehr als peinlich gewesen, wenn sie nicht darauf reagierte, sollte sie jemand rufen. „Schön, dann also Lena. Georgina erwähnte, Sie hätten schon reichlich Erfahrung als Kellnerin?“ „Ja, das stimmt. Ich habe schon in Deutschland und in der Schweiz im Grandhotel Steigenberger gearbeitet.“ Dass diese Grandhotels noch nie etwas von einer Lena Foster gesehen oder gehört hatten, konnte der Mann ja nicht wissen. Und selbst wenn er es später nachprüfen würde, wäre sie längst verschwunden, bevor er sie damit konfrontieren konnte. Unter anderen Umständen hätte sich Leonore geschämt, dem Mann derart dreiste Lügen aufzutischen. Unter Umständen, die nicht mit Nathan Cole einhergingen ... „Das ist ja wunderbar. Dann ist es ja ein richtiger Glücksfall, Sie heute Abend hierzuhaben.“ Stafford schien so ehrlich erfreut, dass Leonore ein Hauch von Skrupel packte. © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 Hastig wischte sie die Empfindung beiseite. Sie hatte gewusst, dass es nicht einfach werden würde. Besser sie verstaute ihre Moral für die nächsten Stunden im Andreasgraben, genau neben der von Nathan Cole. Bemüht, ihr freundliches Lächeln zu halten, hörte sie dem Kapitän zu, während er ihr die grobe Aufteilung der Yacht erläuterte. Ihre Aufmerksamkeit driftete kurz ab, weil sie einen großen, dunkelhaarigen Südländer am Ausgang der Kombüse erspähte. Eigentlich war sie nicht überrascht gewesen, als Mateo ihr eröffnet hatte, dass er sich zu ihrer Unterstützung ebenfalls an Bord der Yacht mogeln würde. Der Begriff „unmöglich“ schien im Wortschatz ihres kubanischen Freunds nicht zu existieren. Unauffällig winkte Leonore ihm zu. Die letzten Sorgen, die sie sich über ihre Tarnung gemacht hatte, zerstoben, als sie seine entgeisterte Miene sah. Schmunzelnd wartete sie, bis Arthur Stafford seine Einführung beendet und sich verabschiedet hatte, dann marschierte sie auf Mateo zu. „Hallo.“ „Selber hallo.“ Langsam ließ er den Blick über sie schweifen. „Die Nickelbrille ist der Hammer. Hat dir eigentlich schon jemand gesagt, dass es Japaner gibt, die total auf solche Outfits abfahren?“ Leonore stemmte gespielt entrüstet die Arme in die Hüften. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass es unhöflich ist, derart schmierige Ansagen zu machen?“ Er grinste frech. „Nicht, wenn es um meine beste Freundin geht.“ Neugierig befühlte er ihre Haare. „Du siehst total verändert aus.“ „Danke. Das muss nur halten, bis ich Nathan Cole gegenübertreten kann.“ Leonore blickte sich um. „Hast du ihn © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 schon gesehen?“ „No.“ Mateo lehnte sich gewohnt lässig gegen einen Lüftungsschacht. „Er wird erst gegen zwanzig Uhr eintreffen, schätze ich.“ „Und was machen wir bis dahin?“ Er zuckte die Schultern. „Arbeiten?“ Mateos Vermutung hatte ins Schwarze getroffen. Leonore biss die Zähne zusammen, als Nathan Cole kurz nach zwanzig Uhr lockeren Schrittes die Gangway hinaufspazierte. Da war er, der Mann, der alles bedrohte, was ihr lieb und teuer war. Leonore versuchte mit aller Macht, sich nicht sofort auf ihren Erzfeind zu stürzen, während er in nicht einmal drei Metern Abstand an Bord der Yacht trat. Trotzdem machte sie unwillkürlich einen Schritt auf ihn zu. Mateo schien zu ahnen, was in ihr vorging, denn seine Finger legten sich wie Eisenbänder um ihren Arm. Mühsam zimmerte Leonore ein Lächeln in ihr Gesicht und entspannte ihre Muskulatur. Genau im richtigen Moment, denn in dieser Sekunde schaute Nathan Cole in Richtung der Belegschaft. Leonore schluckte. Keinesfalls wollte sie auffallen, indem sie ihm mit mordlüsterner Miene entgegenstarrte. