Nutzfahrzeug-Wissenschaftsstandort Kaiserslautern Technische Universität Kaiserslautern – Lehrstuhl für Virtuelle Produktentwicklung (VPE) Wie sich unsere Welt verändert … Einst Tüftler, jetzt Teamworker in einer digitalvernetzen Welt Ja, das Engineering unterliegt derzeit einem massiven Wandel. S marte Systeme und Technologien, Cybertronische Produkte und Systeme im Kontext des Internets der Dinge und Dienste sowie Industrie 4.0. Die M edien überschlagen sich mit Meldungen über die neue, die vierte industrielle Revolution. 26 CVC News 1|2015 Nutzfahrzeug-Wissenschaftsstandort Kaiserslautern Der amerikanische Ansatz des »Industrial Internet« betitelt – entlang des Lebenszyklus von Investitions- beschreibt diese (R)evolution jedoch weitaus bes- gütern erfordert von Unternehmen allgemein, und von ser als der eingeschränkte und stark deutsch ge- kleinen bzw. mittleren Unternehmen im Besonderen, prägte Begriff Industrie 4.0. Industrial Internet be- eine systematische und unternehmensindividuelle rücksichtigt den gesamten Produktlebenszyklus – Gestaltung der Transformationsprozesse, die den not- von der Produktentwicklung und der Prozesspla- wendigen, integrierten Wandel zum Beispiel in Bezug nung über die Produktion bis hin zum Service – und auf Technologie, Wirtschaftlichkeit, Ressourcen- adressiert sowohl Konsum- und Investitionsgüter schonung, Arbeitsorganisation und Kompetenzen als auch Dienstleistungen. Es bleibt nicht mehr viel gestalten. Zur Umsetzung einzelner Aspekte des übrig vom klassischen Maschinenbau, von mechani- Industrial Internet sind alle Phasen des Lebens schen Produkten und Skizzen am Reißbrett. Dieser zyklus eines Produktsystems einzubeziehen, d. h. Artikel beleuchtet das zukunftsträchtige Trendthema interdisziplinäre und integrierte Entwicklung, Ferti- und bietet fundierte Einblicke in die vernetzte Engi- gung und Montage sowie After Sales. neering-Welt von morgen. Die vierte industrielle Revolution führt zu ver Industrial Internet mit Industrie 4.0 und Internet der netzten und miteinander kommunizierenden Dinge und Dienste bilden die Basis zur Entwicklung Systemen (Produkte, Produktionssysteme und von Smarten Systemen. Objekte jeder Art werden darauf aufbauende Dienstleistungen). zukünftig verstärkt in das Internet integriert sein. Neben der weltweiten Vernetzung von Entwicklung, Sensor-, Aktor- und Identifikationstechnologien Produktion sowie Verkauf wird insbesondere der statten die Objekte mit einer eindeutigen Identität originäre Funktions- und damit Komplexitätsumfang aus und ermöglichen deren Lokalisierung und deren der entstehenden Produkte weiter rapide a nsteigen. Steuerung. Mittels digitaler Produktgedächtnisse und Schon heute sind technische Produkte z unehmend eingebetteter Systeme (Embedded Systems) werden multidisziplinäre Systeme, die von mehreren Ingeni- die Gegenstände (z. B. Nutzfahrzeuge, Konsumgüter, eurdisziplinen entwickelt werden. Virtualisierung, Maschinen) kommunikativ, sowohl untereinander als Integration und Interdisziplinarität zwischen den auch mit ihrem Umfeld. Sie können selbstständig Bereichen Mechanik, Elektrik / Elektronik, Software Entscheidungen treffen und Aktionen auslösen. und Dienstleistung sowie die übergreifende Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Phasen des Die Folge ist eine Verbindung zwischen der phy- Produktlebenszyklus werden zur Grundlage eines sischen Welt der Dinge und der virtuellen Welt der modernen Produktentwicklungsprozesses. Daten. Darauf aufbauend werden neue, oftmals dienstleistungsorientierte Geschäftsmodelle für die Die zunehmende Integration von Informations- und jeweiligen Anwendungen solcher Smart Systems, Kommunikationstechnologien in die Entwicklung und z. B. Smart Products, Smart Factory, Smart Energy, in die Produktsysteme selbst bewirkt einen Para- Smart Farming, Smart Buildings, etc., entwickelt. digmenwechsel, der in den aktuellen Bestrebungen Nach konservativen Schätzungen werden bis zum von Industrial Internet bzw. Industrie 4.0 und Internet