Offene Verdachtsfälle - sed-opfer

Offene Verdachtsfälle und
„Vermeintliche Todesfälle“
Offene Verdachtsfälle
Buchseite 492/3
„Nicht nur für alle der erfassten Verdachtsfälle konnten Archivunterlagen aufgefunden werden.
So verbleiben acht Fälle, deren Klärung weiterhin offen sind. Es handelt sich dabei um angebliche Todesfälle, die vor allem auf die Auflistung der „ Arbeitsgemeinschaft 13.August“ in den
letzten Jahren zurückzuführen sind. Da die Arbeitsgemeinschaft ihre Quellen nicht offenlegt,
wurde nach den damit verbundenen Sachverhalten in allen einschlägigen Archiven und
Auskunftsstellen gesucht, wobei die Schwierigkeit darin bestand, dass die vorhandenen Angaben
wenig Anhaltspunkte für eine gezielte Recherche boten bzw. die Ereignisse schwer nachprüfbar
waren.
So werden zu einem angeblichen Todesfall eines unbekannten Grenztruppenangehörigen weder
ein genaues Datum noch der Ort angegeben. Er soll vor dem 29.Juli 1970 erschossen worden
sein. Möglicherweise handelt es sich um den NVA-Soldaten Willi Born, der sich kurz zuvor nach
einem gescheiterten Fluchtversuch das Leben nahm, oder um den getöteten Grenzsoldaten
Friedhelm Ehrlich, der – vermutlich ohne Fluchtabsicht- wenig später im Grenzgebiet
erschossen wurde. Anhand der vagen Angaben war eine Klärung nicht möglich. Ein anderer
Todesfall betrifft den Unfall eines Kindes, von dem weder Namen noch Geschlecht bekannt ist. Es
soll 1968 in Klein Glienicke zwischen den beiden Brücken zu Tode gekommen sein. Die
Information beruht auf einem IM-Bericht, aus dem lediglich Recherchen, dass wegen dieses
Todesfalls der Zugang zum Ufer gesperrt wurde.
Günther Gums soll nach früheren Angaben der „Arbeitsgemeinschaft 13.August“ am 26.März
1963 bei einem Fluchtversuch erschossen worden sein. Die Arbeitsgruppe hat seinen Namen
aber wieder aus der Todesliste gestrichen. Auch die Angaben über Günther Heim, der angeblich
am 27.Febr.1963 bei einem Fluchtversuch erschossen sein soll, und die zu Joachim Stephan,
dessen Tod vormals auf den 22.Nov.1966 datiert wurde und nahe der Marschallbrücke verortet
war, finden sich nicht mehr auf der Liste. Begründet wurden die Streichungen nicht. Da es keine
validen Überprüfungsmöglichkeiten gibt, sind diese Fälle trotz der Tilgung auf der Liste der
Arbeitsgemeinschaft als offene Fälle weiterhin beibehalten worden. Aufgeführt wird von der
„Arbeitsgemeinschaft 13.August“ weiterhin der fahnenflüchtige Sowjetsoldat Michail Pustowoit,
der am 29.Juli 1980 bei seiner Entdeckung in Berlin Selbstmord verübt haben soll, des Weiteren
seit 2007 ein Fluchtopfer namens Lutz Schmidt. Nach den angegebenen Personendaten wurde
er am 14.Sept.1952 geboren und soll bei einem Fluchtversuch am 21.Febr.1981 angeblich
erschossen worden sein. Daher kann er nicht mit dem 1987 an der Mauer getöteten namensgleichen Flüchtling identisch sein. Zwar gibt es nach Auskunft der BStU tatsächlich einen Mann
mit diesen Namen und Geburtsdatum, er ist jedoch nicht im Zusammenhang mit einer Flucht von
der Stasi erfasst worden. Die Staatsanwaltschaft hatte hierzu auch keine Ermittlungen durchgeführt.
Der achte Fall beruht auf einer falsch angebenen Quelle in der Liste der West-Berliner Polizei.
Demnach soll am 16.Oktober 1972 ein unbekannter Transportpolizist lebslos aus dem stillgelegten U-Bahnhof Bernauer Strasse getragen und mit einem LKW abtransportiert worden sein.
Der Eintrag soll auf einer Zeitungsmeldung der „Berliner Morgenpost“ vom 26.Okt.1972
beruhen. Die entsprechende Information ist in dieser Ausgabe jedoch nicht enthalten. Die
Recherchen in allen einschlägigen Beständen der Polizei, der BStU und des Bundesarchives
verlief ergebnislos.