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sein Blick ihren kreuzte. Einige Sekunden lang schaute sie in betörend blaue Augen, die, von dichten Wimpern umschattet, zu einem markant geschnittenen Gesicht gehörten. Widerwillig musste Leonore einräumen, dass sie in natura nachvollziehen konnte, warum viele Frauen ihn so attraktiv fanden. Natürlich nur, wenn man seinen miesen Charakter außer Acht ließ. Bei dem Gedanken an das, was er ihr und ihrer Gran antun wollte, © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 schäumte neue Ablehnung in ihr hoch. Glücklicherweise unterbrach Nathan Cole den Blickkontakt als Erster, drehte sich weg und schüttelte die Hand des Kapitäns, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Leonore lauschte angestrengt, konnte aber nicht verstehen, was die beiden sagten. Beherrscht widerstand sie dem Impuls, die falsche Brille zurechtzurücken. Die Sorge, er könnte den Kapitän zu ihrer Person befragen, drückte wie eine Faust in ihren Magen. Offenbar völlig unbegründet, denn die beiden unternahmen keinerlei Anstalten, zu ihr zu kommen, stattdessen verschwanden sie durch die Glasschiebetüren des Mitteldecks. „So weit, so gut“, flüsterte Mateo neben ihr. „Die Feuertaufe haben wir überstanden. Ich glaube nicht, dass er dich erkannt hat, Leo.“ „Ich hätte nicht gedacht, dass du seinem Wunsch nachkommst, Gabe.“ Blair nippte an ihrem Champagner. Gabriel ließ sich auf einem Absatz in der Bordwand nieder. Beide Hände in den Hosentaschen vergraben, schaute er übers Meer. „Wir haben heute Geburtstag. Das ist mein Geschenk an Nathan. Außerdem wollte ich ihn mal wieder sehen.“ Er lächelte ihr zu. „Und dich auch.“ Blair nickte bedächtig. „Du kommst viel zu selten zu Besuch. Seit du vor drei Monaten aus Afghanistan zurückgekehrt bist, warst du praktisch nur in New York und hast gearbeitet.“ Sie hob rasch die Hand, als Gabriel den Mund öffnete. „Und erzähl mir jetzt nicht, dein Arbeitspensum sei schuld daran. Das hat dich früher auch nie abgehalten, nach Miami zu reisen.“ Sie setzte sich direkt neben ihn und betrachtete den © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 verschlossenen Ausdruck in seinen Augen. „Du meidest Nate und mich. Aber die Sache totzuschweigen macht es nicht leichter. Ich finde, du solltest dich jemandem öffnen. Vielleicht kö...“ „Nein!“ Gabriel fuhr derart abrupt in die Höhe, dass Blair fast ihr Glas hätte fallen lassen. Sie vergaß immer wieder, wie schnell sich ihr Bruder bewegen konnte. Das lag einerseits an seiner Ausbildung, vor allem aber an den tragischen Erlebnissen in Afghanistan, über die zu sprechen er sich so beharrlich weigerte. Gabriel bemerkte offenbar ihre erschrockene Miene, denn er berührte ihren Rücken, als sie das Glas abstellte. „Tut mir leid, Blair. Ich wollte dich nicht anfahren.“ Er ließ die Hand von ihr wegrutschen, ballte sie dann zur Faust. „Was passiert ist, ist allein meine Schuld. Ich will damit weder dir noch sonst irgendwem zur Last fallen.“ Blairs Lippen pressten sich zu einem schmalen Strich zusammen. Diesen Satz hatte sie schon oft gehört. Zu oft. Fahrig stand sie ebenfalls auf, umfasste seinen kräftigen Unterarm und drehte ihn, bis die vernarbten Kratzer sichtbar wurden, die dort in feinen Linien seine Haut durchzogen. „Das Einzige, das mich belastet, ist die Ursache von dem hier.“ Sie zeigte auf die Schrammen. „Und das, was es mit dir gemacht hat. Dass du dich Nate nicht anvertrauen möchtest, kann ich ja noch nachvollziehen. Aber mir?“ Sie verkrampfte sich, sobald sie das traurige Lächeln sah, mit dem ihr Bruder auf ihre Worte reagierte. Am liebsten wäre sie schreiend auf ihn losgegangen – hätte das etwas genutzt. Egal, was sie tat, es wollte ihr einfach nicht gelingen, den emotionalen Panzer zu durchbrechen, den er um sich errichtet © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 hatte. Gabriel spürte ihren Kummer, konnte ihre Bitte aber beim besten Willen nicht erfüllen. Die Dinge waren, wie sie waren. Es gab nichts, was daran etwas ändern konnte. Niemand hatte die Macht, die Zeit zurückzudrehen, nicht einmal seine geliebte Schwester, auch wenn sie den Versuch partout nicht aufgeben wollte. Behutsam löste er seinen Arm aus ihrem Griff. „Ich weiß, dass du dir Sorgen machst. Aber bitte versteh mich. Ich kann euch in diesen Albtraum nicht noch weiter mit reinziehen. Schlimm genug, dass ihr überhaupt davon erfahren habt.