Jahr 2020 in das Marktsegment Smart Systems welt- der Dinge und Dienste sowie den Novellen Smart weit voraussichtlich 500 Milliarden Euro investiert. Engineering und System Lifecycle Management eine Optimistische Vorhersagen über die Wertschöpfung deutliche Ausgestaltung findet. dieses Bereiches sprechen von bis zu 15 Billionen Euro weltweit in den nächsten rund 15 Jahren. Eine innovative, interdisziplinäre und vernetzte Produktentwicklung erfordert das Ü berdenken Die Einführung von Industrial Internet – in Deutsch- heutiger, im Engineering bekannter Konstruktions- land noch vielfach als Industrie 4.0 Maßnahmen methoden, Prozesse, IT-Lösungen und CVC News 1|2015 27 Nutzfahrzeug-Wissenschaftsstandort Kaiserslautern Industrie 4.0 Internet der Dinge (Internet of Things) Industrial Internet Internet der Dienste (Internet of Services) Organisationsformen. Elektronik und Software stellen Software, IT-Hardware und Elektrotechnik um 11 % einen immer stärkeren Anteil am Produkt dar. Prozent. Auch in den nächsten Jahren ist mit einem weiteren Rückgang des Herstellkostenanteils bei Konstruktions- und Entwurfsmethoden aller Diszi der Mechanik zu rechnen. Nach Einschätzung der plinen – also Mechanikkonstruktion, Elektrokonstruk befragten Unternehmen werden IT und Automati tion und Elektronikentwicklung sowie Software sierungstechnik vor allem in Bezug auf die Wett entwicklung – müssen auf den Prüfstand gestellt, bewerbsfähigkeit weiter an Bedeutung gewinnen. ihre Tauglichkeit für einen modernen Konstruktionsansatz überprüft, sowie letztlich in einen Die Einflüsse resultieren aus veränderten Markt gemeinsamen integrierten und interdisziplinären bedingungen, aus neuen Anforderungen an Methoden- und Prozessansatz überführt werden. »smarte«-Produkte bzw. -Systeme und aus der IT-Lösungen sind partiell vorhanden, bedürfen aber Kundensicht. Zusätzlich resultiert ein Anstieg der noch einer Weiterentwicklung bezüglich Anwend- Produktkomplexität zum einen aus einer weitaus barkeit und Integration. stärkeren »multimarket« fähigen Produkt-, Deri vaten- und Variantenvielfalt und zum anderen aus Ein Beleg dafür: Die letzten 10 Jahre sind durch einen der ständigen Zunahme elektronischer Komponenten stetigen Wandel der Wertschöpfungsanteile im und der zugehörigen »Embedded Software«. Maschinenbau gekennzeichnet. IT und Automati sierungstechnik ersetzen zunehmend bisher mecha Heute ist lediglich ein Prozent der physischen Welt nisch realisierte Funktionen in den heutigen Pro- vernetzt. Mit dem Internetprotokoll V6 stehen zu- dukten. Statistiken belegen diesen permanenten künftig 430 Sextillionen Internetadressen zur Verfü- Wandel des Produktentwicklungsprozesses (PEP). gung (430 mit 36 Nullen). Bis 2020 werden so rund 37 Milliarden »Dinge« und Dienste mit dem Internet Nach einer aktuellen Studie des VDMA sind zahlreiche verbunden sein. Der wertmäßige Anteil an Elektronik Innovationen des Maschinen- und Anlagenbaus ohne und Software wird bei dieser Art von Produkten und den verstärkten Einsatz von Technologien aus der eingebetteten Dienstleistungen weiter deutlich Informations- und Automatisierungstechnik undenk- zunehmen. Kommunizieren Produkte miteinander, bar. Derzeit entfallen durchschnittlich rund 30 % der wird von »Cyber-Physical Systems« bzw. »Cyber Herstellkosten für ein Maschinenbauprodukt auf IT tronischen Systemen« gesprochen. Software wird in und Automatisierungstechnik. Gegenüber der letzten Zukunft eine Vielzahl von neuen Produktfunktionen Erhebung im Jahr 2008 wächst damit der Anteil von ermöglichen und die Funktionskomplexität der 28 CVC News 1|2015 Nutzfahrzeug-Wissenschaftsstandort Kaiserslautern Produkte weiter erhöhen, andererseits aber auch von PLM aufgebaut und als Schlüsselkonzept zur Kontakt durch eine Verschiebung der Varianz von Hardware detaillierten Beschreibung komplexer, smarter Pro- Technische Universität zu Software, die Entwicklungs- und Fertigungskom- duktsysteme angesehen. Die modellbasierte Ent- Kaiserslautern plexität der Produkte teilweise