Wie sich unsere Welt verändert

Nutzfahrzeug-Wissenschaftsstandort Kaiserslautern
Technische Universität Kaiserslautern – Lehrstuhl für Virtuelle Produktentwicklung (VPE)
Wie sich unsere Welt
­verändert …
Einst Tüftler, jetzt Teamworker in einer digitalvernetzen Welt
Ja, das Engineering unterliegt derzeit einem massiven Wandel. S
­ marte Systeme und Technologien, Cybertronische Produkte und Systeme im Kontext
des Internets der Dinge und Dienste sowie Industrie 4.0. Die M
­ edien überschlagen sich mit Meldungen über die neue, die vierte industrielle Revolution.
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CVC News 1|2015
Nutzfahrzeug-Wissenschaftsstandort Kaiserslautern
Der amerikanische Ansatz des »Industrial Internet«
betitelt – entlang des Lebenszyklus von Investitions-
beschreibt diese (R)evolution jedoch weitaus bes-
gütern erfordert von Unternehmen allgemein, und von
ser als der eingeschränkte und stark deutsch ge-
kleinen bzw. mittleren Unternehmen im Besonderen,
prägte Begriff Industrie 4.0. Industrial Internet be-
eine systematische und unternehmensindividuelle
rücksichtigt den gesamten Produktlebenszyklus –
Gestaltung der Transformationsprozesse, die den not-
von der Produktentwicklung und der Prozesspla-
wendigen, integrierten Wandel zum Beispiel in Bezug
nung über die Produktion bis hin zum Service – und
auf Technologie, Wirtschaftlichkeit, Ressourcen-
adressiert sowohl Konsum- und Investitionsgüter
schonung, Arbeitsorganisation und Kompetenzen
als auch Dienstleistungen. Es bleibt nicht mehr viel
gestalten. Zur Umsetzung einzelner Aspekte des
übrig vom klassischen Maschinenbau, von mechani-
­Industrial Internet sind alle Phasen des Lebens­
schen Produkten und Skizzen am Reißbrett. Dieser
zyklus eines Produktsystems einzubeziehen, d. h.
Artikel ­beleuchtet das zukunftsträchtige Trendthema
inter­disziplinäre und integrierte Entwicklung, Ferti-
und bietet fundierte Einblicke in die vernetzte Engi-
gung und Montage sowie After Sales.
neering-Welt von morgen.
Die vierte industrielle Revolution führt zu ver­
Industrial Internet mit Industrie 4.0 und Internet der
netzten und miteinander kommunizierenden
Dinge und Dienste bilden die Basis zur ­Entwicklung
­Systemen (Produkte, Produktionssysteme und
von Smarten Systemen. Objekte jeder Art ­werden
darauf aufbauende Dienstleistungen).
zukünftig verstärkt in das Internet integriert sein.
Neben der weltweiten Vernetzung von Entwicklung,
Sensor-, Aktor- und Identifikationstechnologien
Produktion sowie Verkauf wird insbesondere der
statten die Objekte mit einer eindeutigen Identität
originäre Funktions- und damit Komplexitätsumfang
aus und ermöglichen deren Lokalisierung und deren
der entstehenden Produkte weiter rapide a
­ nsteigen.
Steuerung. Mittels digitaler Produktgedächtnisse und
Schon heute sind technische Produkte z­ unehmend
eingebetteter Systeme (Embedded Systems) werden
multidisziplinäre Systeme, die von mehreren Ingeni-
die Gegenstände (z. B. Nutzfahrzeuge, Konsumgüter,
eurdisziplinen entwickelt werden. Virtualisierung,
Maschinen) kommunikativ, sowohl untereinander als
Integration und Interdisziplinarität zwischen den
auch mit ihrem Umfeld. Sie können selbstständig
­Bereichen Mechanik, Elektrik / Elektronik, Software
Entscheidungen treffen und Aktionen auslösen.
und Dienstleistung sowie die übergreifende Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Phasen des
Die Folge ist eine Verbindung zwischen der phy-
Produkt­lebenszyklus werden zur Grundlage eines
sischen Welt der Dinge und der virtuellen Welt der
modernen Produktentwicklungsprozesses.
Daten. Darauf aufbauend werden neue, oftmals
dienstleistungsorientierte Geschäftsmodelle für die
Die zunehmende Integration von Informations- und
jeweiligen Anwendungen solcher Smart Systems,
Kommunikationstechnologien in die Entwicklung und
z. B. Smart Products, Smart Factory, Smart Energy,
in die Produktsysteme selbst bewirkt einen Para-
Smart Farming, Smart Buildings, etc., entwickelt.
digmenwechsel, der in den aktuellen Bestrebungen
Nach konservativen Schätzungen werden bis zum
von Industrial Internet bzw. Industrie 4.0 und I­nternet
Jahr 2020 in das Marktsegment Smart Systems welt-
der Dinge und Dienste sowie den Novellen Smart
weit voraussichtlich 500 Milliarden Euro investiert.
