Refresher Course Nr. 41 Aktuelles Wissen für Anästhesisten Mai 2015 · Düsseldorf Alte und neue Drogen – Versorgung akuter Notfälle Traditional and New Drugs of Abuse – Management of Acute Emergency Cases H. Desel Zusammenfassung Die Versorgung akuter Vergiftungen mit rauscherzeugenden Drogen ist ein häufiger Anlass notfallmedizinischer Einsätze. Im deutschen Rettungsdienst handelt es sich meist um Alkoholvergiftungen, sehr schwere Vergiftungen durch Methanolkontaminierte Spirituosen sind selten. Viele verschiedene Schmerzmittel verursachen ein Opioid-Toxidrom mit Sedierung und hohem Risiko einer Ateminsuffizienz, während Vergiftungen durch Gamma-Hydroxybuttersäure oder Benzodiazepine ebenfalls sedierend, jedoch nur selten atemdepressiv verlaufen. Stimulierend auf das zentrale und periphere Nervensystem wirken Kokain, Amfetamine und eine Vielzahl neuer psychoaktiver Substanzen, sowie der Entzug von Opioiden oder Alkohol. Die meisten Drogenvergiftungen werden symptomorientiert behandelt: Erregungszustände und Krampfanfälle werden bevorzugt mit hoher Dosierung eines Benzodiazepins therapiert. Spezifische Antidote stehen mit Fomepizol für Methanol-, mit Naloxon für Opioid- und mit Flumazenil für BenzodiazepinVergiftungen zur Verfügung. Die Gabe von Naloxon oder Flumazenil kann bei vorbestehender Drogengewöhnung schwere Entzugserscheinungen hervorrufen. Schlüsselwörter: Opioide – Stimulanzien – Fehlgebrauch – neue psychoaktive Sustanzen Summary Emergency incidences caused by drugs of abuse are frequent events. The majority of cases treated by medical services in Germany are ethanol poisonings. Many analgetics can cause an opioid-toxidrome characterized by sedation and high risk for respiratory depression, while overdosing of gammahydroxybutyrate or benzodiazepines cause sedation, but rarely lead to respiratory failure. Cocaine and amfetamines, as well a withdrawal of alcohol or opioids, lead to stimulation of the central and the peripheral nervous system. Treatment of most acute drug poisonings is symptomatic. Excitational state and generalised seizures are treated with high doses of a benzodiazepine. Specifically acting antidotes are available for methanol poisoning (fomepizol), opioid poisoning (naloxone) and benzodiazepine overdose (flumazenil). However, treatment with naloxone or flumazenil may induce severe withdrawal symptoms in patients adapted to the drug he/she is overdosed with. Keywords: Opioids – stimulants – misuse – novel psychoactive substances (NPS) Alte und neue Drogen – Versorgung akuter Notfälle · H. Desel Einleitung Jede menschliche Kultur kennt Rauschdrogen. Nach aktueller Internationaler statistischer Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) bezeichnet „Akuter Rausch ... ein Zustandsbild nach Aufnahme einer psychotropen Substanz mit Störungen von Bewusstseinslage, kognitiven Fähigkeiten, Wahrnehmung, Affekt und Verhalten oder anderer psychophysiologischer Funktionen und Reaktionen ...“. Nach ICD-10 werden Akuter Rausch und Akutvergiftung gleichgesetzt [1]. Der wiederholte Konsum führt bei vielen Rauschdrogen zu Gewöhnung (Toleranzentwicklung) und schädlichem, d. h. gesundheitsgefährdendem Gebrauch. Letztlich kann langandauernder Rauschmittelkonsum zu einer Abhängigkeitserkrankung (Sucht) führen. Gegenstand dieser Übersicht ist die Darstellung der notfallmedizinischen Versorgung akuter Drogenvergiftungen. Sofern die Vergiftung im Zusammenhang mit einem schädlichen Dauergebrauch von Drogen steht und der Vergiftete diesbezüglich noch nicht behandelt wird, sollte die Akutbehandlung immer in eine suchtmedizinische Weiterbehandlung münden. Neben Alkohol sind Opium, Cannabis sowie Bilsenkraut oder verwandte Pflanzen seit Jahrtausenden als psychisch wirksam bekannt und in Gebrauch. Für akute Zwischenfälle, die zu notärztlichem Einsatz führen, sorgen heute am häufigsten Alkohol (Ethanol) und Opioide; seltener kommen legale pflanzliche Drogen, Kokain, Amfetamine und Ecstasy-Tabletten in Betracht. Mit stark steigender Tendenz werden in den letzten Jahren Vergiftungen mit Liquid Ecstasy sowie mit einer Vielzahl neuer psychoaktiver Stoffe (NPS) beobachtet. Im Jahr 2013 wurden 1.002 Todesfälle durch illegale Dro gen offiziell registriert, was eindringlich auf deren hohe Bedeutung hinweist. Basisversorgung Bei den meisten Drogenvergiftungen beschränkt sich die Behandlung auf die notfallmedizinische Basisversorgung. Gründe hierfür sind einerseits fehlende spezifische Therapie optionen, andererseits eine oft unsichere Drogenidentifizierung. 