Die Aufklärung dieser acht Verdachtsfälle war aus den hier genannten Gründen bisher nicht
möglich. „
-2Vermeitliche Todesfälle
Buchseite 489-492
„Nicht alle 575 Fälle, die im Rahmen des Projektes erfasst wurden, haben sich überhaupt als
Todesfälle erwiesen. In 76 Fällen war der Verdacht, es handle sich um ein Geschehen mit
Todesfolge, nicht zu bestätigen. Allein 30 dieser Verdachtsfälle betreffen Ereignisse, bei denen
Flüchtlinge und andere Maueropfer Gewaltakte bzw. Unfälle überlebt haben. In 46 Fällen war
der Verdacht in dem Sinne unbegründet, dass es ein entsprechendes Ereignis nicht gab. Hinzu
kamen schließlich drei Doppelzählungen auf der Liste der „ Arbeitsgemeinschaft 13.August“.
Einige dieser Fälle werden im Folgenden geschildert. Dabei gilt es auch die Schicksale von
Menschen zu berücksichtigen, die Gewaltakte an der Mauer überlebt haben. Denn zuweilen
wurden und werden auch Überlebende als Todesopfer des DDR-Grenzregimes gezählt. So sollen
Angaben der „Arbeitsgemeinschaft 13.August“ zufolge am 10.Dez.1961 an der Berliner Mauer
zwei Personen unter Beschuss ertrunken sein. Ost-Berliner Polizeiberichte scheinen diesen
Sachverhalt zu belegen. Demnach wurden an jenem Abend zwei Flüchtlinge entdeckt und heftig
beschossen, die im Spandauer Schifffahrtskanal auf das West-Berliner Ufer zuschwammen. Der
Verbleib der Personen konnte aber nicht festgestellt werden. Dennoch endet die Meldung mit
der Einschätzung:“ Das jenseitige Ufer des Kanals wurde aller Wahrscheinlichkeit nach von den
Grenzverletzern nicht erreicht“. Westberliner Polizei und Presseberichte zeigten allerdings, dass
diese Annahme falsch ist. Denn beide Flüchtlinge, zwei junge Männer im Alter von 21 und 23
Jahren, haben das andere Ufer zwar unterkühlt, aber unverletzt erreicht.
Das Grenzposten und ihre Vorgesetzen dazu tendierten, im Zweifelsfall einen Fluchtversuch für
gescheitert zu erklären, statt einzustehen, dass ihnen ein Flüchtling entkommen war, vermag
kaum zu überraschen. Aus diesem Grund können Tagesmeldungen der Volkspolizei oder der
DDR-Grenztruppen, die im Wesentlichen auf den Angaben der vor Ort eingesetzten Grenzposten
beruhen, zwar einen Verdacht begründen, geben den Ausgang des Geschehnisses jedoch nicht
immer zuverlässig wieder. Falsche Angaben von Grenzposten gaben auch Anlass zu der
Annahme, am Osthafen sei in der Nacht zum 4.September 1962 ein Flüchtling erschossen
worden. Sowohl westliche als auch östliche Überlieferungen dokumentieren, dass in dieser Nähe
am Ostufer Schüsse fielen und dort am folgenden Morgen die Spree abgesucht wurde. Im Westen
wurde vermutet, die Suchaktion gelte einem Flüchtling, der getroffen und untergegangen sei.
Grenztruppenberichte bestätigen dies, indem sie vermelden, zwischen Osthafensteg und Oberbaumbrücke in Berlin sei ein Kopf im Wasser gesehen worden und nach Abgabe gezielter
Schüsse versunken. Doch die Suche nach dem, wie es hieß, „vermutlich getöteten Grenzverletzer“ blieb seinerzeit erfolglos. Tatsächlich hat es den vermeidlich erschossenen Flüchtling
nicht gegeben. Sie hätten damals nur „aus Frust“ geschossen und anschließend aus Angst vor
Maßregelungen behauptet, ihre Schüsse hätten einem Flüchtling gegolten, versicherten die
beiden Schützen 30 Jahre später glaubhaft gegenüber der Polizei und der Staatsanwaltschaft.
Manchen Verdacht auf Ereignisse mit Todesfolgen, der sich als falsch erwies, liegt also durchaus
ein reales Geschehen zugrunde, sei es ein geglückter oder gescheiterter Fluchtversuch oder ein
anderer Vorfall, der sich an der Berliner Mauer ereignet hat. Dabei hatten die Betroffenen nicht
immer soviel Glück wie die beiden jungen Männer, denen am 10. Dez.1961 trotz Beschusses
unverletzt die Flucht gelang. Diejenigen, die solche Gewaltakte überlebt haben, waren zumeist
DDR-Flüchtlinge. Von den 30 erfassten Betroffenen versuchten 26, die Grenzsperren zu
überwinden. Zehn von ihnen gelangten unter Beschuss nach West-Bln., drei dieser Flüchtlinge
trugen Schussverletzungen davon. 16 Fluchtversuche scheiterten und die Flüchtlinge wurden
verhaftet, neun von ihnen wurden durch Schüsse von Grenzposten verletzt. Vier Betroffene
waren keine DDR-Flüchtlinge: die West-Berlinerin Elke M.; der sowjet. Fahnenflüchtige Mindijan
A.; der DDR-Bürger Wilfried S. u. der Grenzer Hans H.
