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Zu diesem Buch:
Wie gut kennst du deinen Feind?
Sobald Leonore Danner den Namen Nathan Cole nur hört, sieht
sie rot. Denn er ist der Grund, weshalb ihre Großmutter bald
ihren geliebten Lebensmittelladen in Miami verkaufen muss.
Fest entschlossen, dies abzuwenden, schmuggelt sich Leonore
an Bord seiner Luxusyacht. Doch bevor sie die Sache mit
ihrem Erzfeind klären kann, geschieht ein Unfall und beide
landen im Meer. Mit nichts als ihren Kleidern am Leib,
stranden sie auf einer einsamen Bahama-Insel. Von diesem
Zeitpunkt an kämpfen sie ums Überleben, denn die Insel hält
so manche Überraschung bereit – genau wie Nathan Cole …
© Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015
Impressum
E-Book-Originalausgabe November 2015 bei LYX
verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH,
Gertrudenstraße 30–36, 50 667 Köln
Copyright © 2015 bei EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: © Guter Punkt, München | www.guterpunkt.de
Umschlagmotiv: © Guter Punkt unter Verwendung von Motiven
von thinkstock und istock
Redaktion: Catherine Beck
Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN: 978-3-7363-0090-3
www.egmont-lyx.de
http://www.egmont-lyx.de/buch/allein-mit-dem-feind/
© Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015
1. Kapitel
„Nein!“ Leonore Danner knallte den Regenschirm auf die
Theke. „Nein, nein, nein!“ Rumms. Rumms. Rumms. „Das werde
ich nicht zulassen, hörst du, Gran?“
Theresia Danner holte Luft. „Ich weiß nicht, was wir
dagegen tun können, Liebes.“ Ratlos senkte sie den Blick auf
den Brief in ihrer Hand.
Leonore pflückte ihn aus den Fingern ihrer Großmutter und
überflog die wenigen Zeilen mit gerunzelter Stirn. „Das
werde ich nicht zulassen“, wiederholte sie und versuchte zu
ignorieren, wie ihre Unterlippe dabei zu zittern begann.
Schlimmer hätte ihr die bittere Realität gar nicht ins
Gesicht springen können. Dafür genügten diese schlichten
Buchstaben. Leonore hatte gewusst, dass sie mit den
Darlehensraten für den Gemüseladen ihrer Großmutter im
Rückstand waren. Ein wenig ... gut, zwei Monate – aber das
konnte doch noch lange kein Grund für die Bank sein, gleich
mit einer Versteigerung des Grundstücks zu drohen. Hatten
sie nicht jahrelang pünktlich bezahlt?
Angespannt legte sie den Brief und den leicht verbogenen
Regenschirm auf der Theke ab, bevor sie sich auf einen der
niedrigen Gemüsetische direkt daneben setzte. Genau wie die
restliche Einrichtung bestand auch er aus robustem Holz, was
dem Gemüseladen ein naturnahes, fast mediterranes Flair
verlieh. Ein ungewöhnliches Kleinod inmitten von Downtown
Miami.
Ihre Großmutter nahm ebenfalls Platz. „Dass uns gleich
drei Lieferungen mit Früchten verderben, war einfach Pech,
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Leo. Solche Dinge passieren.“ Zärtlich wischte sie ihrer
Enkelin die rabenschwarzen Haare aus dem Gesicht.
Leonores Kopf ruckte herum. „Pech! Pech?“ Sie stieß ein
abfälliges Schnauben aus, Wut in den Augen. „Wohl eher
Nathan Cole. Würde mich nicht wundern, wenn dieser fiese
Mistkerl auch noch dahintersteckt. Der hat seine schmierigen
Finger doch überall.“
„Jetzt übertreibst du aber, Leo“, tadelte ihre Großmutter.
„Wie sollte Mr Cole denn so etwas bewerkstelligen?“
„Ich weiß nicht, Grandma. Irgendwie.“ Aufgebracht sprang
Leonore wieder auf die Füße und wanderte über den
blitzsauberen Steinboden des Ladens. „Seit ich
herausgefunden habe, dass er mit dem Vorstand unserer Bank
jede Woche Golf spielt, wundert mich gar nichts mehr. Der
Mann sieht nicht nur aus wie der Teufel ... er benimmt sich
auch so.“ Sie ballte die Hände zu Fäusten.
Seufzend rieb sich ihre Großmutter die betagten Knie. „Er
ist jung und erfolgreich. Da kümmert es ihn wenig, was mit
einem kleinen Gemüseladen wie unserem passiert.“
Leonore biss die Zähne aufeinander. „So jung ist er nun
auch nicht mehr, Gran. Er ist vier Jahre älter als ich, und
ich bin immerhin schon achtundzwanzig. In unserem Alter ist
einem sehr wohl bewusst, was ,unter die Gürtellinie tretenʽ
heißt. Aber dafür interessiert sich Mr Superreich-Cole ja
nicht. Der denkt nur an sein neues Businessgebäude.“
Sie beäugte den Regenschirm, weil sie gute Lust hatte,
damit den dunkelbraunen Haarschopf ihres Widersachers zu
bearbeiten. Vielleicht würde sie das auch tun – sollte sie
es je schaffen, ihm persönlich zu begegnen. Etwas, das ihr
trotz aller Versuche bisher nicht vergönnt gewesen war.
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Unwirsch kreuzte Leonore die Arme vor der Brust. „Ich habe
noch nie einen Menschen gesehen, der derart über Leichen
geht wie dieser Schickimicki-Arsch.“
Die Türklingel bimmelte, und Leonore und ihre Großmutter
blickten sich gleichzeitig um. Eine junge Mutter mit
Kinderwagen betrat den Laden. Sie gehörte zu ihrem doch
recht beachtlichen Kundenstamm und kaufte regelmäßig bei
ihnen ein. Leonore spürte einen Stich ins Herz. Sie wollte
ihrer Kundschaft nicht sagen müssen, dass ihr Lieblingsladen
für immer die Pforten schließen würde, nur weil sie nicht
fähig gewesen wäre, einem skrupellosen Schönling die Stirn
zu bieten. Ihr Kinn versteifte sich. So weit würde es nicht
kommen. Das würde sie zu verhindern wissen, und wenn sie bis
zu ihrem letzten Atemzug dafür kämpfen müsste!
Beherzt straffte sie die Schultern und wischte dabei mit
dem Handrücken die Mahnung von der Theke. Sie flatterte in
einem Bogen abwärts und landete in einer Kiste mit Melonen,
die hinter der Theke auf die Preisauszeichnung warteten.
Obwohl Leonore bemerkte, dass ihre Großmutter ob des
fahrlässigen Umgangs mit dem Schriftstück eine weiße
Augenbraue lüftete, schritt sie lächelnd ihrer Kundin
entgegen. „Hallo, Mrs Farrell. Wie geht es Ivy denn heute?“
Sie kitzelte das Baby im Kinderwagen am Bauch und erntete
ein breites Grienen. „Hat sich ihr Husten wieder gebessert?“
„Oh ja, zum Glück.“ Mrs Farrell ergriff Leonores Hand.
„Vielen Dank für Ihren Tipp mit dem Kandis-Zwiebelsaft. Das
hat wirklich schnell geholfen.“
Leonore strahlte. „Das freut mich zu hören. Es ist ein
Rezept meiner Großmutter.“
„Das stimmt“, bestätigte die. „Und ich habe es wiederum
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von meiner Großmutter erfahren.“ Theresia Danner verschwand
kurz im Lager und kehrte dann mit einer prall gefüllten
Papiertüte zurück. „Manchmal sind die alten Hausmittel eben
die besten.“ Sie reichte der Kundin die Tüte. „Hier, die
Tomaten, die Sie bestellt hatten.“
„Danke. Die sehen ja wieder toll aus. Richtig schön rot
und saftig.“
Leonore nickte lächelnd. „Sie kommen auch direkt aus
Italien. Entschuldigen Sie mich einen Moment.“ Sie wandte
sich der Theke zu, auf der gerade das antike Telefon zu
klingeln begonnen hatte. „Gemüseladen Danner“, meldete sie
sich freundlich.
„Haben Sie eigentlich schon mal darüber nachgedacht, in
einem Callcenter zu arbeiten?“, bekam sie ein freches
Angebot. „Ihre Stimme klingt echt sexy. Ich könnte Ihnen
gleich einen Job besorgen. Für 3,40 die Stunde.“
Leonore musste lachen. „Das ist mir zu billig“, entgegnete
sie Mateo am anderen Ende der Leitung. „Versuch’s mal mit 34
pro Stunde.“
„Das kann ich mir nicht leisten.“ Mateo grunzte gespielt
enttäuscht. „Hallo Leo! Wie sieht’s bei euch aus? Viel los
im Laden?“
„Darüber können wir nicht klagen.“
„Aha. Worüber dann?“ Wie immer war ihr bester Freund
schnell von Begriff.