“ Blair strich resigniert über ihre geflochtenen Haare. Dabei senkte sie den Blick, aber Gabriel sah die Tränen in ihren Augen trotzdem. Vorsichtig umfasste er mit beiden Händen ihr Gesicht und hob es an, bis sie zu ihm aufschaute. „Es tut mir leid. Ich wünschte, das alles wäre nie passiert. So viele Menschen sind ...“ Er stockte, wollte noch etwas sagen, brachte aber plötzlich keinen Ton mehr raus. „Ist schon gut.“ Blair schlang die Arme um seine Taille und lehnte sich an ihn. „Ich liebe dich, Gabe.“ Gabriel schloss gerührt die Augen, während er sie ebenfalls festhielt. „Dito“, murmelte er zärtlich, das Kinn auf ihren nussbraunen Scheitel gestützt. Einen Moment lang standen sie umschlungen da, dann lösten sie sich langsam voneinander. Blair schluckte sichtlich, ehe sie sich zu dem © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 Bediensteten umdrehte, der diskret einige Meter hinter ihnen an Deck getreten war. „Ja, Mr Simmons?“ Der Mann räusperte sich. „Ich wollte Sie nicht stören, aber die Gäste möchten gern einen Toast auf ihren Gastgeber ausbringen.“ „Wir kommen.“ Gabriel bot seiner Schwester galant den Arm. „Wollen wir?“ Sich bei ihm einhakend griff Blair wieder nach ihrem Glas. „Showtime.“ Leonore betrachtete vom anderen Ende des Schiffdecks aus, wie Blair und Nathan Cole einen Trinkspruch nach dem anderen entgegennahmen. Als sich die Geschwister zulächelten, runzelte sie die Stirn. „Was ist?“ Mateo biss in eines der winzigen Kanapees, das er frech von ihrem Tablett stibitzt hatte. „Blair Cole scheint nett zu sein“, überlegte Leonore laut und stoppte Mateo, ehe dieser nach dem nächsten Happen greifen konnte. „Sie hat einen positiven Einfluss auf ihren Bruder. So freundlich wie heute Abend habe ich Nathan Cole noch nie erlebt.“ „Sei froh. Das kann für deinen Plan ja nur von Vorteil sein. Wann wirst du es versuchen?“ Mateos Blick glitt anerkennend über Blair Coles grünes Abendkleid. Sicher zum zehnten Mal an diesem Abend. Trotz ihrer Nervosität musste Leonore lächeln. Mateo bewunderte die bildhübsche Brünette schon seit Jahren, aber so nah wie heute war er ihr noch nie gekommen. „Ich werde ihn abpassen, sobald sich eine Gelegenheit ergibt.“ Leider ergab sich die in den nächsten Stunden nicht mal © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 ansatzweise. Selbst als sich Blair Cole von ihrem Bruder entfernt hatte, war dieser ständig von Leuten umringt. Leonore konnte gar nicht mehr zählen, wie viele Tabletts mit Kanapees und Cocktails sie in seine Richtung getragen hatte, ohne dass sie ihn jemals frei zu sehen bekam. Anscheinend hatten sich seine Gäste in den Kopf gesetzt, ihn den ganzen Abend in Beschlag zu nehmen. Frustriert beklagte sie sich bei Mateo, als dieser zufällig auf dem Weg zum Unterdeck an ihr vorbeilief. Aufmunternd drückte er ihren Arm. „Nur Geduld. Es ist erst kurz vor Mitternacht. Die Party wird noch stundenlang weitergehen. Das klappt schon noch.“ Dass Mateos Optimismus möglicherweise angebracht war, erkannte Leonore wenige Minuten später, als sich Nathan Cole bei seiner Gesprächspartnerin entschuldigte und auf die hintere Treppe zum Mitteldeck zusteuerte. Nur wenige Schritte, dann war er aus ihrem Blickfeld verschwunden. Unentschlossen starrte sie ihm nach. Was, wenn er sich dort unten zu einem Stelldichein verabredet hatte ... In diesem Fall wäre es äußerst unklug, ihn zu stören. Schlechter konnte ein Gespräch wahrlich nicht beginnen. Und wenn schon? Leonore schob das Kinn vor. Immer noch besser als nie! Sie atmete tief durch, schnappte sich ein neues Tablett und bahnte sich zielstrebig einen Weg durch die Gästeschar. Obwohl es nur drei Minuten dauerte, bis Leonore die Treppe zum Mitteldeck