125 Refresher Course Nr. 41 Aktuelles Wissen für Anästhesisten Mai 2015 · Düsseldorf Die Sicherung der Vitalfunktionen – ggf. mit Atemwegs sicherung und Beatmung sowie Schockbekämpfung – steht im Vordergrund der Basisversorgung von Drogenvergiftun gen. Zur Basisversorgung gehören weiterhin: • Die Anamnese, insbesondere hinsichtlich der genauen Bezeichnung der aufgenommenen Drogen und der Aufnahmewege; • körperliche Untersuchung mit besonderem Blick auf die Pupillen sowie die Schweiß- und Speichelsekretion; • die klinisch-toxikologische Risikobewertung, bei der alle Informationen zu der Droge, ihrer Toxizität und Dosis mit dem klinischen Bild zu einer Diagnose zusammengeführt werden; • Pulsoxymetrie; • kontinuierliche EKG-Ableitung; • wiederholte Blutdruckmessung (möglichst oszillometrisch); • Blutzucker- und (innerklinisch) Elektrolyt-Bestimmung (bei Bewusstseinsstörung oder unklarer Anamnese); • Anlage eines venösen Zugangs mit Infusion einer plasma adaptierten Vollelektrolytlösung (VEL); • ggf. klinische Überwachung des Patienten im Hinblick auf das Auftreten zentraler Krampfanfälle. Weiter ist zu beachten, dass bei Versorgung von Patienten mit intravenösem Drogenkonsum ein erhöhtes Hepatitis B- und HIV-Infektionsrisiko besteht und sich die ärztliche Schweigepflicht auch auf Auskünfte hinsichtlich der aufge nommenen oder gefundenen Drogen gegenüber der Poli zei erstreckt. Versorgung spezieller Drogenvergiftungen Ethanol-Vergiftung und Ethanol-Entzug (Trinkalkohol) Die Vergiftung mit Ethanol (Trinkalkohol) ist die mit Abstand häufigste Akutvergiftung. Etwa 65% aller stationär behandelten Vergiftungsfälle werden durch diese Noxe verursacht. Ethanol wird im Vergiftungsfall praktisch immer oral aufgenommen. Die für organische Lösemittel typische Symptomatik mit Ataxie und Sprachstörung, anfänglicher Euphorie – begleitet von Sprach- und Gangstörungen – und nachfolgender Sedierung sowie das mit größerer Latenz auftretende Erbrechen (mit hohem Aspirationsrisiko) sind allgemein bekannt. Gefährliche Komplikationen sind die Hypoglykämie mit dem Risiko der zerebralen Glukose-Minderversorgung (insbesondere im Kindesalter) sowie die Unterkühlung in der kalten Jahreszeit. Im Verlauf der Behandlung soll stets die innere Belastung des Körpers in Form der Alkoholkonzentration im Blut be stimmt werden. 126 Bei einem Blutalkoholspiegel • ab 0,5 Promille (0,5 g/L) ist mit einer leichten Vergiftung, • ab 1,5 Promille mit einer mittelschweren und • ab 2,5 Promille mit einer schweren, potenziell lebensbedrohlichen Vergiftung zu rechnen. Bei regelmäßigem Ethanol-Konsum entwickelt sich eine Gewöhnung an den Wirkstoff, und die o. a. Schwellen können sich zu erheblich höheren Werten verschieben. Eine schwere klinische Symptomatik bei unerwartet niedrigem Blutalkoholspiegel deutet hingegen auf eine Einwirkung weiterer toxischer Stoffe hin, die durch die klinische Untersuchung häufig nicht oder nur schwer erkannt werden kann (z.B. Methanol-Vergiftung, s. u.). Neben der Ethanol-Vergiftung können bei alkoholgewöhnten Patienten die Symptome eines Ethanol-Entzugs zur Alarmierung des Notarztes führen. Der Entzug beginnt 4 - 12 Stunden nach Trinkende und äußert sich in einer Sympathikusaktivierung mit innerer und motorischer Unruhe, Tachykardie und Hypertonie, Hyperhidrosis, Tremor; zudem mit Muskel- und Kopfschmerzen, gastrointestinalen Störungen und ggf. generalisierten Krampfanfällen. Der Krampfanfall ist das typische Erstsymptom eines Entzugsdelirs, das sich im Weiteren in Orientierungsstörungen, bevorzugt optischen Halluzinationen und mitunter in Wahnvorstellungen äußert. Ein Alkoholentzug besitzt – im Vergleich zum Opioid-Entzug (s. u.) – unbehandelt eine hohe Letalität. • Die Ethanol-Vergiftung und der Ethanol-Entzug werden symptomatisch behandelt; ein Antidot ist nicht verfügbar. • Bei Kindern mit Symptomen nach Ethanol-Aufnahme sowie bei schwer intoxikierten Jugendlichen und Erwachsenen ist durch frühzeitige Glukose-Zufuhr (z.B. 20 - 50 ml Glukose 40% i.v.) einer Hypoglykämie vorzubeugen. • Beim Vollbild eines Entzugsdelirs ist zunächst die Gabe eines Benzodiazepins, ggf. auch in hoher Dosis – z.B. bis 0,5 mg/kg Körpergewicht (KG) Diazepam fraktioniert i.v. oder bis 1 mg/kg KG Diazepam fraktioniert per os. • Als Besonderheit ist in Deutschland eine alternative Behandlung des Ethanol-Entzuges durch Gabe von Clomethiazol (Distraneurin®) etabliert. • Bei starkem Erregungszustand, insbesondere im Entzug, kann bei nicht ausreichender Wirksamkeit des Benzodiazepins zusätzlich ein Neuroleptikum i.v. injiziert werden (z.B. 5 mg Haloperidol; cave: Senkung der Krampfschwelle). Der Hersteller empfiehlt in der Fachinformation seit dem Jahr 2010 nur noch die orale oder i.m.-Applikation von Haloperidol, weil die Substanz – insbesondere in höherer Dosis und bei i.v.-Injektion – die QT-Zeit verlängern und schwere Rhythmusstörungen auslösen kann. Falls im Rettungsdienst eine i.v.