Engineering und System Lifecycle Management eine
Optimistische Vorhersagen über die Wertschöpfung
deutliche Ausgestaltung findet.
dieses Bereiches sprechen von bis zu 15 Billionen
Euro weltweit in den nächsten rund 15 Jahren.
Eine innovative, interdisziplinäre und vernetzte
­Produktentwicklung erfordert das Ü
­ berdenken
Die Einführung von Industrial Internet – in Deutsch-
­heutiger, im Engineering bekannter Konstruktions-
land noch vielfach als Industrie 4.0 Maßnahmen
methoden, Prozesse, IT-Lösungen und
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Nutzfahrzeug-Wissenschaftsstandort Kaiserslautern
Industrie 4.0
Internet der Dinge
(Internet of Things)
Industrial Internet
Internet der Dienste
(Internet of Services)
Organisationsformen. Elektronik und Software stellen
Software, IT-Hardware und Elektrotechnik um 11 %
einen immer stärkeren Anteil am Produkt dar.
Prozent. Auch in den nächsten Jahren ist mit einem
weiteren Rückgang des Herstellkostenanteils bei
Konstruktions- und Entwurfsmethoden aller Diszi­
der Mechanik zu rechnen. Nach Einschätzung der
plinen – also Mechanikkonstruktion, Elektrokon­struk­
befragten Unternehmen werden IT und Automati­
tion und Elektronikentwicklung sowie Software­
sierungstechnik vor allem in Bezug auf die Wett­
entwicklung – müssen auf den Prüfstand gestellt,
bewerbsfähigkeit weiter an Bedeutung gewinnen.
ihre Tauglichkeit für einen modernen Konstruktionsansatz überprüft, sowie letztlich in einen
Die Einflüsse resultieren aus veränderten Markt­
gemein­samen integrierten und interdisziplinären
bedingungen, aus neuen Anforderungen an
Methoden- und Prozessansatz überführt werden.
»smarte«-­Produkte bzw. -Systeme und aus der
IT-Lösungen sind partiell vorhanden, bedürfen aber
­Kundensicht. Zusätzlich resultiert ein Anstieg der
noch einer Weiter­entwicklung bezüglich Anwend-
Produkt­komplexität zum einen aus einer weitaus
barkeit und Integration.
stärkeren »multimarket« fähigen Produkt-, Deri­
vaten- und Variantenvielfalt und zum anderen aus
Ein Beleg dafür: Die letzten 10 Jahre sind durch einen
der ­ständigen Zunahme elektronischer Komponenten
stetigen Wandel der Wertschöpfungsanteile im
und der ­zugehörigen »Embedded Software«.
­Maschinenbau gekennzeichnet. IT und Automati­
sierungstechnik ersetzen zunehmend bisher mecha­
Heute ist lediglich ein Prozent der physischen Welt
nisch ­realisierte Funktionen in den heutigen Pro-
vernetzt. Mit dem Internetprotokoll V6 stehen zu-
dukten. Statistiken belegen diesen permanenten
künftig 430 Sextillionen Internetadressen zur Verfü-
Wandel des Produktentwicklungsprozesses (PEP).
gung (430 mit 36 Nullen). Bis 2020 werden so rund
37 Milliarden »Dinge« und Dienste mit dem Internet
Nach einer aktuellen Studie des VDMA sind zahlreiche
verbunden sein. Der wertmäßige Anteil an Elektronik
Innovationen des Maschinen- und Anlagenbaus ohne
und Software wird bei dieser Art von Produkten und
den verstärkten Einsatz von ­Technologien aus der
eingebetteten Dienstleistungen weiter deutlich
Informations- und ­Automatisierungstechnik undenk-
­zunehmen. Kommunizieren Produkte miteinander,
bar. Derzeit entfallen ­durchschnittlich rund 30 % der
wird von »Cyber-Physical Systems« bzw. »Cyber­
Herstellkosten für ein Maschinenbauprodukt auf IT
tronischen Systemen« gesprochen. Software wird in
und Automatisierungstechnik. Gegenüber der letzten
Zukunft eine Vielzahl von neuen Produktfunktionen
Erhebung im Jahr 2008 wächst damit der Anteil von
ermöglichen und die Funktionskomplexität der
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Nutzfahrzeug-Wissenschaftsstandort Kaiserslautern
Produkte weiter erhöhen, andererseits aber auch
von PLM aufgebaut und als Schlüsselkonzept zur
Kontakt
durch eine Verschiebung der Varianz von Hardware
detaillierten Beschreibung komplexer, smarter Pro-
Technische Universität
zu Software, die Entwicklungs- und Fertigungskom-
duktsysteme angesehen. Die modellbasierte Ent-
Kaiserslautern
plexität der Produkte teilweise reduzieren. Aus
wicklung (Model-Based Systems Engineering
Lehrstuhl für Virtuelle
­einer zentralen Produktionssteuerung wird ein
(MBSE)), als grundlegender Bestandteil einer virtu-
Produktentwicklung
dezen­traler, sich selbst organisierender Prozess.
ellen Produktentwicklung innerhalb des SysLM
(VPE)
Die Folge: ­autonome Maschinen – die SmartMachine.