Leonore machte ein paar Schritte zum Lagerraum hin, damit
sie im Laden nicht zu hören war. „Die Bank hat uns ein
Ultimatum gesetzt. Wenn wir nicht innerhalb von zehn Tagen
die aufgelaufenen Raten zahlen, versteigern sie unser
Grundstück.“
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„¿Qué? Das kann nicht wahr sein! So was ist nie und nimmer
rechtens.“
„Doch“, antwortete Leonore bitter. „Wenn das Recht durch
Nathan Cole ausgelegt wird.“
Mateo gab ein Brummen von sich. „Gegen diesen Mann musst
du endlich was unternehmen. Ich kann da gern was
organisieren. Du weißt, ich kenne gewisse Leute.“
Trotz der prekären Situation entlockte das illegale
Angebot Leonore ein Schmunzeln. Die Worte waren kein leeres
Versprechen. Mateo war Kubaner und hatte lange Zeit in einem
Viertel von Miami gelebt, das die Polizei selbst am Tag nur
ungern betrat. Dadurch pflegte er Kontakte, die Lösungen für
jede noch so verfahrene Situation fanden.
Leonore atmete durch. „Vielleicht komme ich bald darauf
zurück. Ganz sicher sogar, wenn ich weiterhin keinen Termin
bei Mr Cole bekomme. Mit drei Versuchen bin ich schon
gescheitert. Aber so leicht gebe ich nicht auf. Warte mal
einen Moment, Mateo.“ Sie blickte über die Schulter, weil
sie die Stimme ihrer Großmutter hörte. „Ich muss leider
Schluss machen. Gran braucht mich. Die Ananas-Lieferung
scheint endlich gekommen zu sein.“
„Okay, bis bald dann. Wir sehen uns.“
„Ja, bis bald“, verabschiedete sich Leonore, den Blick
bereits auf den Lieferanten gerichtet, der neben ihrer
Großmutter wartete. Seine betretene Miene verursachte ein
flaues Gefühl in ihrer Magengrube. Ohne sich die Unruhe
anmerken zu lassen, ging sie auf den Mann zu. „Hallo, Mr
Bradshaw, haben Sie die Ananas-Lieferung dabei?“
„Ähm, nein. Kann man so nicht sagen.“ Der Lieferant nahm
seine Mütze ab, um sich den stoppeligen Kopf zu kratzen.
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Leonore befiel eine ungute Vorahnung.
„Ich hätte Ihnen die fünf Kisten heute gern gebracht, aber
die Zollbehörde hat die Ware direkt im Hafen von Key
Biscayne konfisziert.“ Er zuckte ratlos die Schultern. „Sie
sagten irgendwas von einer Stichprobeninspektion. Die
Papiere müssen wohl erst durch die U.S. Food and Drug
Administration geprüft werden.“
„Schon wieder die FDA?“ Leonore kniff die Augen schmal.
„Wie lange wird es dauern, die Papiere zu prüfen? Lassen Sie
mich raten. Drei Wochen, so wie beim letzten Mal.“ Sie
begriff erst, welcher Frust in ihrer Stimme mitschwang, als
Theresia eine Hand auf ihren Rücken legte.
„Das kann ich leider nicht sagen, Ms Danner.“ Mr Bradshaw
fühlte sich sichtlich unwohl. „Es tut mir leid, aber ich
glaube nicht, dass die Früchte danach noch ...“
Leonore nickte und riss sich zusammen. „Schon okay. Sie
müssen sich keine Vorwürfe machen. Danke, dass Sie uns
informiert haben.“ Gezwungen lächelnd wartete sie, bis der
Mann den Laden verlassen hatte. Kaum hatte er die Tür hinter
sich geschlossen, marschierte sie in das kleine Büro hinter
der Theke. Wutentbrannt riss sie ihre Tasche an sich.
Ihre Großmutter folgte ihr. „Wo willst du denn jetzt hin,
Leo?“
Mit kriegerischer Miene steuerte Leonore die Ladentür an.
„Den Teufel besuchen.“
Eine halbe Stunde später legte Leonore vor dem riesigen
Glasgebäude, das Nathan Coles Firmensitz darstellte, den
Kopf in den Nacken und blickte an der in der Sonne
glänzenden, verspiegelten Fassade hinauf. Irgendwo dort,
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ganz weit oben im Penthouse, saß er vermutlich gerade, ihr
verhasster Widersacher – und sie musste ebenfalls dorthin.
Am besten heute noch.
Energisch packte Leonore den breiten Edelstahlgriff der
Glastüren und betrat den Eingangssaal. Kühle Luft empfing
sie. Der schwarze Granitboden war glatt genug geschliffen,
dass man ihn auf High Heels nur mit einer guten
Unfallversicherung betreten sollte. Ihre Flip-Flops
verursachten ein leises Quietschen, während sie zügig auf
die Rezeption zuging. Neben einem extravaganten
Blumenbouquet saß eine junge Frau, die ihre Schönheit sicher
nicht allein Mutter Natur zu verdanken hatte. Leonore biss
die Zähne aufeinander. Jedes Mal, wenn sie hier eintraf,
musste sie sich mit einer anderen Empfangsdame
herumschlagen. Das heutige Modell war blond. Die Frau hob
den Kopf, als Leonore vor ihr stehen blieb.
„Willkommen bei NaCo Business Systems Ltd.“, flötete sie
unter Einsatz eines derart strahlenden Betonlächelns, dass
sie es sich vermutlich nach Geschäftsschluss aus dem Gesicht
meißeln musste. Ihr Blick umfasste mit einem Hauch von
Missbilligung Leonores luftiges Sommerkleid und die alte
Stofftasche über ihrer Schulter, ehe sie sich dem PC
zuwandte. „Wen darf ich bitte anmelden?“
„Leonore Danner.“
Die Empfangsdame nickte verbindlich und tippte ihren Namen
in den PC. Leonore bezweifelte, dass ihr Name dort
tatsächlich irgendwo vermerkt war – allenfalls unter der
Rubrik „Unerwünscht‟. Die Frau bediente die kabellose Maus,
klickte einmal, zweimal. Tippte erneut auf die Tasten. Dann
kam, was kommen musste. „Sie stehen leider nicht auf meiner
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Liste. Hatten Sie einen Termin vereinbart, Mrs Danner?“
„Ms Danner“, korrigierte Leonore beiläufig. „Nein, deshalb
bin ich ja hier. Ich möchte wegen dieser Mahnung hier ...“,
sie legte das Schreiben auf die steinerne Theke, „dringend
persönlich mit Mr Cole sprechen.“
„Was ist das?“ Angewidert zeigte die Frau auf einen
gelblichen Fleck, der neben dem Adressfeld auf dem Papier
prangte.
„Melonensaft“, erwiderte Leonore, ohne mit der Wimper zu
zucken. „Darf ich nun zu ihm? Oder erzählen Sie mir gleich
wieder, dass er ausgerechnet heute verhindert ist?“
„Ich bin sicher, dass Mr Cole ein Gespräch mit Ihnen sehr
begrüßen wird, sobald er einen Termin frei hat“, zuckerte
die Frau genau wie erwartet. „Heute ist er zu meinem
Bedauern jedoch komplett ausgebucht.“
Heute. Morgen. Und wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit.
Leonore unterdrückte ein Schnauben. „Hören Sie, Miss …“,
flink scannte sie das Metallschildchen an der Bluse der
Frau, „… Keller. Mir ist durchaus klar, dass Sie Ihre
Aufgabe, den Publikumsverkehr zu koordinieren, sehr ernst
nehmen.“ Der ruhige Ton verlangte Leonore allerhand ab. Am
liebsten hätte sie jedwede Freundlichkeit sausen lassen und
lautstark zum Ausdruck gebracht, wie verärgert sie über Mr
Coles stetige Indisponiertheit war. Aber das hätte sie
leider keinen Schritt vorangebracht. „Sie werden jedoch
sicher einsehen“, fuhr sie fort, „dass man einen
Versteigerungstermin nicht einfach verlegen kann. Also bitte
schauen Sie noch einmal nach, ob Sie heute nicht doch einen
Termin finden können.“
Das Betonlächeln bröckelte keine Sekunde. „Ich bin bereits
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alles durchgegangen. Mr Cole hat wirklich keine Termine
frei. Vielleicht kann ich Ihnen stattdessen ein Gespräch mit
der Serviceabteilung offerieren?“
Leonore atmete tief durch. Sie fühlte sich wie ein
Hürdenläufer, der zehnmal am selben Hindernis scheiterte.