erreichte, kam es ihr vor wie Stunden. Im Stillen betete sie, dass sie nicht die Aufmerksamkeit des Wachpersonals erregt hatte, indem sie wie ein Bulldozer © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 durch die Menge pflügte. Diesen Männern würde sie wirklich nur sehr ungern erklären müssen, warum sie es so eilig hatte. Leicht außer Atem tastete sie sich, das Tablett auf einer Hand balancierend, die steilen Stufen zum Mitteldeck hinunter. Inzwischen hatte sie keinen Zweifel mehr: Wenn es je eine Chance gab, Nathan Cole ungestört sprechen zu können, dann war es diese. Sie erspähte ihn am Heck. Allein, Gott sei Dank. Beide Unterarme auf die Reling gestützt, starrte er in das dunkle Wasser, das von den Schrauben aufgeschäumt wurde. Die Brise zerzauste die Spitzen seiner kastanienbraunen Haare, und er hatte das Hemd leger aufgekrempelt. Obwohl es kurz vor Mitternacht war, schien er nicht die Absicht zu haben, sich bald wieder unter das ausgelassene Treiben einen Stock höher zu mischen. „Ähem“, machte Leonore auf sich aufmerksam. „Darf ich Ihnen noch etwas anbieten. Mr Cole?“ Er neigte den Kopf, jedoch ohne sich zu ihr umzudrehen. „Nein, ich möchte nichts. Danke.“ Leonore legte beide Hände unter das schwere Tablett, bevor sie es vor Nervosität noch fallen lassen würde. Seine Stimme verblüffte sie. Aus der Nähe klang sie weit tiefer und samtiger, als sie vermutet hatte. Wäre er ihr nicht so verhasst gewesen, hätte sie das warme Timbre wahrscheinlich anziehend gefunden. Resolut wischte Leonore die seltsame Vorstellung beiseite. Sie hatte nicht all diesen Aufwand betrieben, um andächtig seiner Stimme zu lauschen. Obwohl ihre Knie zu zittern begannen, nahm sie die Brille ab, stellte das Tablett auf © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 eine Bank und stakste auf ihn zu. Sie spürte, dass seine Haltung mit jedem Meter, den sie sich ihm näherte, an Wachsamkeit gewann. Trotzdem drehte er sich ohne Eile zu ihr um. Die Hände weiterhin rechts und links an die Reling gelegt, sah er sie an. Leonore schluckte, weil sie ihm nun erstmals von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Jetzt, so direkt vor ihr, wirkte er größer, kantiger und hagerer, als sie vermutet hatte. Der Wind spielte ihr einen angenehm würzigen Duft nach Sommerregen zu, der eindeutig von ihm stammte. Ihr Blick streifte einen Herzschlag lang seine Augen und blieb an dem sinnlich geschwungenen Mund hängen. Sein Schweigen irritierte sie. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass er sie fragen würde, warum sie hier noch herumstand, oder vielleicht sogar einen patzigen Befehl gab, doch er tat nichts dergleichen, blickte sie einfach nur an und wartete. Leonor reckte beherzt das Kinn. Nun war er gekommen, der Moment, auf den sie wochenlang hingearbeitet hatte. Sie würde Nathan Cole zur Rede stellen. Und zwar richtig, unumwunden – und am besten so, dass ihre Großmutter einen Vorteil davon hatte. „Mr Cole“, setzte sie selbstbewusster an, als sie sich fühlte, und holte Luft. Durch ihren Kopf ratterte die Ansprache, die sie schätzungsweise hundertmal geprobt hatte, doch die Worte wollten einfach nicht ihre Lippen verlassen. Statt etwas zu sagen, keuchte sie nur. Einmal, zweimal. Leonore klappte bestürzt den Mund zu. Nun red schon, dumme Kuh!, schalt sie sich innerlich. Sie klappte den Mund wieder auf, doch es half nichts. Sie konnte die Worte einfach nicht formulieren. Auf ihn musste das wirken, als würde sie einen Fisch auf dem Trockenen © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 imitieren. Leonore rechnete damit, dass er jeden Moment das Interesse verlieren oder, noch schlimmer, in Gelächter ausbrechen würde. „Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen, Miss?“, erkundigte er sich stattdessen freundlich. Leonore lockerte die Schultern, und plötzlich funktionierte es: „Mein Name ist Leonore Danner, Mr Cole. Ich bin die Enkelin von Theresia Danner. Und ich bin hier, um mit Ihnen über die Kündigung eines Kredits zu sprechen. Meine Großmutter ist Eigentümerin des Grundstücks ...