-Injektion erforderlich ist, soll diese nach Möglichkeit langsam und unter kontinuierlicher EKG-Ableitung erfolgen. Alte und neue Drogen – Versorgung akuter Notfälle · H. Desel Aktuelles Wissen für Anästhesisten Refresher Course Nr. 41 Mai 2015 · Düsseldorf Vergiftung durch Methanol In Deutschland heute auch als Einzelvergiftung selten, werden international Massenvergiftungen mit Methanol häufig registriert, zuletzt in Kenia im Mai 2014 mit mehr als 60 Todesfällen. Große epidemische Massenvergiftungen in Estland 2001 und in Tschechien 2012 deuten auf ein Risiko auch in der Europäischen Union hin [2, 3]. Typisch sind Mischvergiftungen von Methanol und Ethanol, die durch auf dem Schwarzmarkt erworbene Spirituosen verursacht werden. So konnten im Fall der tschechischen Massenvergiftung in allen toxischen Produkten gleiche Konzentration von Methanol und Ethanol (je 20%) nachgewiesen werden, in Kenia fanden sich neben reinen Methanol-Produkten auch solche mit bis zu 30%-igem Ethanol-Anteil. Da eine wirksame spezifische Behandlung möglich ist, kommt es bei der Methanol-Vergiftung auf die frühe Diagnose an. Der Arzt kann in den ersten Stunden klinisch jedoch nicht zwischen einer Methanol- und einer Ethanol-Vergiftung unterscheiden – zur definitiven Diagnosestellung ist die Bestimmung der Methanol-Konzentration im Blut erforderlich. Der toxikologische Nachweis von Methanol oder des Methanol-Metaboliten Formiat im Blut erfordert jedoch eine toxikologische Spezialuntersuchung, während der frühzeitige Nachweis einer osmotischen Lücke sowie – im Verlauf – einer Anionenlücke und einer metabolischen Azidose in den meisten Kliniklabors möglich ist. Die spezifische Behandlung besteht in der frühzeitigen Infusion von Fomepizol, das die Giftung von Methanol in die toxische Ameisensäure wirksam hemmt. Die alternative Behandlung mit leichter verfügbarem Ethanol (intravenös oder oral) ist schwächer wirksam, erfahrungsgemäß schwer zu dosieren und mit höheren Grad unerwünschter Arzneimittelwirkungen behaftet. Bei spätem Behandlungsbeginn mit Fomepizol oder einer Behandlung mit Ethanol kann im Verlauf eine Hämodialyse erforderlich werden. Opioide und Opioid-Entzug Natürlich vorkommende Opiate wie Morphin oder Codein und ihre halbsynthetisch hergestellten Derivate wie Heroin (internationaler Freiname: Diamorphin) bilden zusammen mit den synthetisch hergestellten Opioiden die Gruppe der Opioid-Rezeptoragonisten. Diamorphin wird meist i.v. oder inhalativ appliziert. Diamorphin ist in Deutschland fast ausschließlich in illegalen Drogen nachzuweisen – die Mehrzahl der Drogentodesfälle ist auf diesen Wirkstoff zurückzuführen. Mit der zunehmenden medizinischen Verordnung konnte in den letzten Jahren ein Anstieg der Vergiftungen mit Schmerzund Substitutionsmittelwirkstoffen vom Opioid-Typ beobachtet werden: Das in Deutschland nahezu ausschließlich zur Substitutionstherapie bei Opioid-Abhängigkeit verordnete Methadon (in Form von Levomethadon oder des weniger potenten Methadon-Racemats) ist ein Opioid-Rezeptorvollagonist, während Alte und neue Drogen – Versorgung akuter Notfälle · H. Desel z.B. Buprenorphin, Tramadol und Tilidin als Partialagonisten am Opioid-Rezeptor wirken. Diese synthetischen Opioide werden oral eingenommen oder wie Diamorphin injiziert. Das Leitsymptom der Opioid-Vergiftung (des OpioidToxidroms) ist die Hemmung des zentralen Atemantriebs (Atemdepression). Die Ateminsuffizienz tritt bei eingeschränktem, mitunter aber nicht vollständig verlorenem Bewusstsein auf. Wichtigstes diag nostisches Zeichen ist eine starke Miosis (stecknadelkopfgroße Pupillen); häufig wird eine Vielzahl venöser Einstichstellen gefunden. Isolierte Überdosierungen von Opioid-Rezeptor teilagonisten sind durch ein geringeres Risiko lebens bedrohlicher Ateminsuffizenz gekennzeichnet. Bei typischer begleitender Einnahme weiterer zentral wirksamer Wirkstoffe (z.B. eines Benzodiazepins) kann es durch Kombinationswirkung dennoch zu einer Dämpfung der Atmungsfunktion kommen. Eine Aufnahme von Diamorphin, Morphin oder Codein kann durch weit verbreitete immunchemische Opiat-Tests nachgewiesen werden, während zum Nachweis von Methadon oder Buprenorphin stoffspezifische Immuntests erforderlich sind. Alle anderen Opioide können nur durch toxikologische Spezialanalytik identifiziert werden. Ein negatives Ergebnis in einem Test auf Opiate schließt somit eine Opioid-Vergiftung nicht aus. Bei manifester respiratorischer Insuffizienz – z.B. pulsoxy metrisch bestimmte arterielle Sauerstoffsättigung (SpO2) <90% – muss die suffiziente Ventilation (initial) durch kontrollierte Beatmung sowie die Gabe des Opioid-Rezep torantagonisten Naloxon gesichert werden. • Naloxon hebt alle Opioid-Wirkungen schnell und vollständig auf; die Substanz kann bei Opioid-Abhängigkeit daher schwere Entzugssymptome (und bei entsprechender Vorerkrankung auch eine kardiale