Übung im Sachenrecht FS 2015, Fall 1 – Lösungsskizze

Übung im Sachenrecht FS 2015, Fall 1 – Lösungsskizze
Hinweis: Die untenstehende Skizze soll nur die wesentlichen Problemfelder des Falles – ohne Anspruch
auf Vollständigkeit – stichpunktartig hervorheben; es handelt sich nicht um eine klausurmässig
aufbereitete Musterlösung.
Frage 1 (Herausgabe des Velos durch E an A)
I. A gegen E auf Herausgabe aus ZGB 936 I
A könnte gestützt auf ZGB 936 I die Herausgabe verlangen, falls E in Bezug auf die fehlende
Verfügungsberechtigung von M bösgläubig war. Guter Glaube wird gem. ZGB 3 I vermutet,
sofern jene Vorsicht, die nach den Umständen geboten war, angewendet wurde. Vorliegend
grundsätzlich keine Indizien im Sachverhalt, dass E bösgläubig gewesen sein könnte; daher kein
Herausgabeanspruch gestützt auf ZGB 936 I.
II. A gegen E auf Herausgabe aus ZGB 641 II
A kann die Herausgabe des Velos gestützt auf ZGB 641 II verlangen, falls er sein Eigentum nicht
an E verloren hat.
a) A könnte sein Eigentum verloren haben, indem E das Eigentum am Velo gutgläubig vom
Nichtberechtigten M erworben hätte.
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ZGB 714 II verweist auf die Besitzregeln
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ZGB 933 (Rückforderung bei anvertrauten Sachen): falls die Voraussetzungen von
ZGB 714 II i.V.m. ZGB 933 erfüllt sind, wurde E Eigentümer
(1) Bewegliche Sache (Fahrnis) i.S.v. ZGB 713
bei einem Fahrrad offensichtlich zu bejahen
(2) Sache wurde dem Veräusserer anvertraut
wissentliche und willentliche Übertragung des unmittelbaren Besitzes an einer
Sache vom Berechtigten an einen Vertrauensmann, meist durch Einräumung
obligatorischer Rechte, wie hier bspw. im Rahmen einer Gebrauchsleihe zwischen
A und M. Insbesondere auch dann in der Regel gegeben, wenn die Übertragung
aufgrund eines nichtigen oder anfechtbaren Veräusserungsvertrages erfolgte;
Voraussetzung für das Anvertrauen einer Sache ist (nur) Urteilsfähigkeit der
Beteiligten. Unabhängig von Handlungsfähigkeit des M in Bezug auf den Abschluss
des Leihevertrags daher Anvertrautsein zu bejahen.
(3) Übertragung des Besitzes auf den Erwerber i.S.v. ZGB 922 ff.
Dabei handelt es sich bei einer wie vorliegend erfolgten Besitzübertragung unter
Anwesenden nach Rechtsprechung und h.L. um einen Realakt, weshalb lediglich
die Urteilsfähigkeit der Beteiligten verlangt ist.
Nach einer Minderheitsmeinung handelt es sich hingegen um einen eigenständigen
sachenrechtlichen Vertrag („Vertragstheorie“), weshalb (auch; vgl. zur Gültigkeit des Grundgeschäfts
unten (5)) in dieser Hinsicht die Handlungsfähigkeit der Beteiligten verlangt wäre.
(4) Guter Glaube des Erwerbers i.S.v. ZGB 3
Guter Glaube in Bezug auf die Verfügungsberechtigung des Veräusserers, was in
Bezug auf E grundsätzlich zu bejahen ist, siehe dazu bereits oben (zu ZGB 936).
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(5) Gültiges Grundgeschäft (causa)
Gem. Kausalitätsprinzip hat die Eigentumsübertragung auf einem gültigen Grundgeschäft zu beruhen. Vorliegend wurde zwischen M und E ein Kaufvertrag i.S.v.
OR 184 ff. geschlossen. Jedoch ist M als Minderjähriger nicht handlungsfähig; es
liegt auch kein Fall der beschränkten Handlungsunfähigkeit vor. Zwar ist E auch
diesbezüglich gutgläubig, die Gutgläubigkeit vermag diesen Mangel im Unterschied zur fehlenden Verfügungsberechtigung allerdings nicht zu heilen, weshalb
es am Erfordernis der gültigen Causa fehlt.
Zwischenfazit: kein Eigentumserwerb durch E gem. ZGB 714 II i.V.m. ZGB 933.
b) Sodann könnte A das Eigentum verloren haben, indem E durch Ersitzung Eigentum am
Fahrrad erworben hätte. Ein gültiges Grundgeschäft ist hierfür nicht erforderlich.
Voraussetzungen:
(1) Ersitzbares Objekt (fremde bewegliche Sache) (+)
(2) Unangefochtener Ersitzungsbesitz (+)
(3) Guter Glaube des Ersitzungsbesitzers in Bezug auf das Eigentum an der Sache (+)
(4) Ersitzungsfrist von 5 Jahren
(keine Anhaltspunkte, dass E das Fahrrad von A bereits seit fünf Jahren besitzt)
Zwischenfazit: (Noch) kein Eigentumserwerb durch E gem. ZGB 728 I, da
Ersitzungsfrist noch nicht verstrichen.