Konzeptes, ist ein multidisziplinäres ingenieurwissen­
Postfach 3049
schaftliches Paradigma, das den Entwicklungspro-
67653 Kaiserslautern
Entscheidend für die Ausgestaltung des ­Industrial
zess in den frühen Phasen unterstützt und eine
[email protected]
Internet bzw. von Industrie 4.0 und dem Internet der
Rückverfolgbarkeit (Traceability) ermöglicht. Es
http://vpe.mv.uni-kl.de
Dinge und Dienste sind vor allem Technologien mit
kommt auch zu einer deutlich stärkeren Einbe­
Sensorik und Aktorik mit eingebetteter Intelligenz.
ziehung der Softwareentwicklung im PEP, die mittels
Ansprechpartner:
Nur so ist es für Produkte möglich, ihre Umgebung
einer Modellbasierten Virtuellen Produktentwicklung
Professor Dr. Martin
wahrzunehmen und mit dieser zu interagieren. Auch
(MVPE) ermöglicht wird.
Eigner
die drahtlose Kommunikation wie der BreitbandMobilfunk oder RFID (Radio-FrequencyIdentification)
Wissenstransfer und Synergien
spielen eine wichtige Rolle. Folglich wird die seman­
Zu dem zukunftsträchtigen Trendthema forschen
Kaiserslauterer Initiative
tische Beschreibung von Diensten und Fähigkeiten
zahlreiche Kaiserslauterner Wissenschaftler ver-
cSSE: Center for Smart
wichtig, welche eine Interaktion von Produktkompo-
schiedener Fakultäten seit vielen Jahren. In der
Systems Engineering
nenten und Maschinen auf intelligente Art und Weise
­aktuellen interdisziplinären Kaiserslauterner I­nitiative
(cSSE) [in Gründung]
gewährleisten. Mit »Smart Produce« bzw. »Plug and
»Center for Smart Systems Engineering(cSSE)«
Interdisziplinäre For-
Produce« wird es ermöglicht, dass Maschinen ihr
­engagieren sie sich, um gemeinsam mit weiteren
schung im Themen­
Umfeld automatisch erkennen und sich mit anderen
Partnern aus Wissenschaft und Wirtschaft den
bereich Smart Systems
Maschinen vernetzen und miteinander kommuni­
Standort Kaiserslautern durch Wissenstransfer und
Engineering
zieren können. Dadurch gelingt der Austausch von
Bildung von Synergien zukunftsfähig zu halten.
[email protected]
Informationen über bspw. Aufträge, Auslastung und
optimale Fertigungsparameter.
www.uni-kl.de/csse
Ist Ihr Produktentwicklungsprozess bereit für
Industrie 4.0?
Ansprechpartner:
Administrativer Backbone
Welche Herausforderungen für Produkte und
Professor Dr. Martin
Die Komplexität innerhalb einer Produktlebenszyklus-
­Geschäftsmodelle löst Industrie 4.0 aus? Wie orga-
­Eigner, Lehrstuhl VPE
management Strategie (Product Lifecycle Manage-
nisiert man Industrie 4.0-fähige Entwicklungspro-
Karl-Gerhard Faisst,
ment (PLM)) hat derzeit bereits einen sehr hohen
zesse? Welche IT-Werkzeuge stehen im Entwick-
Lehrstuhl VPE
­Level erreicht und der Anstieg der Komplexität von
lungsprozess zur Verfügung? Diese und weitere
Produkten und deren Entwicklung wird sich weiter
Fragen können Sie gemeinsam mit unserem Team
beschleunigen. Um diese Komplexität zu bewältigen
beantworten. > http://vpe.mv.uni-kl.de/industrie40
und die Erfüllung neuer Anforderungen sicherzustellen, muss deren Rückverfolgbarkeit über den
gesamten Produktlebenszyklus in Form einer
­geschlossenen Prozesskette sichergestellt werden.
> Veranstaltungshinweis
Aktuell beschränkt sich die Rückverfolgbarkeit
7. Oktober 2015
­innerhalb gängiger PLM-Lösungen lediglich auf die
Industrial Internet –
Verknüpfung von Produktanforderungen und den
Rethink Products, Processes and IT-Tools
Elementen der Stückliste (E-BOM) in Produktdaten-
7. PLM Future Tagung 2015 im Tagungszentrum
management (PDM) Systemen. System Lifecycle
»Brauhaus an der Gartenschau«, Kaiserslautern
Management (SysLM) wird hierzu als nächste Stufe
> http://vpe.mv.uni-kl.de/veranstaltungen
CVC News 1|2015
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