Auf diesem Weg kam sie nicht weiter. Je länger sie hier
herumdiskutierte, desto klarer zeichnete sich ab, dass Mr
Cole keinerlei Interesse daran bekundete, sich in
irgendeiner Weise mit ihr auseinanderzusetzen. Vergleichbar
mit Julius Cäsar war er gekommen, hatte ihr Grundstück
gesehen und beschlossen, darauf sein neues Medienzentrum zu
errichten. Seitdem arbeitete er rücksichtslos darauf hin,
das Lebensmittelgeschäft ihrer Gran von seinem Bebauungsplan
zu tilgen. Leonore schluckte. Damit würde er auch Erfolg
haben, wenn es ihr nicht bald gelänge, das Ruder
herumzureißen. Aber wie sollte sie Mr Cole zu einer
Alternative überreden, wenn er sich diese nicht einmal
anzuhören gedachte.
Das Telefon an der Rezeption klingelte, und Ms Keller
tippte, eine Entschuldigung murmelnd, auf eine Taste an
ihrem Headset, unübersehbar erleichtert, dass sie Leonore
den Rücken kehren konnte.
„NaCo Business Systems Ltd., Miami. Sie sprechen mit Ms
Keller“, flötete sie ein weiteres Mal. Einige Momente
lauschte sie dem Anrufer, dann erwiderte sie: „Ja, die
Kisten müssen am nächsten Freitag bis siebzehn Uhr geliefert
werden. Nein ... Das müssen Sie mit Mr Cole klären. Einen
Moment bitte, ich suche den Namen der Yacht nochmals für Sie
heraus.“ Sie drehte sich zum PC und warf Leonore einen
genervten Blick zu, weil sich diese keinen Millimeter vom
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Fleck rührte.
Leonore nutzte die Chance und beugte sich süß lächelnd
vor. „Haben Sie zufällig eine Toilette im Haus?“
Ms Keller zeigte kommentarlos in Richtung der Aufzüge,
womit Leonore schon gerechnet hatte, denn genau dorthin
wollte sie ja. Hastig blätterte die Frau durch einen Packen
Unterlagen, der direkt neben ihrer Tastatur lag.
„Danke.“ Leonore griff nach ihrem Mahnschreiben, faltete
es zusammen und marschierte in die angegebene Richtung.
Die Empfangsdame nahm das Gespräch in der Leitung wieder
auf. „Entschuldigen Sie. Die Yacht heißt Meridian. Me-ri-dian ... Ja. Sie liegt am Pier 9 und ist ziemlich groß. Sie
können sie im Grunde gar nicht verfehlen. Nein, es müsste
jemand an Bord sein, der den Champagner entgegennimmt ...
Gut, in Ordnung.“
Champagner? Offenbar plante Mr Cole eine Sause. Leonore
hörte dem Gespräch mit halbem Ohr zu, während sie die beiden
bulligen Männer neben den Aufzügen in Augenschein nahm.
Wenige Schritte von den Stahltüren entfernt blieb sie
niesend stehen und gab vor, nach einem Taschentuch zu
suchen. Sie hatte Glück. Just in dieser Sekunde öffneten
sich die breiten Schiebetüren. Leonores Blick überflog rasch
die in teure Anzüge gekleideten Männer, die das Innere des
Aufzugs ausspuckte. Nathan Cole war nicht dabei. Das wäre
auch ein zu großer Zufall gewesen. Umständlich putzte sie
sich die Nase, während die Männer um sie herum zur
Eingangshalle gingen. Sie wartete, passte genau den
richtigen Zeitpunkt ab.
Dann flitzte sie mit einer Geschwindigkeit, die sie unter
normalen Umständen nie zustande gebracht hätte, auf die sich
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schließenden Aufzugstüren zu. Sie schaffte es knapp durch
den schmaler werdenden Spalt, prallte dabei unsanft mit der
Schulter gegen die Türkanten, aber sie gelangte ins Innere.
Die Türen ruckten direkt hinter ihr gegeneinander, trotzdem
konnte Leonore augenblicklich die Rufe der Security hören.
Hastig hämmerte sie auf den Knopf für den obersten Stock.
Alles hing davon ab, dass sich dieser Aufzug nicht gleich
wieder öffnete. Als sich das Stahlgehäuse stattdessen in
Bewegung setzte, lehnte sie sich aufatmend gegen die
Rückwand. Damit war sie offiziell einen Schritt weiter als
jemals zuvor. Unerlaubt und frech zwar, aber sie war weiter.
Die Finger in den Griff ihrer Stofftasche gekrallt, zählte
sie ungeduldig die Stockwerke bis zum Penthouse mit und
betete gleichzeitig darum, dass der Aufzug nirgendwo
dazwischen gestoppt wurde. Auch dieses Mal stand ihr das
Glück zur Seite, denn wie durch ein Wunder erreichte sie
wenige Sekunden später die oberste Etage. Dass damit ihr
Punktekonto bei der Glücksfee verbraucht war, begriff
Leonore, als sie, kaum aus dem Aufzug getreten, zwei schwarz
gekleidete Security-Männer auf sich zustürmen sah.
„Halt! Sofort stehen bleiben“, brüllten sie im Chor.
Statt dem Befehl Folge zu leisten, sprang sie gelenkig um
einen der riesigen Blumenkübel herum und rannte, ohne auch
nur einen Moment mit Nachdenken zu verschwenden, auf die
breiten Ledertüren an der rückwärtigen Wand des langen Raums
zu.
„Stopp!“ Die Männer brüllten immer noch und kamen mit
jedem Atemzug näher.
Leonore sprintete unbeirrt weiter.
Sie schaffte es nicht. Kurz bevor sie ihr Ziel tatsächlich
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erreichen konnte, prallten zwei weitere Security-Leute, aus
einem Seitengang kommend, gegen sie.
Leonore schrie und strampelte wie verrückt, als die Männer
sie wie ein Hotdog-Würstchen zwischen sich einklemmten.
„Nein! Lassen Sie mich los. Ich muss Mr Cole sprechen!
Lassen Sie mich los!“
Natürlich dachten die beiden nicht im Traum daran. „Sie
kommen erst mal mit uns, Miss“, informierte der Größere sie
und zerrte an ihrem Arm. Vor lauter Verzweiflung trat
Leonore dem Kleineren vors Schienbein, was ihn zum Jaulen
brachte. Viel Erfolg bescherte ihr diese Aktion nicht, denn
gleich darauf packte der Größere sie um die Beine und warf
sie sich über die Schulter. „Halt still, kleine
Kratzbürste!“ Ihre Gegenwehr schien ihm mittlerweile richtig
Spaß zu machen.
Hilflos in seinem Griff zappelnd hätte Leonore vor Wut am
liebsten geweint. Warum war sie kein Mann? Warum hatte sie
nur so lachhaft wenig Kraft? Wenigstens einmal im Leben
wünschte sie sich, Hulk Hogan zu sein.
Kopfüber sah sie, dass sich eine der Türen im Gang
öffnete. Ein Mann und zwei Frauen traten heraus.
„Mr Cole!“ Leonore versuchte sich von der Schulter ihres
Häschers zu winden, obwohl sie sofort ahnte, dass es sich
bei dem Mann nicht um den Gesuchten handelte. „Herrgott noch
mal. Lassen Sie mich endlich mit ihm sprechen! Mr Cole!“,
schrie sie immer lauter und hieb mit aller Kraft auf den
massigen Rücken unter ihr ein.
Davon völlig unbeeindruckt trug der Mann sie zum Aufzug
zurück.
„Nein! Das ist ungerecht!“ Nicht bereit, so schnell
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aufzugeben, keilte sie pausenlos aus. Es half nichts. Was
sie auch tat, verpuffte vollkommen nutzlos. Als sich die
Aufzugtüren hinter ihr schlossen, wirkte es, als würden zwei
Hälften einer Guillotine zusammenklappen. Nur mit Mühe
schaffte Leonore es, die Tränen zurückzublinzeln.
„Hörst du das, Nate?“ Gabriel Cole drehte wachsam den Kopf.
„Da schreit doch jemand.“ Bevor sein Bruder hinter dem
großzügig bemessenen Schreibtisch reagieren konnte, war er
aufgesprungen und in Richtung Bürotür marschiert.
„Warte, Gabe. Bleib hier.“ Nathan Cole stützte die
Ellbogen auf die Unterlagen, über die sie gerade gesprochen
hatten. „Kein Grund zur Sorge. Das ist bestimmt nur diese
verrückte Stalkerin, die mir schon seit Wochen auflauert.