Gesamtfazit zu Frage 1: E ist (noch) nicht Eigentümer des Fahrrads geworden; A kann dieses von
E gestützt auf ZGB 641 II herausverlangen.
Frage 2 (Herausgabe des Velos durch F an E)
I. E gegen F auf Herausgabe aus ZGB 936 I
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E ist während der fünfjährigen Ersitzungsfrist Ersitzungsbesitzer; während dieser Zeit
stehen ihm (sofern der Ersitzungsbesitz unangefochten ist und E stets gutgläubig
bleibt) die Rechtsbehelfe aus Besitz zu (ZGB 926 ff. u. ZGB 933 ff.); vorliegend
relevante Rechtsgrundlage für eine Rückforderung sind die Besitzesrechtsklagen
(Fahrnisklagen) gem. ZGB 933 ff.
o
Aufgrund von ZGB 936 kann E die Herausgabe verlangen, falls F bösgläubig war.
Vorliegend zu diskutieren, ob beim Kauf auf einem Flohmarkt nicht grundsätzlich
damit zu rechnen ist, dass dieses ursprünglich gestohlen wurde. F erkundigt sich
gem. Sachverhalt bei D nach dessen Verfügungsberechtigung; fraglich ist, ob F über
die erfolgte Nachfrage hinaus weitere Erkundigungs- oder gar Prüfpflichten treffen.
(Im Ergebnis Bejahung oder Verneinung der Bösgläubigkeit vertretbar.)
II. E gegen F auf Herausgabe aus ZGB 934 I
ZGB 934 (Rückforderung bei abhandengekommenen Sachen; falls die Voraussetzungen von
ZGB 714 II i.V.m. ZGB 934 I erfüllt sind, wurde F Eigentümerin und E hat folglich kein
Rückforderungsrecht mehr):
(1) abhanden gekommene bewegliche Sache (+)
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(2) gültiges Grundgeschäft (+)
(3) Übergabe (+)
(4) guter Glaube
zu diskutieren; vgl. dazu oben zu ZGB 936
(5) Frist 5 Jahre seit dem Zeitpunkt des Abhandenkommens (–)
(keine Anhaltspunkte, dass F das Fahrrad bereits seit fünf Jahren unangefochten
besitzt)
(6) Einrede gem. ZGB 934 II
(Anspruch von F gegenüber E auf Erstattung des selbst bezahlten Kaufpreises, da
der Erwerb von F im Rahmen eines sog. „Marktkaufs“ erfolgte. Zu diskutieren: ist
ein Quartierflohmarkt ein „Markt“ i.S.v. ZGB 934 II? Zudem auch insofern guter
Glaube erforderlich.
Gesamtfazit zu Frage 2: Selbst wenn F gutgläubig ist, ist sie (noch) nicht Eigentümerin des
Fahrrads geworden. E kann dieses von F herausverlangen. Falls guter Glaube und Marktkauf
bejaht werden, hat F gegenüber E allerdings die Einrede gem. ZGB 934 II auf Bezahlung des von
ihr ursprünglich an D bezahlten Kaufpreises.
Frage 3 (Herausgabe des Velos durch F an A)
I. A gegen F auf Herausgabe aus ZGB 936 I
Falls F bösgläubig war, käme ein Herausgabeanspruch von A aufgrund von ZGB 936 I in Betracht
(zur Gutgläubigkeit von F vgl. oben bei Frage 2). Voraussetzung aber wohl: keine freiwillige
Aufgabe des Besitzes durch A. Fraglich, ob die Hingabe an M als freiwillige Aufgabe des Besitzes
zu sehen ist.
II. A gegen F auf Herausgabe aus ZGB 934 I
Grundsätzlich ist die Aktivlegitimation auf den selbständigen/unselbständigen Besitzer im
Zeitpunkt des Abhandenkommens der Sache beschränkt. A hat seinen Besitz am Fahrrad jedoch
bereits vor dem Diebstahl durch D verloren, da die zuvor erfolgte Eigentumsanmassung zum
Besitzverlust führte, weshalb A nach dieser gängigen Definition der Aktivlegitimation nicht mehr
zur Fahrnisklage nach ZGB 934 legitimiert wäre.
III. A gegen F auf Herausgabe aus ZGB 641 II
Eigentumsklage (Vindikationsklage) gem. ZGB 641 II: A ist noch immer Eigentümer des Fahrrads,
weshalb er dieses grundsätzlich gegenüber jedem herausverlangten kann. F kann jedoch das
Lösungsrecht gemäss ZGB 934 II (falls dieses bejaht wird; vgl. dazu Frage 2) wohl auch dem
vindizierenden Eigentümer entgegenhalten.
Gesamtfazit zu Frage 3: Selbst wenn F gutgläubig ist, ist F (noch) nicht Eigentümerin des
Fahrrads geworden; A kann dieses gestützt auf ZGB 641 II von F herausverlangen. Falls guter
Glaube und Marktkauf bejaht werden, hat F allerdings (wohl) auch gegen A die Einrede gem.
ZGB 934 II auf Bezahlung des von ihr ursprünglich an D bezahlten Kaufpreises.
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