Ischämie) verursachen. • Der Wirkstoff muss daher bei mutmaßlich Opioid-abhängigen Patienten titriert werden (initial in Schritten von 0,1 - 0,3 mg i.v.); die Wirkung setzt innerhalb weniger Minuten ein. • Bei einer Vergiftung mit Buprenorphin sind höhere Dosen (bis 10 mg i.v.) erforderlich; hier setzt die Wirkung erst mit ca. 30-minütiger Latenz ein. Wegen der kurzen Wirkdauer von Naloxon (Halbwertszeit 60 min) kann die Atemdepression erneut auftreten. Die Medikation ist daher genau zu dokumentieren und der Pa tient weiter zu überwachen. Schließlich ist bei Suchtpati enten nach erfolgreicher Antagonisierung mit Abwehr und Flucht zu rechnen, die bei Selbstgefährdung des Patienten zu unterbinden ist. 127 Refresher Course Nr. 41 Aktuelles Wissen für Anästhesisten Mai 2015 · Düsseldorf Bei Patienten, die nicht an einer Opioid-Abhängigkeit leiden – so bei Kindern, die unbeabsichtigt Opioid-Schmerz- oder Substitutionsmittel aufgenommen haben – ist Naloxon gut verträglich. Hier werden 0,1 - 0,3 mg fraktioniert i.v. injiziert. Der Opioid-Entzug ist allgemein durch Unruhe, Tachykardie und Hypertonie sowie Darmkrämpfe und Diarrhoe gekennzeichnet; er besitzt eine deutlich geringere Letalität als ein Alkoholentzug. Die Symptome eines Opioid-Entzuges können durch Clonidin (initial 0,1 - 0,2 mg i.v.) gemindert werden. Diagnostisch schwierig kann sich die Symptomatik nach Aufnahme von Opioid-Rezeptorteilagonisten bei vorbestehender starker Opioid-Abhängigkeit darstellen: Durch Verdrängung im Körper noch wirkender Vollagonisten (wie Methadon, s.o.) vom Rezeptor entwickelt sich häufig eine Entzugssymptomatik. Je nach Begleitmedikation kann dennoch das Risiko einer Ateminsuffizienz bestehen. Hyoscyamin- oder Scopolaminhaltige Pflanzendrogen (Anticholinergika) Hyoscyamin und Scopolamin sind die wichtigsten Vertreter der toxischen Tropanalkaloide, die in vielen Nachtschattengewächsen vorkommen, z.B. im Bilsenkraut (Hyoscyamus niger), der Tollkirsche (Atropa belladonna), im Stechapfel (Datura stramonium) und in der vor ca. 10 Jahren als Auslöser von Vergiftungen sehr häufigen Engelstrompete (verschiedene Brugmansia-Arten; Abb. 1). Durch Tropanalkaloide verursachte Vergiftungsfälle sind in den letzten Jahren in Deutschland selten geworden. Ein Blick auf Geschichte und weltweite Verteilung zeigt, dass diese legal verfügbaren Gifte immer wieder zeitlich begrenzte Epidemien verursacht haben. Die Konsumenten von Tropanalkaloid-Pflanzendrogen gehören vorwiegend zur Gruppe der 14- bis 20-Jährigen. Meist werden frisch zubereitete Aufgüsse (Tees) getrunken. Hyoscyamin wandelt sich bei Aufbereitung des Pflanzenmaterials in Atropin um. Abbildung 1 Die typischen, vom Anwender gewünschten Wirkungen manifestieren sich am ZNS als Anticholinerges Toxidrom: Euphorie (aber auch Dysphorie) als Zeichen zentralnervöser Erregung, Orientierungsstörungen sowie optische und taktile Halluzinationen. Diagnostisch wegweisend sind die oft ausgeprägte Mydriasis sowie die trockene Haut und Schleimhaut (DD: Alkoholentzugsdelir mit Hyperhidrosis). Besonders bei Kindern kommt ggf. eine Hyperthermie hinzu. Durch Fehlwahrnehmungen sind die Patienten besonders unfallgefährdet, zudem besteht Aspirationsgefahr. Ein sicherer Nachweis der Aufnahme von Tropanalkaloiden ist nur durch toxikologische Spezialanalytik möglich. Die Therapie besteht in Reizabschirmung und – sofern bei stark deliranter Symptomatik erforderlich – der Gabe des zentral wirksamen Antidots Physostigmin (als Salicylat; ini tial 2 mg i.v.) oder alternativ der Sedierung mit einem Ben zodiazepin. Differenzialdiagnostisch sind Vergiftungen mit trizyklischen Antidepressiva oder Neuroleptika vom Phenothiazin-Typ zu beachten, die ebenfalls mit ausgeprägtem anticholinergen Toxidrom einhergehen können. Hier besteht jedoch eine relative Kontraindikation für Physostigmin (Risiko der Auslösung schwerer ventrikulärer Rhythmusstörungen). Kokain Kokain wird in Europa wegen seines vergleichsweise hohen Schwarzmarktpreises bevorzugt von gut situierten Erwachsenen geschnupft oder geraucht. In den letzten Jahren ist in Norddeutschland ein Anstieg der Vergiftungsfälle zu beobachten. Die Symptome sind überwiegend leicht und auf wenige Stunden beschränkt. Sehr seltene Ausnahmen stellen lebensbedrohliche Verläufe mit kardialen oder mesenterialen ischämischen Komplikationen dar, z.B. ein Myokardinfarkt bei jüngeren Patienten auch ohne disponierende Gefäßschäden. Besonders gefährdet sind Personen (sog. body packer), die Kokain im Magen-DarmTrakt in ggf. undichten Behältnissen verbergen. In der notfallmedizinischen Behandlung steht meist eine zentralnervöse Erregung mit begleitender Sympathikusaktivierung (Tachykardie, Hypertonie) im Vordergrund. Das Erstsymptom einer schweren Kokainvergiftung ist ein generalisierter Krampfanfall. Die Aufnahme von Cocain ist mittels immunchemischer Tests einfach nachzuweisen. Engelstrompete. 