reduzieren. Aus wicklung (Model-Based Systems Engineering Lehrstuhl für Virtuelle einer zentralen Produktionssteuerung wird ein (MBSE)), als grundlegender Bestandteil einer virtu- Produktentwicklung dezentraler, sich selbst organisierender Prozess. ellen Produktentwicklung innerhalb des SysLM (VPE) Die Folge: autonome Maschinen – die SmartMachine. Konzeptes, ist ein multidisziplinäres ingenieurwissen Postfach 3049 schaftliches Paradigma, das den Entwicklungspro- 67653 Kaiserslautern Entscheidend für die Ausgestaltung des Industrial zess in den frühen Phasen unterstützt und eine [email protected] Internet bzw. von Industrie 4.0 und dem Internet der Rückverfolgbarkeit (Traceability) ermöglicht. Es http://vpe.mv.uni-kl.de Dinge und Dienste sind vor allem Technologien mit kommt auch zu einer deutlich stärkeren Einbe Sensorik und Aktorik mit eingebetteter Intelligenz. ziehung der Softwareentwicklung im PEP, die mittels Ansprechpartner: Nur so ist es für Produkte möglich, ihre Umgebung einer Modellbasierten Virtuellen Produktentwicklung Professor Dr. Martin wahrzunehmen und mit dieser zu interagieren. Auch (MVPE) ermöglicht wird. Eigner die drahtlose Kommunikation wie der BreitbandMobilfunk oder RFID (Radio-FrequencyIdentification) Wissenstransfer und Synergien spielen eine wichtige Rolle. Folglich wird die seman Zu dem zukunftsträchtigen Trendthema forschen Kaiserslauterer Initiative tische Beschreibung von Diensten und Fähigkeiten zahlreiche Kaiserslauterner Wissenschaftler ver- cSSE: Center for Smart wichtig, welche eine Interaktion von Produktkompo- schiedener Fakultäten seit vielen Jahren. In der Systems Engineering nenten und Maschinen auf intelligente Art und Weise aktuellen interdisziplinären Kaiserslauterner Initiative (cSSE) [in Gründung] gewährleisten. Mit »Smart Produce« bzw. »Plug and »Center for Smart Systems Engineering(cSSE)« Interdisziplinäre For- Produce« wird es ermöglicht, dass Maschinen ihr engagieren sie sich, um gemeinsam mit weiteren schung im Themen Umfeld automatisch erkennen und sich mit anderen Partnern aus Wissenschaft und Wirtschaft den bereich Smart Systems Maschinen vernetzen und miteinander kommuni Standort Kaiserslautern durch Wissenstransfer und Engineering zieren können. Dadurch gelingt der Austausch von Bildung von Synergien zukunftsfähig zu halten. [email protected] Informationen über bspw. Aufträge, Auslastung und optimale Fertigungsparameter. www.uni-kl.de/csse Ist Ihr Produktentwicklungsprozess bereit für Industrie 4.0? Ansprechpartner: Administrativer Backbone Welche Herausforderungen für Produkte und Professor Dr. Martin Die Komplexität innerhalb einer Produktlebenszyklus- Geschäftsmodelle löst Industrie 4.0 aus? Wie orga- Eigner, Lehrstuhl VPE management Strategie (Product Lifecycle Manage- nisiert man Industrie 4.0-fähige Entwicklungspro- Karl-Gerhard Faisst, ment (PLM)) hat derzeit bereits einen sehr hohen zesse? Welche IT-Werkzeuge stehen im Entwick- Lehrstuhl VPE Level erreicht und der Anstieg der Komplexität von lungsprozess zur Verfügung? Diese und weitere Produkten und deren Entwicklung wird sich weiter Fragen können Sie gemeinsam mit unserem Team beschleunigen. Um diese Komplexität zu bewältigen beantworten. > http://vpe.mv.uni-kl.de/industrie40 und die Erfüllung neuer Anforderungen sicherzustellen, muss deren Rückverfolgbarkeit über den gesamten Produktlebenszyklus in Form einer geschlossenen Prozesskette sichergestellt werden. > Veranstaltungshinweis Aktuell beschränkt sich die Rückverfolgbarkeit 7. Oktober 2015 innerhalb gängiger PLM-Lösungen lediglich auf die Industrial Internet – Verknüpfung von Produktanforderungen und den Rethink Products, Processes and IT-Tools Elementen der Stückliste (E-BOM) in Produktdaten- 7. PLM Future Tagung 2015 im Tagungszentrum management (PDM) Systemen. System Lifecycle »Brauhaus an der Gartenschau«, Kaiserslautern Management (SysLM) wird hierzu als nächste Stufe > http://vpe.mv.uni-kl.de/veranstaltungen CVC News 1|2015 29
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