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Drangsal
Max Gruber ist Drangsal, wobei Mensch und Kunstfigur so nervös sind, dass sie in ihrer
Unruhe verschmelzen. Max schläft kaum, arbeitet rastlos an seiner Musik, am Tag und in der
Nacht. Er träumt nicht, seine Tage aber sind gesättigt von Fantasien. „Seid lieb zu uns, wir
sind noch Kinder“ erbittet der zu gleichen Teilen zart wie brutal besaitete Mastermind ins
Mikrofon. Das Konzert ist ausverkauft – und die Leute sind nicht nur lieb, sie sind
euphorisch! Obwohl es bisher nur ein paar Demos zu hören gibt. Dieser junge Mensch besitzt
eine Anziehungskraft, soviel ist klar, sein Wesen verspricht Spektakel, sein Auftreten hält es
ein. Harieschaim, das erste Album des 22-jährigen, ist eine dichte Aneinanderreihung von
schnellen, aufgeregten Popsongs – sagen wir: Popwunder? –, keine Atempause, das
Referenzjahrzehnt 80er-Jahre wird erschöpft und durchbrochen.
Harieschaim, heute Herxheim, ist auch ein merkwürdiges Dorf, Max’ Geburtsort
genaugenommen. Nirgendwo in Deutschland hat es so lange Kannibalismus gegeben, im
nahegelegenen Hinterkaifeck wurde 1922 eine ganze Großfamilie ermordet, natürlich
entfernte Verwandte aus Max’ Stammbaum. Doch in Herxheim fing alles an: Sein Vater war
da Gastwirt, nahm Mixtapes für die Kneipe auf, spielte sie seinem Jungen im Auto vor. Das
Kind verfiel so sehr der oft englischen Musik, dass es sich fortan zweisprachig ausdrückte.
Eine popkulturelle Kindheit. Mit 5 Jahren schaute Max mit seinen Eltern MTV, verlor sich in
Marylin Mansons The Dope Show. Von da an wusste er: Ich will auch irgendwie so etwas
werden. Ein Weirdo. Spätestens in der Pubertät stellte er fest, ohnehin einer zu sein. Man
könnte aber auch sagen: ein Charakter! Nun galt es für den jungen Entschlossenen, Formen
für sein diffuses Wesen zu finden. Und das in einem erzkatholischen Dorf bei Landau! Max
ging durch eine harte Schule: „Entweder ich lasse mich in der Pause verkloppen, oder ich
lackiere mir die Fingernägel in einer noch auffälligeren Farbe.“
Diese Schule jedenfalls hat seiner Kunst nicht geschadet, ebenso wenig wie sein
autodidaktischer Lernprozess: „Mit 14 wusste ich dann: wenn ich Musik machen will, muss
ich mir das aneignen.“ Und egal was er getan hat, für Herxheim war es zu krass. Also weg da:
in Landau freundet er sich in ihren Anfangstagen mit Sizarr an, über Mannheim geht es nach
Leipzig und Berlin, immer auf der Suche nach einem Ausdruck. Früh lernt er den späteren
Hitproduzenten Markus Ganter kennen. Der ist da selbst noch ein unbeschriebenes Blatt, aber
Max entscheidet: mit dem werde ich später arbeiten. Ein paar Jahre darauf ruft Ganter ihn an:
Wollen wir jetzt dein Album machen? Max rastet aus. Es geht los. Seit seinen ersten Songs
wird Max dabei von Ganters Erlkönig, Benjamin Griffey alias Casper, protegiert. Max hat
ihm viel zu verdanken.
Auch wenn in dieser Biografie manchmal die Rede von Fügung sein könnte, ist sie durchaus
troubled, hat Spuren hinterlassen. Zum Beispiel auf der von Tattoos gezeichneten Haut, die
von Max’ Besessenheit gegenüber exzentrischen Industrial-Protagonisten oder dem
Abseitigen per se erzählt. Hier finden wir eine Seele, die die Dunkelheit kennt! So ist es
durchaus bemerkenswert, wie eingängig, weltgewandt und freundlich die zehn Songs auf
Hariescheim daherkommen. Man könnte gar behaupten, in der Musik des Max Gruber
kreuzten sich gleich mehrere Widersprüche! Und wenn es so viel Abgrund gibt, warum meint
man dann beim Hören, Max wolle die ganze Welt umarmen? „Wenn ich das, was in mir
vorgeht, auf der Straße erzählen würde, hätte ich Probleme – wenn ich aber davon singe,
tanzen die Leute. Und am Ende des Tages will ich den Menschen eben lieber etwas geben,
über das sie sich freuen können, als dass es ihnen schadet. So als ob ich all das Schlechte in
ein Rohr stecke und am anderen Ende kommt etwas heraus, das den Leuten gefällt – das finde
ich einen schönen Gedanken.“ Wie in der Idee des Wolpertingers, nach dem er auch einen
Song benannt hat, funktioniert sein Prinzip: All das, was er sein will und doch nicht bedeuten
kann (weil es das nicht gibt), nimmt er auseinander, setzt es zusammen, formt es zu einem
und wird zu diesem Wesen, das den Widerspruch nicht nur in sich trägt, sondern stolz nach
außen zeigt.
Dann purzelt Max noch ein Satz aus dem Mund, der so ziemlich alles sagt: »Musik ist oft ein
Substitut für Tränen, ich will am Ende aber lieber Lachen als Weinen.« Seine Musik – vom
Jugendzimmer bis auf die großen Bühnen – lädt ein, dabei mitzumachen. Und so findet Max
Gruber zum Leben und seine Musik zur Welt!
–Hendrik Otremba