128 • Die Behandlung der Kokain-Vergiftung besteht aus Reiz abschirmung und – soweit erforderlich – der Sedierung mit einem Benzodiazepin in hoher Dosis (z.B. bis 0,5 mg Diazepam/kg KG fraktioniert i.v.). • Da sich die Kokain-verursachte Hypertonie und Tachykar die schnell ändern kann, sind lang wirkende Betablocker oder Kalzium-Antagonisten zu vermeiden. Im Einzelfall ist eine antihypertensive Therapie mit Glyceroltrinitrat zu erwägen. Alte und neue Drogen – Versorgung akuter Notfälle · H. Desel Refresher Course Nr. 41 Aktuelles Wissen für Anästhesisten Mai 2015 · Düsseldorf Kokain wird häufig mit Lidocain gestreckt, wodurch die Symptomatik der Vergiftung deutlich verändert werden kann (Krämpfe, zentralnervöse Dämpfung, Herzrhythmusstörungen). Amfetamine und „klassisches“ Ecstasy „Amphetamin“ (internationaler Freiname: Amfetamin, chemisch: alpha-Methylphenethylamin, bevorzugte Szene bezeichnungen: Speed, Pepp) ist ein indirekt wirkendes Sympathomimetikum mit zentralnervöser Wirkkomponente, das sich durch struktureller Ähnlichkeit zu körpereigenen Katecholaminen auszeichnet. Durch Freisetzung von Dopamin im Zentralnervensystem wirkt es als Psychostimulans und wird einerseits häufig zur psychischen Anregung und Leistungssteigerung (wie bei Piloten des Zweiten Weltkrieges), andererseits aber auch in der Absicht, eine berauschende Wirkung zu erzielen, konsumiert. Medizinisch wird Amfetamin heute nur noch selten zur leitlinienkonformen Therapie des Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms (ADHS) eingesetzt. Hier wird weitaus häufiger Methylphenidat verordnet, das zur Gruppe der Amfetamin-ähnlich wirkenden Stoffe gerechnet wird. Früher wurden Amfetamin-Derivate in weiteren Indikationen als Arzneimittel eingesetzt, z.B. als „Weckmittel“ oder Appetitzügler. Unter den Amfetaminen erlangt zurzeit Metamfetamin (Szenebezeichungen: Crystal-Meth, Yaba) zunehmende Bedeutung und soll durch eine besonders starke Veränderung des Bewusstseins und eine besonders starkes Abhängigkeitspotenzial ausgezeichnet sein. Eine Untergruppe von Amfetamin-Derivaten mit charakteristischer Molekülstruktur (MethylendioxyDerivate, z.B. Methylendioxymetamfetamin, MDMA) wird eine positiv-emotionale Wirkung auf die Wahrnehmung von umgebenden Menschen nachgesagt (entaktogene Wirkung auf den Konsumenten). Chemisch-toxikologisch unscharf werden Präparate mit diesen Wirkstoffen zusammenfassend als Ecstasy bezeichnet. Die Stärke der Wirkung wird – wie beim Alkohol – stark durch eine stimulierende oder beruhigende Umgebung moduliert. Der Notarzt wird mit Ecstasy oder anderen Amfetaminen vorwiegend bei Komplikationen – typischerweise Erschöpfungszuständen nach vielstündiger körperlicher Aktivität (meist Tanzen) ohne ausreichende Flüssigkeitszufuhr – konfrontiert (Amfetamine unterdrücken das Empfinden körperlicher Erschöpfung und den Durst). Darüber hinaus gelangen mitunter Patienten in notfallmedizinische Behandlung, die unter einer unerwarteten Wirkung (z.B. bei Erstkonsum oder Fremdbeibringung) und dadurch ausgelöste Angstreaktion mit starker psychischer Sympathikusaktivierung erheblich leiden. Auch unerwünscht starke oder lang anhaltende Erregung kann zu einer Inanspruchnahme des Notarztes führen. In einer kleinen Fallserie konnte zudem gezeigt werden, dass AmfetaminDerivate – offenbar bevorzugt bei Konsumentinnen – ein Syndrom der inadäquaten Sekretion des antidiuretischen Hormons (SIADH) mit Hyponatriämie und unspezifischen neurologischen Symptomen (Kopfschmerz, Übelkeit, Bewusstseinseinschränkung) verursachen können [4]. Alte und neue Drogen – Versorgung akuter Notfälle · H. Desel Zum Nachweis einer Amfetamin-Aufnahme stehen immunchemische Tests zur Verfügung. Nicht alle Amfetamin-Derivate werden in toxikologisch relevanter Blut- oder Urinkonzentration von Amfetamin-Tests sicher erfasst. Zudem werden bei den antikörperbasierten Amfetamin-Tests häufig falsch positive Befunde, verursacht durch Kreuzreaktion chemisch verwandter untoxischer Verbindungen, gefunden. Der sichere Nachweis einer Vergiftung durch ein Amfetamin ist nur durch toxikologische Spezialanalytik möglich. • Therapeutisch steht bei Amfetamin-induzierter Exsikkose die rasche Flüssigkeitssubstitution mit VEL im Vordergrund. • Darüber hinaus ist die Reizabschirmung und ggf. die Se dierung mit einem Benzodiazepin (z.B. bis 0,5 mg/kg KG Diazepam fraktioniert i.v.) indiziert. • Bei betont peripherer Wirkung ist – nur im Falle einer nicht ausreichenden Wirkung des Benzodiazepins – die i.v.