“ Lautes Zischen, gefolgt von vielfältigem Krachen über ihren Köpfen, überlagerte den Rest ihres Satzes. Verwundert sah Leonore nach oben. Sie brauchte eine Sekunde, ehe sie begriff, dass es sich um ein Feuerwerk handelte. Nathan Cole bekam offenbar ebenfalls einen Schreck, denn Leonore konnte regelrecht mitverfolgen, wie er erst die Augen zusammenkniff und dann die Arme vors Gesicht riss. Als die nächste Rakete explodierte, zuckte er zurück, fast so, als hätte diese nicht den Himmel getroffen, sondern ihn. Er schwankte und gab ein ersticktes Gurgeln von sich. Irritiert machte sie einen Schritt auf ihn zu. „Mr Cole?“ Der nächste Böller krachte. Diesmal fuhr er derart zusammen, dass er mit voller Wucht gegen die Reling prallte. Er taumelte seitwärts, und bevor Leonore überhaupt einordnen konnte, was sich vor ihren Augen abspielte, purzelte Nathan Cole die Treppe zum Wasser hinunter. „Halt!“ Mit einem flinken Satz sprang sie nach vorne, doch er war bereits über Bord gegangen. Hastig blickte sie über die Bordwand. Sie sah ihn im Meer strampeln, aber die Bewegungen hatten weniger mit Schwimmen als vielmehr mit © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 wildem Um-sich-Schlagen zu tun. Leonore begriff, dass er unverzüglich Hilfe brauchte. Mateo arbeitete irgendwo auf Deck. Bis sie ihn überhaupt erst gefunden hatte, würde Nathan Cole längst ertrunken sein. Fluchend verwarf sie auch den Gedanken, wenigstens die Sandalen von ihren Füßen zu streifen. Stattdessen hetzte sie geistesgegenwärtig zu einem Rettungsring, der drei Meter entfernt an einem Haken hing. Ohne stehen zu bleiben, wirbelte sie herum und schleuderte ihn ins Meer, dann sprang sie kurz entschlossen hinterher. Ihr Herz machte einen schnellen Satz, als sie mit den Füßen voran ins kalte Wasser tauchte. Der Ozean hieß sie wie ein schwarzes Tintenfass willkommen. Leonore konnte nichts erkennen, fast sofort zog ihre vollgesogene Kleidung sie in die Tiefe. Luftblasen blubberten um sie herum und nahmen ihr für einen Moment die Orientierung. Trotzdem arbeitete sie sich mit kräftigen Schwimmbewegungen wieder an die Oberfläche. Sobald ihr Kopf durch die Wellen brach, sah sie sich nach Nathan Cole um. Er trieb nicht weit von ihr. Seine Arme bewegten sich kaum noch, wirkten wie gelähmt. Leonore hatte keinen Zweifel, dass es nur noch eine Frage von Sekunden war, bis er endgültig abtauchte. Hastig kraulte sie auf ihn zu. Sie erreichte ihn in dem Moment, in dem sein Kopf unter die Oberfläche sank. Keuchend fasste sie ihn am Hemdkragen und zerrte ihn wieder in die Höhe. Sein regloser Körper rempelte gegen sie, Wasser schwappte über ihr Gesicht und drang in ihre Luftröhre. Hustend kämpfte Leonore darum, dass sie nicht beide ertranken. Nathan Coles bewegungsloser Körper schien eine Tonne zu wiegen. Ächzend krallte sie die Finger in seine Kleidung. Eine neue Welle brach sich an © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015 ihnen, und um ein Haar hätte sie ihn wieder verloren. Nur dem in Griffweite schwimmenden Rettungsring war es zu verdanken, dass sie sich über Wasser halten konnte. Nach Luft schnappend wickelte sie die Beine um Nathan Coles Flanken, damit sie sich mit beiden Armen an den Plastikring klammern konnte. Erst als sich Leonore das Wasser aus den Augen gewischt hatte, wurde ihr bewusst, dass die Yacht ungebremst weiterfuhr. ENDE DER LESEPROBE Ebook ab 05.11.2015 http://www.egmont-lyx.de/buch/allein-mit-dem-feind/ Bewerben für die Leserunde bis 29.10.2015 http://www.lovelybooks.de/autor/Alexandra-StefanieH%C3%B6ll/Allein-mit-dem-Feind-1167450067t/leserunde/1200127129/ Start der Leserunde am 31.10.2015 © Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015
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