Anscheinend hat sie es dieses Mal geschafft, sich an der
Security im Erdgeschoss vorbeizumogeln.“
Gabriel hob die Augenbrauen. „An diesen bulligen Typen?
Dann scheint sie ziemlich raffiniert zu sein.“ Langsam,
immer noch jeden Muskel im Körper sprungbreit, ließ er sich
wieder in den Sessel fallen. „Und was will die Lady von dir?
Ihrer Stimmlage nach zu urteilen scheint es ziemlich wichtig
zu sein.“
Nathan verengte die Augen zu Schlitzen. „Dafür, dass du in
Afghanistan ständig Detonationen ausgesetzt warst, hörst du
aber noch ziemlich gut.“
Gabriel biss ob dieser fiesen Anspielung auf seinen
Einsatz bei der US Army die Zähne zusammen. Offenbar
schätzte es sein Bruder nicht, wenn er sich in seine
Angelegenheiten einmischte. Er dagegen schätzte es nicht,
wie ungehobelt Nathan mit anderen Menschen umsprang.
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Beherrscht riss sich Gabriel zusammen. Nur noch zwei Tage
bis zu ihrem gemeinsamen Geburtstag. Da sollten sie weiß
Gott nicht schon wieder einen Streit anfangen. „Können wir
diese Scharmützel nicht endlich mal lassen.“ Er legte locker
ein Fußgelenk auf das Knie. „Ich dachte, du willst mich um
einen Gefallen bitten.“
Sofort verlor Nathans Miene den aggressiven Zug. „Ja,
stimmt.“ Er schob den Stapel mit Dokumenten zur Seite und
lehnte sich lässig zurück. „Über das Portfolio können wir
später noch sprechen ... Wie jedes Jahr veranstalte ich zu
meinem Geburtstag den Yachttrip in die Karibik.“ Er legte
die Fingerspitzen gegeneinander. „Die Gäste sind eingeladen,
der Caterer bestellt, die Reiseroute geht quer durch die
Bahamas. Ich habe keinerlei Kosten und Aufwand gescheut ...“
„Komm zur Sache“, sagte Gabriel ruhig, weil ihm langsam
schwante, worauf sein Bruder hinauswollte.
„Dummerweise ist mir kurzfristig etwas Dringendes in Form
eines sehr privaten Treffens mit der Frau des Bürgermeisters
dazwischengegrätscht“, bestätigte Nathan seine Vorahnung.
„Ich kann also nicht mitfahren – du dagegen schon.“ Nathan
schien zu bemerken, dass sich Gabriel stocksteif aufsetzte,
denn er sprach schnell weiter. „Komm schon, Mann. Niemandem
wird es auffallen. Das haben wir als Kinder so oft gemacht –
und es ist auch dein Geburtstag. Außerdem wird Blair
ebenfalls an Bord der Yacht sein.“
Gabriel schluckte die Ablehnung hinunter, die ihm, nicht
zuletzt wegen des moralisch fragwürdigen Verhinderungsgrunds
seines Zwillingsbruders, auf der Zunge gelegen hatte. „Blair
nimmt an dem Ausflug teil? Wie hast du sie denn dazu
überredet? Normalerweise fühlt sie sich in deinen Yuppie-
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Kreisen doch genauso unwohl wie ich.“
„Nun, ich habe ihr gesagt, dass ihr Lieblingsbruder mit
von der Partie sein wird.“ Nathan lächelte selbstgefällig.
„Sie freut sich schon auf dich. Wie lange habt ihr euch
jetzt nicht gesehen? Fünf Wochen, sechs?“
„Sieben.“
„Gibt dir einen Ruck, Brüderchen. So ein Yachttrip ist
lustig, sogar für eine Spaßbremse wie dich“, frohlockte
Nathan, offenbar vollkommen überzeugt, dass er mit dem
Hinweis auf Blairs Teilnahme den entscheidenden Trumpf
ausgespielt hatte.
Und das hatte er. „Okay“, gab sich Gabriel geschlagen.
„Aber nur dieses eine Mal … und nur unserer Schwester
zuliebe.“
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2. Kapitel
„Violas!“
„Sí.“ Mateo streckte den Kopf unter der Motorhaube hervor,
unter der er gerade gearbeitet hatte.
„Ein Anruf für dich.“ Der Inhaber der winzigen
Autowerkstatt in Little Havana kaute wie gewöhnlich an
seiner Zigarre herum. „Ne Frau is dran. Klingt ziemlich
aufgebracht, wenn de mich fragst.“
„Bin sofort da.“ Hastig wischte sich Mateo die Finger an
einem Lappen sauber und lief zum Telefon. „Violas“, meldete
er sich.
„Mateo, ich bin’s.“
„Leo?“ Mateo drückte überrascht den Hörer fester an Ohr.
Die Nummer auf dem Display kannte er nicht. „Was ist
passiert? Wo steckst du?“
„Im Knast.“
„Wo? Kannst du das bitte noch mal wiederholen? Ich habe
doch tatsächlich ,Knastʽ verstanden.“ Mateo musste bei der
absurden Vorstellung grinsen.
Leonore räusperte sich. „Ja, weil ich genau das gesagt
habe ... Ich sitze im Gefängnis.“ Sie nannte ihm die
Adresse.
Mateo fuhr sich bestürzt durch die dunklen Locken, bis ihm
bewusst wurde, dass er dabei Schleifstaub in seinen Haaren
verteilte. „Was um Himmels machst du dort? Wolltest du nicht
zu Nathan Cole? Hast du dem Mistkerl etwa eins
übergebraten?“
Leonore seufzte tief. „Ich wünschte, ich wäre ihm so nah
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gekommen. Nein, ich habe mich mit seinem Wachpersonal
angelegt.“ In stockenden Worten erzählte sie ihm von ihrem
völlig misslungenen Versuch, das Penthouse zu erobern – der,
rechtlich betrachtet, Hausfriedensbruch gewesen war.
„Und jetzt?“, fragte er. „Musst du Strafe zahlen?“
„Nicht wenn ich bis morgen früh hierbleibe. Kannst du
bitte Gran erzählen, ich wäre heute Abend mit dir unterwegs?
Ich möchte nicht, dass sie sich Sorgen macht.“
„Klar, kein Problem.“ Mateo lehnte sich tief atmend gegen
die Wand. „Wann darfst du morgen früh denn raus? Ich hole
dich ab.“
„Gegen acht Uhr.“
„Okay, bin da.“
Leonore setzte sich in der warmen Morgensonne mit
angewinkelten Beinen auf die Betonmauer vor dem
Polizeirevier und blickte auf ihre Armbanduhr. Mateo musste
jeden Moment eintreffen.
Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende geführt, bog bereits
das betagte hellblaue Mustang-Cabrio ihres Freundes um die
Kurve und kam vor ihr zum Stehen.
„Na, Bonnie Parker. Hast du die Nacht gut überstanden?“
Mateo schwang sich wie üblich aus dem Wagen, ohne die
Autotür zu öffnen.
„Mehr oder weniger, Clyde“, gab Leonore zurück und raffte
ihre Stofftasche an sich. „Aber ich sehne mich nach einer
Dusche. Ich fühle mich extrem schmutzig, obwohl die Zelle
fast steril war.“
„Das liegt an dem Grund, der dich dort hingebracht hat.“
„Nathan Cole.“ Ihr Kiefer verspannte sich von ganz allein.
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„Wegen diesem Mistkerl werde ich noch zur Kriminellen.“ Sie
blickte ihren Freund an. „Hat Grandma Dir die Geschichte mit
der Übernachtung abgekauft?“
„Sí, du kennst doch meinen kubanischen Charme.“ Er ließ
mit eben diesem Charme seine weißen Zähne aufblitzen.
„Welches Manöver planst du als Nächstes?“
„Das weiß ich noch nicht. Langsam gehen mir echt die Ideen
aus.“ Geduldig wartete Leonore, bis Mateo mit sanfter Gewalt
die schräge Beifahrertür aufgerissen hatte, dann nahm sie
auf dem tiefen Sitz Platz. „Vielleicht sollte ich es in
seiner Privatvilla versuchen, dort gibt es wenigstens kein
blondes Bollwerk am Eingang.“
„Dafür aber jede Menge Sicherheitselektronik.“
Schulterzuckend sprang Mateo auf der Fahrerseite in den
Wagen und startete den Motor. „Du könntest Cole auch direkt
auf der Straße aufzulauern.“
„Oder auf seiner Yacht, wenn er in den nächsten Tagen dort
Geburtstag feiert“, ergänzte Leonore in Gedanken an das
gestern belauschte Telefonat und drückte ihre Stofftasche
neben einige zerknüllte Rechnungen in die Seitenablage.