In anderen Fällen stellte sich heraus, dass der Ausgangsverdacht hinfällig wurde, weil niemand
zu Tode oder zu Schaden kam, wie im Fall der nächtlichen Schüsse, die am 4.Sept.1962 am Osthafen fielen. Es sind dies zumeist Fälle, die seitens der Behörden registriert u. verfolgt wurde,
-3ohne in publizierte Opferliste Eingang zu finden. Auf diese Kategorie entfallen 46 der
untersuchten Sachverhalte. Häufig beruht der falsche Verdacht auf Zeitzeugenaussagen, die zu
vermeitlichen Ereignissen gegenüber westlichen Strafverfolgungsbehörden getätigt wurden. Das
gilt zum Beispiel für die Behauptung, Bernd Lünser, der am 4.Okt.1961 in den Tod stürzte, als er
vom Dach eines Grenzhauses in der Bernauer Strasse nach West-Berlin flüchten wollte, habe
einen Begleiter gehabt, der auf den Dachboden des Grenzhauses zu Tode geprügelt worden sei.
Diese Annahme geht auf West-Berliner Augenzeugen zurück und wurde nicht nur durch
westliche Presseberichte verbreitet, sondern löste auch polizeiliche Ermittlungen aus. Ein
anonymer Brief aus dem Ostteil der Stadt, der die West-Berliner Strafverfolgungsbehörden
erreichte, schien den Verdacht zu bestätigen. „Denkt Euch“ , so stand darin geschrieben, „der
Freund von dem Studenten, wo das Grab ist auf der Bernauer Str., den haben die Schweine
oben auf dem Boden totgeschlagen“. DDR- Akten lassen hingegen keinen Zweifel zu, dass
Bernd Lünser seinen Fluchtversuch allein unternommen hatte. Auch Udo Düllick war allein, als
er am 5. Okt.1961 nach einer dramatischen Verfolgungsjagd kurz vor Erreichen des WestBerliner Ufers in der Spree ertrank. Westberliner Augenzeugen meinten aber gesehen zu haben,
dass er einen oder zwei Begleiter hatte, die bei der nächtlichen Fluchtaktion ebenfalls zu Tode
kamen. Obwohl inzwischen widerlegt, hält sich das Gerücht auch weiterhin.
Wie diese Beispiele zeigen, gingen westliche Behörden seinerzeit jedem Verdachtsmoment nach.
So gab es eine Westberlinerin Ende 1962 bei der Polizei zu Protokoll, ein ihr Bekannter
Schweizer Student habe beobachtet, dass am 6. Dez.1962 ein junger Mann am Grenzübergang
Friedrichstrasse erschossen worden sei. Ein anderer Zeuge gab nach seiner geglückten DDRFlucht 1963 in West-Berlin an, der Freund seines Bruders sei Ende 1962 oder Anfang 1963 bei
einem Fluchtversuch erschossen worden. Das habe ihm seine Mutter geschrieben. Ein Grenzposten, dem die Flucht gelungen war, erklärte im Februar 1963, ein Unteroffizier habe sich
damit gebrüstet, in Groß Glienicke zwei Flüchtlinge erschossen zu haben. In allen diesen Fällen
konnte der Verdacht jedoch weder durch zeitgenössische Ermittlungen noch im Zuge von
Nachforschungen, die die ZERV in den 1990er Jahren vornahm, bestätigt werden.
Andere Fälle gelangten erst in den 1990er Jahren zur Anzeige. So erstattete ein ehemaliger
Grenzer 1990 gegen einen früheren Kameraden Anzeige. Dieser habe zu DDR-Zeiten selbst
behauptet, im Herbst 1962 an der Bernauer Strasse einen Flüchtling erschossen zu haben. Wie
sich herausstellte, sind jedoch in den Unterlagen der Grenztruppen und des MfS keine Hinweise
überliefert, die das vermeitliche Vorkommnis belegen. Die Berliner Staatsanwaltschaft gelangte
schließlich zu der Überzeugung, der Anzeigende habe Rache üben wollen, und stellte die
Ermittlungen ein.