-Gabe eines Betablockers wie Metoprolol zu erwägen. Ecstasy in Tablettenform – oft mit phantasievoller, diagnostisch nicht verwertbarer Aufprägung eines Bildes – ist von Liquid Ecstasy in Kapseln (Abb. 2) zu unterscheiden, das zu einer anderen Stoffgruppe gehört. Liquid Ecstasy Unter der Bezeichnung Liquid Ecstasy werden Drogenpräparate mit den Wirkstoffen Gamma-Hydroxybuttersäure (GHB), Gamma-Butyrolacton (GBL) oder 1,4-Butandiol (1,4-BD) zu sammengefasst. Nur GHB unterliegt zurzeit dem Betäubungsmittelgesetz. GBL und 1,4-BD werden im Körper schnell zu GHB verstoffwechselt. GHB ist ein Agonist an einem Rezeptor für Gamma-Aminobuttersäure (GABAB-Rezeptor) und interagiert mit weiteren neuronalen Rezeptorsystemen. Arzneimitteltherapeutisch wird GHB als Injektionsnarkotikum (Somsanit®) sowie als Narkolepsie-Therapeutikum (Xyrem®) verwandt. Abbildung 2 Liquid Ecstasy. 129 Refresher Course Nr. 41 Aktuelles Wissen für Anästhesisten Mai 2015 · Düsseldorf Liquid Ecstasy wurde früher meist in Salzform in Kapseln verpackt (Abb. 2) oral aufgenommen; heute scheint die Verwendung von flüssigen Präparaten, verdünnt in Getränken, bevorzugt zu werden. Wie klassisches Ecstasy wirkt Liquid Ecstasy zunächst euphorisierend, im Verlauf oder in Überdosis aber zentral dämpfend bis narkotisch, wobei die Atmung meist über einen weiten Dosisbereich unbeeinträchtigt bleibt. Typisch sind ein schnelles Erwachen ohne Residualsymptome und eine ausgeprägte anterograde Amnesie. Als diagnostisch hilfreiches Begleitsymptom besteht oft eine mäßiggradige Bradykardie. Zum Nachweis von GHB in Blut oder Urin eignen sich ein enzymatischer Test und chromatographische Verfahren, die allerdings zurzeit nur in wenigen Laboren verfügbar sind. • Eine Vergiftung mit Gamma-Butyrolakton oder ver wandten Wirkstoffen ist – weitgehend wie eine EthanolVergiftung – symptomorientiert zu behandelt. • Ein Antidot ist nicht verfügbar. Eine beschleunigte Elimi nation mittels Hämodialyse ist zwar möglich, aber bei intakter Nierenfunktion aufgrund der schnellen Sponta nelimination praktisch nicht erforderlich. • Bei Verdacht auf eine Fremdbeibringung (z.B. als sog. k.o.-Mittel im Zusammenhang mit einem Verbrechen) sind die genaue Anamnese und Dokumentation sowie die Asservierung von Materialresten sowie von frühen Blutund Urinproben wichtig. Cannabis Haschisch und andere Cannabis-Produkte werden meist geraucht oder – seltener – oral aufgenommen (z.B. in Gebäck). Nur selten führen unerwünschte Wirkungen zu einer notfallmedizinischen Behandlung. Das Spektrum der meist leichten Symptome ist groß. Am häufigsten wird ein Verwirrtheits- oder Angstzustand bei Personen registriert, die erstmals oder unabsichtlich Cannabis konsumiert haben. Diagnostisch hilfreich ist der Nachweis einer ausgeprägten beidseitigen Konjunktivitis. Selten führt die Angstreaktion sekundär zu einer Sympathikusaktivierung. Sehr selten treten zudem psychotische Reaktionen auf (Depersonalisierung), die einer psychiatrischen Weiterbehandlung bedürfen. Die Aufnahme von Cannabis ist mittels immunchemischer Tests einfach nachzuweisen. Bei der Bewertung ist zu beachten, dass ein positives Testergebnis auch durch einen bereits Wochen zuvor beendeten regelmäßigen Cannabiskonsum verursacht worden sein kann. Die Therapie einer Cannabisvergiftung besteht in Reizab schirmung und ggf. der Sedierung mit einem Benzodiaze pin (z.B. Diazepam oder Midazolam). 130 Benzodiazepine und verwandte Sedativa Benzodiazepine und die ihnen pharmakologisch verwandten Hypnotika Zopiclon, Zolpidem und Zaleplon sind Agonisten am Benzodiazepin-Rezeptor. Ihre Rezeptorbindung verstärkt die zentralnervös dämpfende Wirkung endogen sezernierter Gamma-Aminobuttersäure (GABA). Benzodiazepin-Rezeptor-Agonisten werden oft und in suizidaler Absicht oral eingenommen oder von stark Benzodiazepinabhängigen Patienten intravenös injiziert. Überdosierungen führen zu tiefer Sedierung, wobei bei oraler Aufnahme – und ohne Begleitung anderer zentral dämpfender Stoffe – eine Atemdepression nur äußerst selten auftritt. Zum Nachweis einer Benzodiazepin-Aufnahme stehen immunchemische Tests zur Verfügung; es werden jedoch nicht alle Benzodiazepine in toxikologisch relevanter Blut- oder Urinkonzentration von diesen Tests sicher erfasst. Falsch positive Ergebnisse können durch andere Arzneimittel, typischerweise z.B. durch Metamizol, verursacht werden. Der sichere Nachweis einer Vergiftung durch ein Benzodiazepin ist nur mittels toxikologischer Spezialanalytik möglich, aber nur selten erforderlich. Für die notfallmedizinische Antidot-Behandlung einer Benzo diazepin-Vergiftung ist Flumazenil (Anexate®) verfügbar, das als potenter Benzodiazepin-Rezeptor-Antagonist alle Benzodiazepin-Wirkungen in Minuten aufheben kann. Allerdings ist bei Benzodiazepin-Überdosierung im Regelfall keine Antidotgabe erforderlich. Flumazenil wird im Notarztdienst gelegentlich angewandt, um den Verdacht auf eine Benzodiazepin-Vergiftung zu