Plötzlich hielt sie inne. „Moment mal ...“
„¿Qué?“ Mateo, der gerade Gas geben hatte, stoppte wieder.
Leonore ruckte kurz im Gurt nach vorne, drehte sich aber
trotzdem aufgeregt zu ihm. „Die Yacht. Das ist es! Ich muss
irgendwie an Bord gelangen. Das dürfte doch nicht so schwer
sein. Schließlich ist an einem Pier immer einiges los,
besonders wenn Waren für eine Geburtstagsparty angeliefert
werden.“
„So einfach funktioniert das leider nicht, Leo. Der
Zutritt zum Anleger derart teurer Yachten wird rund um die
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Uhr bewacht. Da kannst du nicht einfach reinmarschieren.“
Mateo kratzte sich den Nacken. „Allerdings habe ich recht
passable Kontakte zum Hafenpersonal. Vielleicht lässt sich
da was drehen. Wie heißt Coles Kahn denn? Ich würde mal auf
,NaCo No. 1ʽ tippen.“
Leonore musste grinsen. „Eher nicht. Warte ... Die
Empfangsdame hat den Namen gestern buchstabiert.“ Die
Fingerspitzen gegen die Stirn gedrückt schloss sie die
Augen, als könnte sie ihrem Gehirn auf diese Weise befehlen,
den gesuchten Begriff zu rekonstruieren. „Mi... Nein. Me-ridi-an. Stimmt, das war es. Meridian. Sie liegt an Pier 9.“
„Die Meridian? Ist nicht wahr!“ Mateo fing an zu lachen.
„Also, wenn das kein Schicksal ist.“
„Wieso?“
„Zufällig kenne ich jemanden, der auf der Meridian
arbeitet“, lüftete er das Geheimnis, während er sich in den
Verkehr einfädelte.
Leonore konnte ihn einen Moment lang nur sprachlos
ansehen, dann schlug die volle Tragweite seiner Eröffnung in
ihrem Verstand ein. Hektisch packte sie seinen Arm. „Wer ist
es? Würde derjenige uns helfen? Könnte ich mich dadurch für
eine Weile an Bord aufhalten?“ Sie schaffte es kaum, die
Hoffnung zu bremsen, die in ihrem Innern zu sprießen begann.
Vielleicht würde es ihr dieses Mal gelingen, Mr Ich-lassmich-ständig-verleugnen festzunageln.
Mateo musste bei ihrem Eifer gleich wieder lachen. „Sie
heißt Georgina Stevens und ist mit meinem Kollegen von der
Autowerkstatt verlobt.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube,
sie weiß überhaupt nicht, wer ihren Lohn bezahlt, ansonsten
hätte sie mich schon längst informiert. Sie ist im Bilde
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über das, was Cole mit eurem Gemüseladen treibt, deshalb
hilft sie uns bestimmt.“
„Welche Stellung hat Georgina denn auf der Yacht?“ Leonore
schnitt eine Grimasse. „Sag jetzt bitte nicht: Hostess.“
„No, keine Sorge.“ Mateos Grinsen wurde immer breiter.
„Sie ist Kellnerin.“
„Das ist ja geradezu perfekt.“ Leonore konnte ihr Glück
kaum fassen.
Mateo bog in die Straße von Leonores Wohnung ein. „Wir
rufen sie am besten gleich an. Schließlich haben wir nicht
mehr viel Zeit.“
Ohne zu zögern schnappte sich Leonore ihre Handtasche und
suchte den Hausschlüssel heraus.
Einige Tage später griff Leonore mit einem tiefen Atemzug
nach einer hellbraunen Flüssigkeit und gab mehrere Tropfen
davon auf den Kamm. Geschickt fächerte sie die falsche Farbe
durch einige Strähnen und verlieh ihrem schwarzen Haar so
einen erheblich helleren Touch. Dass sich die Farbe mit ganz
gewöhnlichem Wasser wieder auswaschen ließ, würde niemand
bemerken. Als Nächstes griff sie nach der Kleidung, die
Mateo ihr gebracht hatte. Sie schlüpfte in die weiße Bluse
und eine lange dunkelrote Hosen. Als sie die knappe,
farblich dazu passende Weste über ihrem Busen schloss, hatte
Leonore das Gefühl, sich für einen Krieg zu rüsten. Und in
gewisser Weise war es ja auch so, selbst wenn nur sie allein
den Kriegsschauplatz kannte.
Weil sie an Bord einer Yacht arbeiten würde, wählte sie
flache Sandalen, dann setzte sie sich die Brille auf die
Nase. Das robuste Gestell enthielt nur minimal getöntes
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Fensterglas, veränderte aber effektiv die Konturen ihres
Gesichts und den Grünton ihrer Augen. Es war ratsam,
wenigstens ein Minimum an Tarnung zu wählen, schließlich
konnte sie nicht sicher sein, ob Nathan Cole vielleicht über
ihr Aussehen Bescheid wusste.
Zu guter Letzt band Leonore ihr inzwischen getrocknetes
Haar zu einem ordentlichen Knoten. Kritisch betrachtete sie
das Ergebnis im Spiegel. Sie sah total verändert aus. Nicht
nur der Brille und der braunen Strähnen wegen, sondern vor
allem durch die ungewohnt strenge Frisur. Die biedere Note
passte so wenig zu ihrem üblichen Stil, dass sie zufrieden
nickte.
Am Hafen angekommen stieg Leonore aus dem Bus und
marschierte zum Hauptsteg. Leicht nervös zog sie Mateos
Notiz aus der Hosentasche und überflog nochmals seine
krakelige Handschrift: Pier 9, Ausleger 23 A, Anlegeplatz
10.
Sie beäugte die säuberlich aufgereihten Yachten, die in
den Hafenwellen träge im Wasser schaukelten, und wählte dann
den Landungssteg zu ihrer Linken. Je näher Leonore ihrem
Ziel entgegensteuerte, desto größer und luxuriöser wuchsen
die weißen Aufbauten der Yachten in den kobaltblauen Himmel.
Zwei Hafenarbeiter sahen von ihren Reparaturarbeiten an
einem Polder auf, als sie an ihnen vorbeiging. Offenbar
genügte der Anblick ihres Kellnerinnendress, um sie als eine
der ihren zu identifizieren, denn sie grüßten nur kurz und
widmeten sich dann wieder ihrer Aufgabe. Leonore las im
Vorbeigehen die mit blauer Farbe auf den Beton gepinselten
Liegeplatznummern. Aber im Grunde hätte sie sich die Suche
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sparen und direkt auf den schwimmenden Palast am Ende des
Anlegers zugehen können. Die Yacht am Liegeplatz mit der
Nummer zehn dominierte die Reihe wie ein König seine
Untertanen. Allein schon durch ihre Größe von geschätzten
vierzig Metern ließ diese Yacht die in ihrer Umgebung
ankernden Boote wie Nussschalen wirken.
Leonore blickte an dem blendend weißen Bug empor. Bereits
von hier unten konnte man erkennen, welch kostspielige
Ausstattung die Yacht besaß. Allerlei technische Spielereien
zierten die Flybridge, von der Einrichtung im Inneren sicher
ganz zu schweigen. Das gesamte Schiff musste ein Vermögen
gekostet haben. Leonore schob Mateos Zettel mit
zusammengepressten Lippen in die Hosentasche zurück. Dieser
Kahn passte exakt zu dem Bild, das sie von Nathan Cole
hatte. Die Superlative waren gerade gut genug, wenn es nach
diesem Mann ging.
Sie zögerte trotzdem, bevor sie einen Fuß auf die Gangway
setzte. Es schien fast, als stünde sie hier an einer
Schwelle, nach der es kein Zurück mehr gab. Jetzt, im
Angesicht dieser gigantischen Yacht, wirkte ihr Vorhaben
plötzlich so unrealisierbar wie eine Reise zum Jupiter. Tief
durchatmend rief sich Leonore noch einmal all die Gründe ins
Gedächtnis, die sie hierher geführt hatten. Nach einem
beherzten Ruck ihrer Schultern schloss sie die Finger um das
chromglänzende Geländer und betrat den Steg.
„Hey, Jackson!“, rief plötzlich jemand schräg hinter ihr.
Vor Schreck hüpfte Leonore fast ins Hafenbecken.
„Oh, bitte entschuldigen Sie“, sagte der grauhaarige Mann
hinter ihr, dessen Eintreffen ihr vollkommen entgangen war.
„Ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber dieser Jackson
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scheint wieder auf seinen Ohren zu sitzen.“ Er grinste sie
an und enthüllte dabei mehrere Zahnlücken.