Während in diesen Fällen dem Verdacht offentsichtlich kein reales Vorkommnis zugrunde liegt,
zumindest niemand zu schaden kam, gab es in anderen Fällen „Totgeglaubte“, die entgegen
anders-lautenden Befürchtungen überlebt haben. Zu ihnen gehört Gerhard K., der am
27.Okt.1961 im Norden der Stadt von Ost nach West flüchten wollte. In Westberlin war damals
beobachtet worden, dass der Flüchtling niedergeschossen und danach, ohne ein Lebenszeichen
von sich zu geben, abtransportiert worden war.„Unbekannter Mann wird in Reinickendorf, SBahnhof Wilhelmsruh,erschossen heißt es auf einer vom Westberliner Senator des Innern
zusammengestellten Opferliste aus dem Jahr 1962. Und eine im selben Jahr vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen herausgegebene Broschüre besagt: „Der Schwerverletzte
wurde brutal 30 m durch den Stacheldraht zurückgeschleift und eine Stunde lang
liegengelassen, ehe man ihn abtransportierte….“
Er verstarb am nächsten Vormittag in einem Krankenhaus des Sowjetsektors. Die
Todesnachricht war auf verschlungenen Wegen von Ost - nach West gelangt. Ihre Richtigkeit
konnte seinerzeit weder überprüft werden, noch gab es keinen Grund, sie in Zweifel zu ziehen.
Tatsächlich aber überlebte Gerhard K. und musste, wie er selbst viel Jahre später berichtete,
-4wegen seines Fluchtversuchs eine Haftstrafe verbüßen. Manche Überlebende werden bis heute
als Todesopfer gezählt. So behauptet die „Arbeitsgemeinschaft 13.August“, Elke Märtens sei am
10. Juni 1966 gestorben. Tatsächlich war die damals 21 Jahre alte West-Berlinerin am 15. Juni
1965 zusammen mit Herrmann Döbler unter Beschuss geraten, als sie mit einem Motorboot die
Grenze zum DDR-Umland überfahren haben sollen. Während ihr Begleiter tödlich getroffen
wurde, überlebte Elke Märtens ihre durch einen Streifschuss am Kopf verursachten schweren
Verletzungen, trug aber bleibende gesundheitliche Schäden davon.
Als in den 1990er Jahren Ermittlungen gegen den ehemaligen Grenzposten eingeleitet wurden,
der die Schüsse abgegeben hatte, wurde sie als Zeugin befragt. Sie war inzwischen verheiratet
und wohnte unter anderen Namen, noch immer in Berlin. Vor Gericht vermochte sie aus
Rücksicht auf ihre Gesundheit nicht auftreten. Auch scheute sie, deren Schicksal in den 1960er
Jahren große Schlagzeilen gemacht hatte, wohl die Öffentlichkeit. Dennoch verzichteten
Journalisten damals nicht darauf, die mittlerweile 50-jährige aufzuspüren und über ihre
Geschichte zu berichten.
Schicksale von Überlebenden wie Gerhard K. und Elke Märtens lassen erahnen, dass die Gewalt,
die Menschen an der Mauer angetan wurde, auch lebensbeeinträchtigend wirkte, wenn sie nicht
tödlich war. Auch Günther K. hatte offenbar zeitlebens mit den Folgen seines gescheiterten
Fluchtversuchs zu kämpfen, von dem er eine Gehbehinderung zurückbehielt.
Er war am 5. Oktober 1969 an der Grenze zwischen den Berliner Stadtbezirken Treptow und
Neukölln heftig beschossen und schwer verletzt festgenommen worden. Als die Mauer 20 Jahre
später fiel, ging er im November 1989 nach Oberbayern, wo er in einer Aussiedlerunterkunft
notdürftig unterkam und aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung keine Arbeit fand.
Im Dezember 1990 wandte er sich an die damalige Justizsenatorin, um zu klären, ob er wegen
bei seinem Fluchtversuch erlittenen Verletzungen Entschädigungsansprüche gelten machen
könne. Auf diese Weise kamen Ermittlungen gegen die damaligen Schützen in Gang. Den
Ausgang des Verfahrens hat Günther K. der 1995 krank und einsam starb, jedoch nicht mehr
erlebt. „ Zitatende
Quelle und Autor: Titel“Die Todesopfer an der Berliner Mauer von Hans-Hermann Hertle
u.Maria Nooke Nov.2009 ISBN 978-3-86153-517-1 auf 524 Seiten,
www.chronik-der-mauer.de
Zusammengestellt 2012 zum Gedenken an die Opfer des DDR-Regime, Auszüge aus 492/3, 489492 von sed-opfer-hilfe.de B.G. ; überarbeitet Jan. 2016 – aus Datenschutzgründen - PDF nur für
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