sichern. Typische unerwünschte Wirkungen in diesen Fällen sind: • Entzugserscheinungen bei vorbestehender BenzodiazepinAbhängigkeit, • Krampfanfälle bei vorausgehender Ko-Ingestion von Benzodiazepinen und krampfschwellensenkenden Medikamenten (häufig z.B. trizyklische Antidepressiva). Darüber hinaus ist bei Flumazenil-Bolusgabe aufgrund kurzer Wirkdauer mit dem Wiederauftreten der Sedierung zu rechnen. Zur Behandlung einer Benzodiazepin-Vergiftung sind kei ne spezifischen Maßnahmen erforderlich, die Basisversor gung ist ausreichend. Neuartige psychoaktive Substanzen (NPS) Allgemeines Viele Drogenkonsumenten sind laufend auf der Suche nach neuer Wirkungserfahrung und oft überraschend leicht bereit, auch in ihrer pharmakologischen Wirkung bisher völlig unbekannte Produkte und Wirkstoffe auszuprobieren. Die Konsumgewohnheiten in der Drogenszene sind daher vom permanenten Wechsel durch Erscheinen neuer Wirkstoffe, aber auch von neuen und schillernden Bezeichnungen für bekannte Wirkstoffe geprägt. Alte und neue Drogen – Versorgung akuter Notfälle · H. Desel Aktuelles Wissen für Anästhesisten Refresher Course Nr. 41 Mai 2015 · Düsseldorf Im Notarztdienst muss mit ungewöhnlichen, teilweise bis her völlig neuartigen Stoffexpositionen gerechnet werden. Neuartige Drogenerfahrungen suchen vorwiegend Jugend liche und junge Erwachsene. Während im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends vorwiegend Drogen pflanzlicher Herkunft im Focus dieser „explorativen Erfahrungssuche“ standen, handelt es sich in den letzten Jahren fast ausschließlich um Stoffe chemisch-synthetischen Ursprungs. Die konsumierten Präparate, oft verharmlosend als Partydrogen oder „recreational drugs“ bezeichnet, enthalten Wirkstoffe, die sich regelmäßig entweder der Gruppe der Cannabinoid-Rezeptoragonisten (kurz „Cannabinoide“) oder der Gruppe der Stimulanzien zurechnen lassen. Therapiebedürftig sind meist in ihrer Art oder Intensität unerwartete körperliche Wahrnehmungen, die zu starker Angst, oft begleitet von ausgeprägter Sympathikusaktivierung, führen. Die Benennung der neuartigen Wirkstoffgruppen war in den vergangen Jahren von einer starken Begriffsverwirrung geprägt, was die toxikologische Bewertung erschwerte. So wurden beabsichtigte Fehlbezeichnungen der Händler zur Verschleierung einer Drogennutzung selbst in die einschlägige wissenschaftliche Literatur übernommen: Neuartige Stimulanzien wurden mitunter als „Badesalz“, „plant food“ oder „research chemical“ bezeichnet, während synthetische Cannabinoide als „Räucherware“ (zur Raumbeduftung) ausgelobt wurden. Mitunter wurde Wirkstoffgruppenunabhängig auch der Begriff „legal highs“ verwendet, womit – auf die Dauer nicht immer korrekt – auf den rechtlichen Status Bezug genommen wurde. Seit dem Jahr 2013 hat sich für die Wirkstoffgruppe die Bezeichnung „Neuartige Psychotrope Substanzen“ (new psychoactive substances, NPS [5]) durchgesetzt. NPS kommen zurzeit in Form neuartiger Stimulanzien, die als Pulver oder Tabletten oral aufgenommen werden, und in Form synthetischer Cannabinoide vor, die im Gemisch mit Pflanzenmaterial geraucht werden. Neuartige Stimulanzien Als klassische Partydrogen gelten die durchweg synthetisch hergestellten Amfetamin-Derivate. Darüber hinaus werden, offenbar vorwiegend aus Ostasien importiert, laufend neue Wirkstoffe in der Szene verteilt. Sie sind den Amfetaminen chemisch weniger verwandt (z.B. Cathinon-Derivate wie Methylendioxypyrovaleron = MDPV), oder gehören gänzlich anderen Stoffklassen an (z.B. die Piperazin-Derivate). Die Substanzen sind jedoch – soweit bekannt – durch einen verwandten Wirkmechanismus charakterisiert. Die typischen Zeichen der leichten Intoxikation sind – hier direkt durch pharmakologische Wirkung erklärbare – Sympathikusaktivierung und psychische Erregung. Sie bedürfen meist keiner spezifischen Therapie. Im Einzelfall können jedoch auch ungewöhnliche oder unerwartete bedrohliche Symptome auftreten. Hier ist vor allem mit ungewöhnlicher Aggressivität Alte und neue Drogen – Versorgung akuter Notfälle · H. Desel gegen den eigenen Körper und gegen andere Personen sowie mit drogeninduzierten Krampfanfällen zu rechnen. Synthetische Cannabinoide Synthetische Cannabinoide werden meist im Gemisch mit Kräutern angeboten und ausschließlich inhalativ aufgenommen, d. h. wie Cannabis geraucht. Die ersten drei identifizierten Produkte mit Wirkstoffen aus dieser Gruppe wurden unter der Bezeichnung „Spice“ vermarktet, vorübergehend hatte sich dieser Namen daher für die Wirkstoffgruppe etabliert (heute überholt). Die klinischen Wirkungen der synthetischen Cannabinoide entsprechen denen klassischer Cannabisprodukte. Unerwartete psychische Wirkqualitäten oder unerwartet starke Wirkung verursachen Angst und Erregung, hier begleitet von einer