Nicht nur er, dachte Leonore und ignorierte das Zittern
ihrer Knie. „Kein Problem“, murmelte sie laut, ebenfalls
lächelnd, obwohl sie sich am liebsten selbst in den Hintern
getreten hätte. Wenn sie sich schon zu Beginn derart
unprofessionell benahm, konnte sie die ganze Sache gleich
abblasen. Resolut strich sie sich über die Weste und trat
zur Seite, damit der Mann seine Ware an Bord bringen konnte.
Als er den voll beladenen Sackkarren an ihr vorbeiwuchtete,
erhaschte sie einen Blick auf das Etikett der obersten
Holzkiste. Man musste kein Russisch sprechen, um erkennen zu
können, dass es sich bei dem Inhalt um importierten Kaviar
handelte. Russischer Kaviar in solch verschwenderischen
Mengen ... Leonore schürzte missbilligend die Lippen. Diese
Unmenge an Kisten demonstrierte deutlich, welche
Geringschätzung Nathan Cole Dingen entgegenbrachte. Dieselbe
Geringschätzung, die er auch für arbeitende Menschen übrig
hatte.
Der Gedanke, dass er ihre Großmutter und sie
wahrscheinlich nur als lästige Mücken betrachtete, die man
problemlos von der Bildfläche schnippen konnte, ließ heiße
Wut durch Leonores Adern sprudeln.
Mit neuer Entschlossenheit packte sie das Geländer und
folgte dem Lieferanten die Gangway hinauf. Ein Mann
mittleren Alters in einer typischen Marineuniform bemerkte
sie, sobald sie das polierte Mahagonideck betrat. Er nahm
ein Klappbord von der Reling und kam auf sie zu.
Die Falten in seinem wettergegerbten Gesicht vertieften
sich zu einem Lächeln, als er ihre Kleidung sah. Freundlich
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streckte er ihr seine Hand entgegen. „Sie müssen die
Vertretung für Georgina Stevens sein.“ Unauffällig spähte er
auf sein Klappboard. „Lena Foster, richtig?“, sprach er sie
mit ihrem falschen Namen an.
Leonore wappnete sich innerlich für ihre Mission, setzte
ebenfalls ein strahlendes Lächeln auf und ergriff die Hand
des Mannes. „Hallo.“
„Ich bin Arthur Stafford, der Kapitän der Meridian. Schön,
dass Sie so schnell für Georgina einspringen konnten, Ms
Foster. Wir haben heute Abend eine Menge Gäste an Bord, und
da können wir jede helfende Hand gebrauchen.“
„Bitte, nennen Sie mich doch Lena.“ Leonore war froh, dass
sie und Mateo sich auf einen Namen geeinigt hatten, der
zumindest eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem eigenen besaß.
Es wäre mehr als peinlich gewesen, wenn sie nicht darauf
reagierte, sollte sie jemand rufen.
„Schön, dann also Lena. Georgina erwähnte, Sie hätten
schon reichlich Erfahrung als Kellnerin?“
„Ja, das stimmt. Ich habe schon in Deutschland und in der
Schweiz im Grandhotel Steigenberger gearbeitet.“ Dass diese
Grandhotels noch nie etwas von einer Lena Foster gesehen
oder gehört hatten, konnte der Mann ja nicht wissen. Und
selbst wenn er es später nachprüfen würde, wäre sie längst
verschwunden, bevor er sie damit konfrontieren konnte. Unter
anderen Umständen hätte sich Leonore geschämt, dem Mann
derart dreiste Lügen aufzutischen. Unter Umständen, die
nicht mit Nathan Cole einhergingen ...
„Das ist ja wunderbar. Dann ist es ja ein richtiger
Glücksfall, Sie heute Abend hierzuhaben.“ Stafford schien so
ehrlich erfreut, dass Leonore ein Hauch von Skrupel packte.
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Hastig wischte sie die Empfindung beiseite. Sie hatte
gewusst, dass es nicht einfach werden würde. Besser sie
verstaute ihre Moral für die nächsten Stunden im
Andreasgraben, genau neben der von Nathan Cole.
Bemüht, ihr freundliches Lächeln zu halten, hörte sie dem
Kapitän zu, während er ihr die grobe Aufteilung der Yacht
erläuterte. Ihre Aufmerksamkeit driftete kurz ab, weil sie
einen großen, dunkelhaarigen Südländer am Ausgang der
Kombüse erspähte. Eigentlich war sie nicht überrascht
gewesen, als Mateo ihr eröffnet hatte, dass er sich zu ihrer
Unterstützung ebenfalls an Bord der Yacht mogeln würde. Der
Begriff „unmöglich“ schien im Wortschatz ihres kubanischen
Freunds nicht zu existieren. Unauffällig winkte Leonore ihm
zu. Die letzten Sorgen, die sie sich über ihre Tarnung
gemacht hatte, zerstoben, als sie seine entgeisterte Miene
sah. Schmunzelnd wartete sie, bis Arthur Stafford seine
Einführung beendet und sich verabschiedet hatte, dann
marschierte sie auf Mateo zu. „Hallo.“
„Selber hallo.“ Langsam ließ er den Blick über sie
schweifen. „Die Nickelbrille ist der Hammer. Hat dir
eigentlich schon jemand gesagt, dass es Japaner gibt, die
total auf solche Outfits abfahren?“
Leonore stemmte gespielt entrüstet die Arme in die Hüften.
„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass es unhöflich ist,
derart schmierige Ansagen zu machen?“
Er grinste frech. „Nicht, wenn es um meine beste Freundin
geht.“ Neugierig befühlte er ihre Haare. „Du siehst total
verändert aus.“
„Danke. Das muss nur halten, bis ich Nathan Cole
gegenübertreten kann.“ Leonore blickte sich um. „Hast du ihn
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schon gesehen?“
„No.“ Mateo lehnte sich gewohnt lässig gegen einen
Lüftungsschacht. „Er wird erst gegen zwanzig Uhr eintreffen,
schätze ich.“
„Und was machen wir bis dahin?“
Er zuckte die Schultern. „Arbeiten?“
Mateos Vermutung hatte ins Schwarze getroffen. Leonore biss
die Zähne zusammen, als Nathan Cole kurz nach zwanzig Uhr
lockeren Schrittes die Gangway hinaufspazierte.
Da war er, der Mann, der alles bedrohte, was ihr lieb und
teuer war. Leonore versuchte mit aller Macht, sich nicht
sofort auf ihren Erzfeind zu stürzen, während er in nicht
einmal drei Metern Abstand an Bord der Yacht trat. Trotzdem
machte sie unwillkürlich einen Schritt auf ihn zu. Mateo
schien zu ahnen, was in ihr vorging, denn seine Finger
legten sich wie Eisenbänder um ihren Arm. Mühsam zimmerte
Leonore ein Lächeln in ihr Gesicht und entspannte ihre
Muskulatur. Genau im richtigen Moment, denn in dieser
Sekunde schaute Nathan Cole in Richtung der Belegschaft.
Leonore schluckte. Keinesfalls wollte sie auffallen, indem
sie ihm mit mordlüsterner Miene entgegenstarrte. Ihr Herz
setzte einen Schlag aus, als sein Blick ihren kreuzte.
Einige Sekunden lang schaute sie in betörend blaue Augen,
die, von dichten Wimpern umschattet, zu einem markant
geschnittenen Gesicht gehörten. Widerwillig musste Leonore
einräumen, dass sie in natura nachvollziehen konnte, warum
viele Frauen ihn so attraktiv fanden. Natürlich nur, wenn
man seinen miesen Charakter außer Acht ließ. Bei dem
Gedanken an das, was er ihr und ihrer Gran antun wollte,
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schäumte neue Ablehnung in ihr hoch. Glücklicherweise
unterbrach Nathan Cole den Blickkontakt als Erster, drehte
sich weg und schüttelte die Hand des Kapitäns, um ein paar
Worte mit ihm zu wechseln. Leonore lauschte angestrengt,
konnte aber nicht verstehen, was die beiden sagten.
Beherrscht widerstand sie dem Impuls, die falsche Brille
zurechtzurücken. Die Sorge, er könnte den Kapitän zu ihrer
Person befragen, drückte wie eine Faust in ihren Magen.
Offenbar völlig unbegründet, denn die beiden unternahmen
keinerlei Anstalten, zu ihr zu kommen, stattdessen
verschwanden sie durch die Glasschiebetüren des Mitteldecks.
„So weit, so gut“, flüsterte Mateo neben ihr. „Die
Feuertaufe haben wir überstanden. Ich glaube nicht, dass er
dich erkannt hat, Leo.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass du seinem Wunsch nachkommst,
Gabe.“ Blair nippte an ihrem Champagner.
Gabriel ließ sich auf einem Absatz in der Bordwand nieder.