Sympathikusaktivierung als Folgereaktion. In Einzelfällen traten generalisierte Krampfanfälle auf. Laborchemisch wurden in anderen Fällen – und unerwartet – eine Hypokaliämie gefunden [6]. Versorgung von Vergiftungen durch neuartige psychoaktive Substanzen Eine spezifische Behandlungsmöglichkeit von NPS-Vergiftungen besteht bisher nicht – zu neu und zu vielfältig sind die vorkommenden Wirkstoffe. • Patienten die unter den Symptomen einer NPS-Vergiftung leiden, sollen in ruhige Umgebung gebracht und, sofern erforderlich, sediert werden (Gabe eines Benzodiazepins). • Drogeninduzierte Krampfanfälle werden ebenfalls mit einem Benzodiazepin, bei Therapieversagen mit einem Barbiturat behandelt. • Neuroleptika sind nur bei nicht ausreichender Wirksam keit auch hoher Benzodiazepin-Dosen indiziert; hier ist die Senkung der Krampfschwelle zu beachten. Neben dieser symptomorientierten Therapie ist in NPS-Vergif tungsfällen auf eine Asservierung von Blut- und Urinproben sowie (sofern verfügbar) des konsumierten Produktes zu achten und eine leistungsfähige toxikologische Analytik zu veranlassen. Nur mit sorgfältiger klinischer und analytischer Dokumentation von Einzelfällen lassen sich toxikologische Erkenntnisse gewinnen, die als Grundlage zukünftig spezifischerer Risikobewertung und Therapieentscheidung dienen können (s. u.). Der sichere Nachweis einer Vergiftung durch ein NPS ist zurzeit nur durch toxikologische Spezialanalytik möglich. Rolle der Giftinformationszentren bei Vergiftungen mit NPS Giftinformationszentren (GIZ) können durch die Dokumentation vieler Drogenberatungsfälle helfen, neue Vergiftungen und aktuelle Trendentwicklungen frühzeitig zu erkennen und zu bewerten. 131 Refresher Course Nr. 41 Aktuelles Wissen für Anästhesisten Mai 2015 · Düsseldorf Tabelle 1 Notrufnummmern der Giftinformationszentren in deutschsprachigen Ländern. Berlin +49 30 - 19240 Bonn +49 228 - 19240 Erfurt +49 361 - 730730 Freiburg +49 761 - 19240 Göttingen +49 551 - 383180 (Nummer für Ärztinnen und Ärzte) Homburg/Saar +49 6841 - 19240 Mainz +49 6131 - 19240 München +49 89 - 19240 Das GIZ Nürnberg hat zum 31.12.2014 seinen Betrieb eingestellt. Wien +43 1 - 4064343 Im Einzelfall kann durch lokale und zeitliche Einordnung einer Exposition im Rahmen einer GIZ-Anfrage • ein Produkt identifiziert, • dem Produkt ein Wirkstoff und ein Wirkungsprofil zugeordnet, • eine klinisch-toxikologische Risikobewertung durchgeführt, • die Drogen-Nachweismöglichkeiten zur diagnostischen Unterstützung diskutiert und ggf. vermittelt und • die geeignetste, ggf. stoffspezifische Therapie vorgeschlagen werden. Zürich +41 44 - 2515151 Literatur 1. 2. 3. Insbesondere bei anamnestisch unklarer Vergiftung durch Drogen, einer nicht zur Anamnese passenden Symptoma tik sowie in allen Zweifelsfällen soll frühzeitig ein Giftin formationszentrum konsultiert werden (Tab. 1). 4. 5. Ausblick Alte und neue Drogen werden die Notfallmedizin in der Zukunft gleichermaßen weiter begleiten: Einerseits deuten aktuelle Erfahrungen der Polizei bei der Drogenfahndung darauf hin, dass die Konsumenten in überwiegender Mehrzahl ihren klassischen Drogen biologischen Ursprungs verhaftet bleiben [7]. Andererseits zeigt die Erfahrung der Giftinformationszentren, dass vor allem junge Konsumenten heute in hohem und offenbar zunehmendem Maße risikoreich mit neuen, meist vollsynthetischen Drogen experimentieren. 132 6. 7. Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, Version 2013 (ICD-10-WHO Version 2013), Kapitel V Psychische und Verhaltensstörungen (F00-F99). https://www.dimdi.de/static/de/ klassi/icd-10-who/kodesuche/onlinefassungen/htmlamtl2013/ block-f10-f19.htm (Abruf: 2014-10-29) Paasma R, Hovda KE, Tikkerberi A, Jacobsen D: Methanol mass poisoning in Estonia: Outbreak in 154 patients. Clin Toxicol (Phila) 2007;45:152-157 Pelclova D, Zakharov S, Navratil T Hovda KE: Methanol outbreak in the Czech Republic in 2012: Epidemiology and clinical features. Clin Toxicol 2013;51:252-253 Moritz ML, Kalantar-Zadeh K, Ayus JS: Ecstasy-associated hyponatremia: Why are woman at risk? Nephrol Dial Transplant 2013;0:1-5. United Nations Office of Drugs and Crime (UNODC) NPS – New Psychoactive Substances (World Drug Campaign). https://www.unodc.org/documents/drugs//printmaterials2013/ NPS_leaflet/WDC13_NPS_leaflet_EN_PRINT.pdf (Abruf: 2014-10-31) Hermanns-Clausen M, Kneisel S, Szabo B, Auwärter V: Acute toxicity due to the confirmed consumption of synthetic cannabinoids: Clinical and laboratory findings. Addiction 2012;108(3):534-44 Marth S: Vortrag „Illegaler Drogenhandel“ im Workshop 2014 der Gesellschaft für Toxikologische und Forensische Chemie (GTFCh), Gießen, 2014-10-09. Alte und neue Drogen – Versorgung akuter Notfälle · H. Desel
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