Beide Hände in den Hosentaschen vergraben, schaute er übers
Meer. „Wir haben heute Geburtstag. Das ist mein Geschenk an
Nathan. Außerdem wollte ich ihn mal wieder sehen.“ Er
lächelte ihr zu. „Und dich auch.“
Blair nickte bedächtig. „Du kommst viel zu selten zu
Besuch. Seit du vor drei Monaten aus Afghanistan
zurückgekehrt bist, warst du praktisch nur in New York und
hast gearbeitet.“ Sie hob rasch die Hand, als Gabriel den
Mund öffnete. „Und erzähl mir jetzt nicht, dein
Arbeitspensum sei schuld daran. Das hat dich früher auch nie
abgehalten, nach Miami zu reisen.“
Sie setzte sich direkt neben ihn und betrachtete den
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verschlossenen Ausdruck in seinen Augen. „Du meidest Nate
und mich. Aber die Sache totzuschweigen macht es nicht
leichter. Ich finde, du solltest dich jemandem öffnen.
Vielleicht kö...“
„Nein!“ Gabriel fuhr derart abrupt in die Höhe, dass Blair
fast ihr Glas hätte fallen lassen. Sie vergaß immer wieder,
wie schnell sich ihr Bruder bewegen konnte. Das lag
einerseits an seiner Ausbildung, vor allem aber an den
tragischen Erlebnissen in Afghanistan, über die zu sprechen
er sich so beharrlich weigerte.
Gabriel bemerkte offenbar ihre erschrockene Miene, denn er
berührte ihren Rücken, als sie das Glas abstellte. „Tut mir
leid, Blair. Ich wollte dich nicht anfahren.“ Er ließ die
Hand von ihr wegrutschen, ballte sie dann zur Faust. „Was
passiert ist, ist allein meine Schuld. Ich will damit weder
dir noch sonst irgendwem zur Last fallen.“
Blairs Lippen pressten sich zu einem schmalen Strich
zusammen. Diesen Satz hatte sie schon oft gehört. Zu oft.
Fahrig stand sie ebenfalls auf, umfasste seinen kräftigen
Unterarm und drehte ihn, bis die vernarbten Kratzer sichtbar
wurden, die dort in feinen Linien seine Haut durchzogen.
„Das Einzige, das mich belastet, ist die Ursache von dem
hier.“ Sie zeigte auf die Schrammen. „Und das, was es mit
dir gemacht hat. Dass du dich Nate nicht anvertrauen
möchtest, kann ich ja noch nachvollziehen. Aber mir?“ Sie
verkrampfte sich, sobald sie das traurige Lächeln sah, mit
dem ihr Bruder auf ihre Worte reagierte. Am liebsten wäre
sie schreiend auf ihn losgegangen – hätte das etwas genutzt.
Egal, was sie tat, es wollte ihr einfach nicht gelingen, den
emotionalen Panzer zu durchbrechen, den er um sich errichtet
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hatte.
Gabriel spürte ihren Kummer, konnte ihre Bitte aber beim
besten Willen nicht erfüllen. Die Dinge waren, wie sie
waren. Es gab nichts, was daran etwas ändern konnte. Niemand
hatte die Macht, die Zeit zurückzudrehen, nicht einmal seine
geliebte Schwester, auch wenn sie den Versuch partout nicht
aufgeben wollte. Behutsam löste er seinen Arm aus ihrem
Griff. „Ich weiß, dass du dir Sorgen machst. Aber bitte
versteh mich. Ich kann euch in diesen Albtraum nicht noch
weiter mit reinziehen. Schlimm genug, dass ihr überhaupt
davon erfahren habt.“
Blair strich resigniert über ihre geflochtenen Haare.
Dabei senkte sie den Blick, aber Gabriel sah die Tränen in
ihren Augen trotzdem.
Vorsichtig umfasste er mit beiden Händen ihr Gesicht und
hob es an, bis sie zu ihm aufschaute. „Es tut mir leid. Ich
wünschte, das alles wäre nie passiert. So viele Menschen
sind ...“ Er stockte, wollte noch etwas sagen, brachte aber
plötzlich keinen Ton mehr raus.
„Ist schon gut.“ Blair schlang die Arme um seine Taille
und lehnte sich an ihn. „Ich liebe dich, Gabe.“
Gabriel schloss gerührt die Augen, während er sie
ebenfalls festhielt. „Dito“, murmelte er zärtlich, das Kinn
auf ihren nussbraunen Scheitel gestützt. Einen Moment lang
standen sie umschlungen da, dann lösten sie sich langsam
voneinander.
Blair schluckte sichtlich, ehe sie sich zu dem
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Bediensteten umdrehte, der diskret einige Meter hinter ihnen
an Deck getreten war. „Ja, Mr Simmons?“
Der Mann räusperte sich. „Ich wollte Sie nicht stören,
aber die Gäste möchten gern einen Toast auf ihren Gastgeber
ausbringen.“
„Wir kommen.“ Gabriel bot seiner Schwester galant den Arm.
„Wollen wir?“
Sich bei ihm einhakend griff Blair wieder nach ihrem Glas.
„Showtime.“
Leonore betrachtete vom anderen Ende des Schiffdecks aus,
wie Blair und Nathan Cole einen Trinkspruch nach dem anderen
entgegennahmen. Als sich die Geschwister zulächelten,
runzelte sie die Stirn.
„Was ist?“ Mateo biss in eines der winzigen Kanapees, das
er frech von ihrem Tablett stibitzt hatte.
„Blair Cole scheint nett zu sein“, überlegte Leonore laut
und stoppte Mateo, ehe dieser nach dem nächsten Happen
greifen konnte. „Sie hat einen positiven Einfluss auf ihren
Bruder. So freundlich wie heute Abend habe ich Nathan Cole
noch nie erlebt.“
„Sei froh. Das kann für deinen Plan ja nur von Vorteil
sein. Wann wirst du es versuchen?“ Mateos Blick glitt
anerkennend über Blair Coles grünes Abendkleid. Sicher zum
zehnten Mal an diesem Abend.
Trotz ihrer Nervosität musste Leonore lächeln. Mateo
bewunderte die bildhübsche Brünette schon seit Jahren, aber
so nah wie heute war er ihr noch nie gekommen. „Ich werde
ihn abpassen, sobald sich eine Gelegenheit ergibt.“
Leider ergab sich die in den nächsten Stunden nicht mal
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ansatzweise. Selbst als sich Blair Cole von ihrem Bruder
entfernt hatte, war dieser ständig von Leuten umringt.
Leonore konnte gar nicht mehr zählen, wie viele Tabletts mit
Kanapees und Cocktails sie in seine Richtung getragen hatte,
ohne dass sie ihn jemals frei zu sehen bekam. Anscheinend
hatten sich seine Gäste in den Kopf gesetzt, ihn den ganzen
Abend in Beschlag zu nehmen. Frustriert beklagte sie sich
bei Mateo, als dieser zufällig auf dem Weg zum Unterdeck an
ihr vorbeilief.
Aufmunternd drückte er ihren Arm. „Nur Geduld. Es ist erst
kurz vor Mitternacht. Die Party wird noch stundenlang
weitergehen. Das klappt schon noch.“
Dass Mateos Optimismus möglicherweise angebracht war,
erkannte Leonore wenige Minuten später, als sich Nathan Cole
bei seiner Gesprächspartnerin entschuldigte und auf die
hintere Treppe zum Mitteldeck zusteuerte. Nur wenige
Schritte, dann war er aus ihrem Blickfeld verschwunden.
Unentschlossen starrte sie ihm nach. Was, wenn er sich dort
unten zu einem Stelldichein verabredet hatte ... In diesem
Fall wäre es äußerst unklug, ihn zu stören. Schlechter
konnte ein Gespräch wahrlich nicht beginnen.
Und wenn schon? Leonore schob das Kinn vor. Immer noch
besser als nie! Sie atmete tief durch, schnappte sich ein
neues Tablett und bahnte sich zielstrebig einen Weg durch
die Gästeschar.
Obwohl es nur drei Minuten dauerte, bis Leonore die Treppe
zum Mitteldeck erreichte, kam es ihr vor wie Stunden. Im
Stillen betete sie, dass sie nicht die Aufmerksamkeit des
Wachpersonals erregt hatte, indem sie wie ein Bulldozer
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durch die Menge pflügte. Diesen Männern würde sie wirklich
nur sehr ungern erklären müssen, warum sie es so eilig
hatte.
Leicht außer Atem tastete sie sich, das Tablett auf einer
Hand balancierend, die steilen Stufen zum Mitteldeck
hinunter. Inzwischen hatte sie keinen Zweifel mehr: Wenn es
je eine Chance gab, Nathan Cole ungestört sprechen zu
können, dann war es diese.
Sie erspähte ihn am Heck. Allein, Gott sei Dank. Beide
Unterarme auf die Reling gestützt, starrte er in das dunkle
Wasser, das von den Schrauben aufgeschäumt wurde. Die Brise
zerzauste die Spitzen seiner kastanienbraunen Haare, und er
hatte das Hemd leger aufgekrempelt. Obwohl es kurz vor
Mitternacht war, schien er nicht die Absicht zu haben, sich
bald wieder unter das ausgelassene Treiben einen Stock höher
zu mischen.
„Ähem“, machte Leonore auf sich aufmerksam. „Darf ich
Ihnen noch etwas anbieten. Mr Cole?“
Er neigte den Kopf, jedoch ohne sich zu ihr umzudrehen.
„Nein, ich möchte nichts. Danke.“
Leonore legte beide Hände unter das schwere Tablett, bevor
sie es vor Nervosität noch fallen lassen würde. Seine Stimme
verblüffte sie. Aus der Nähe klang sie weit tiefer und
samtiger, als sie vermutet hatte. Wäre er ihr nicht so
verhasst gewesen, hätte sie das warme Timbre wahrscheinlich
anziehend gefunden.
Resolut wischte Leonore die seltsame Vorstellung beiseite.
Sie hatte nicht all diesen Aufwand betrieben, um andächtig
seiner Stimme zu lauschen. Obwohl ihre Knie zu zittern
begannen, nahm sie die Brille ab, stellte das Tablett auf
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eine Bank und stakste auf ihn zu. Sie spürte, dass seine
Haltung mit jedem Meter, den sie sich ihm näherte, an
Wachsamkeit gewann. Trotzdem drehte er sich ohne Eile zu ihr
um. Die Hände weiterhin rechts und links an die Reling
gelegt, sah er sie an.
Leonore schluckte, weil sie ihm nun erstmals von Angesicht
zu Angesicht gegenüberstand. Jetzt, so direkt vor ihr,
wirkte er größer, kantiger und hagerer, als sie vermutet
hatte. Der Wind spielte ihr einen angenehm würzigen Duft
nach Sommerregen zu, der eindeutig von ihm stammte. Ihr
Blick streifte einen Herzschlag lang seine Augen und blieb
an dem sinnlich geschwungenen Mund hängen. Sein Schweigen
irritierte sie. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass
er sie fragen würde, warum sie hier noch herumstand, oder
vielleicht sogar einen patzigen Befehl gab, doch er tat
nichts dergleichen, blickte sie einfach nur an und wartete.
Leonor reckte beherzt das Kinn. Nun war er gekommen, der
Moment, auf den sie wochenlang hingearbeitet hatte. Sie
würde Nathan Cole zur Rede stellen. Und zwar richtig,
unumwunden – und am besten so, dass ihre Großmutter einen
Vorteil davon hatte. „Mr Cole“, setzte sie selbstbewusster
an, als sie sich fühlte, und holte Luft. Durch ihren Kopf
ratterte die Ansprache, die sie schätzungsweise hundertmal
geprobt hatte, doch die Worte wollten einfach nicht ihre
Lippen verlassen. Statt etwas zu sagen, keuchte sie nur.
Einmal, zweimal. Leonore klappte bestürzt den Mund zu. Nun
red schon, dumme Kuh!, schalt sie sich innerlich. Sie
klappte den Mund wieder auf, doch es half nichts. Sie konnte
die Worte einfach nicht formulieren. Auf ihn musste das
wirken, als würde sie einen Fisch auf dem Trockenen
© Alexandra Stefanie Höll: Allein mit dem Feind. LYX.digital, 2015
imitieren. Leonore rechnete damit, dass er jeden Moment das
Interesse verlieren oder, noch schlimmer, in Gelächter
ausbrechen würde.
„Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen, Miss?“, erkundigte
er sich stattdessen freundlich.
Leonore lockerte die Schultern, und plötzlich
funktionierte es: „Mein Name ist Leonore Danner, Mr Cole.
Ich bin die Enkelin von Theresia Danner. Und ich bin hier,
um mit Ihnen über die Kündigung eines Kredits zu sprechen.
Meine Großmutter ist Eigentümerin des Grundstücks ...“
Lautes Zischen, gefolgt von vielfältigem Krachen über ihren
Köpfen, überlagerte den Rest ihres Satzes. Verwundert sah
Leonore nach oben. Sie brauchte eine Sekunde, ehe sie
begriff, dass es sich um ein Feuerwerk handelte.
Nathan Cole bekam offenbar ebenfalls einen Schreck, denn
Leonore konnte regelrecht mitverfolgen, wie er erst die
Augen zusammenkniff und dann die Arme vors Gesicht riss. Als
die nächste Rakete explodierte, zuckte er zurück, fast so,
als hätte diese nicht den Himmel getroffen, sondern ihn. Er
schwankte und gab ein ersticktes Gurgeln von sich. Irritiert
machte sie einen Schritt auf ihn zu. „Mr Cole?“
Der nächste Böller krachte. Diesmal fuhr er derart
zusammen, dass er mit voller Wucht gegen die Reling prallte.
Er taumelte seitwärts, und bevor Leonore überhaupt einordnen
konnte, was sich vor ihren Augen abspielte, purzelte Nathan
Cole die Treppe zum Wasser hinunter.
„Halt!“ Mit einem flinken Satz sprang sie nach vorne, doch
er war bereits über Bord gegangen. Hastig blickte sie über
die Bordwand. Sie sah ihn im Meer strampeln, aber die
Bewegungen hatten weniger mit Schwimmen als vielmehr mit
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wildem Um-sich-Schlagen zu tun. Leonore begriff, dass er
unverzüglich Hilfe brauchte. Mateo arbeitete irgendwo auf
Deck. Bis sie ihn überhaupt erst gefunden hatte, würde
Nathan Cole längst ertrunken sein. Fluchend verwarf sie auch
den Gedanken, wenigstens die Sandalen von ihren Füßen zu
streifen. Stattdessen hetzte sie geistesgegenwärtig zu einem
Rettungsring, der drei Meter entfernt an einem Haken hing.
Ohne stehen zu bleiben, wirbelte sie herum und schleuderte
ihn ins Meer, dann sprang sie kurz entschlossen hinterher.
Ihr Herz machte einen schnellen Satz, als sie mit den Füßen
voran ins kalte Wasser tauchte. Der Ozean hieß sie wie ein
schwarzes Tintenfass willkommen. Leonore konnte nichts
erkennen, fast sofort zog ihre vollgesogene Kleidung sie in
die Tiefe. Luftblasen blubberten um sie herum und nahmen ihr
für einen Moment die Orientierung. Trotzdem arbeitete sie
sich mit kräftigen Schwimmbewegungen wieder an die
Oberfläche. Sobald ihr Kopf durch die Wellen brach, sah sie
sich nach Nathan Cole um. Er trieb nicht weit von ihr. Seine
Arme bewegten sich kaum noch, wirkten wie gelähmt. Leonore
hatte keinen Zweifel, dass es nur noch eine Frage von
Sekunden war, bis er endgültig abtauchte. Hastig kraulte sie
auf ihn zu.
Sie erreichte ihn in dem Moment, in dem sein Kopf unter
die Oberfläche sank. Keuchend fasste sie ihn am Hemdkragen
und zerrte ihn wieder in die Höhe. Sein regloser Körper
rempelte gegen sie, Wasser schwappte über ihr Gesicht und
drang in ihre Luftröhre. Hustend kämpfte Leonore darum, dass
sie nicht beide ertranken. Nathan Coles bewegungsloser
Körper schien eine Tonne zu wiegen. Ächzend krallte sie die
Finger in seine Kleidung. Eine neue Welle brach sich an
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ihnen, und um ein Haar hätte sie ihn wieder verloren. Nur
dem in Griffweite schwimmenden Rettungsring war es zu
verdanken, dass sie sich über Wasser halten konnte. Nach
Luft schnappend wickelte sie die Beine um Nathan Coles
Flanken, damit sie sich mit beiden Armen an den Plastikring
klammern konnte.
Erst als sich Leonore das Wasser aus den Augen gewischt
hatte, wurde ihr bewusst, dass die Yacht ungebremst
weiterfuhr.
ENDE DER LESEPROBE
Ebook ab 05.11.2015
http://www.egmont-lyx.de/buch/allein-mit-dem-feind/
Bewerben für die Leserunde bis 29.10.2015
http://www.lovelybooks.de/autor/Alexandra-StefanieH%C3%B6ll/Allein-mit-dem-Feind-1167450067t/leserunde/1200127129/
Start der Leserunde am 31.10.2015
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