Literarische Welt, 19. Dezember 2015 - Verlag für Berlin

SACHBUCH
SAMSTAG, 19. DEZEMBER 2015
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DIE REDAKTION SCHREIBT
Und dann kamen die Sechsgeschosser:
Blick aus der Großbeerenstraße auf den Kreuzberg
(1887). Das niedrige Haus im Hintergrund muss bald
weichen – ähnlich wie die letzte Windmühle an der
Kreuzberger Fidicinstraße im Jahr 1890 (u.)
Glanz und Elend
einer Hauptstadt
D
COURTESY SCHIRMER / MOSEL (2)
assen Sie uns eine kleine Theorie
des städtebaulichen Findlings
wagen. So wie erratische Blöcke
in der freien Natur bezeugen,
dass es einmal eiszeitliche Gletscher gab, die gewaltige Granitbrocken aus den Bergen über die
flachen Lande geschoben haben, so bergen
manchmal auch Städte scheinbar ortsfremdes
Gestein: bauliche Überbleibsel früherer Zeiten,
die seltsam unpassend scheinen.
Da wäre zum Beispiel „Das öde Haus“ unter
den Linden, titelgebendes Gebäude einer 1817
entstandenen Erzählung von Ernst Theodor
Amadeus Hoffmann. E. T. A. Hoffmann (1776
bis 1822), literaturgeschichtlich als „Gespenster-Hoffmann“ und Vertreter der Schauerromantik eingetütet, lebte Anfang des 19. Jahrhunderts als Jurist in Berlin. Da war die Hauptstadt Preußens noch weit entfernt von jener Urbanität, als die sie sich als Millionenmetropole
am Ende des gleichen Jahrhunderts auszeichnete. Und doch war die Straße Unter den Linden
bereits zur Prachtmeile ausgebaut. In einem repräsentativen Umfeld voller Schaufassaden fällt
dem Flaneur Theodor ein ödes Haus ins Auge,
weil es „auf ganz wunderliche seltsame Weise“
von allen übrigen abstach:
„Denkt euch ein niedriges, vier Fenster breites, von zwei hohen schönen Gebäuden eingeklemmtes Haus, dessen Stock über dem Erdgeschoss nur wenig über die Fenster im Erdgeschoss des nachbarlichen Hauses hervorragt …
Denkt euch, wie solch ein Haus zwischen mit
geschmackvollem Luxus ausstaffierten Prachtgebäuden sich ausnehmen muss. Ein unbewohntes Haus in dieser Gegend der Stadt!“
Ja, im städtebaulichen Kontext kann auch Architektur eine unerhörte Begebenheit sein. Ein
verwahrlostes Haus inmitten vornehmer Fassaden fordert den Erzähler Hoffmann geradezu
heraus, „dasjenige Exzentrische zu schauen, zu
dem wir in unserem gewöhnlichen Leben keine
Gleichung finden und es daher
wunderbar nennen“.
Michael Bienerts Buch
„E. T. A. Hoffmanns Berlin“,
ein literarischer Stadtführer
nach dem Vorbild von „Kästners Berlin“, funktioniert – gerade in seiner Stadtplangenauigkeit – als wunderbare Folie,
um Hoffmann als Zeitzeuge
und Flaneur-Vorläufer jener
städtebaulich unerhörten Begebenheiten zu begreifen, mit
denen Berlin im weiteren 19.
Jahrhundert fortlaufend konfrontiert blieb.
Keine zweite Großstadt auf
dem europäischen Kontinent
entwickelt sich in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts so
explosionsartig wie die preußische und spätere deutsche
Hauptstadt. Noch 1848 liegt die Einwohnerzahl
Berlins bei kaum mehr als 400.000. 1871 sind es
800.000 und im Jahr 1905 bereits zwei Millionen Einwohner. Dazwischen liegt das, was man
bis heute Gründerzeit nennt. Durch seinen beispiellosen Bauboom und sein rücksichtlos rasantes, damals „amerikanisch“ genanntes
Wachstum produzierte Berlin städtebauliche
Überbleibsel am laufenden Band. Windmühlen
standen neben neuen Wassertürmen, und bedrohlich hoch aufgeschossene Gründerzeitfassaden flankierten einstöckige Dorfgasthäuser,
die plötzlich exzentrisch mickrig wirken wie Baracken. Tatsächlich könnte man von Hoffmanns
Erzählungen bis zu Tarantino in „From Dusk
Till Dawn“ eine kulturhistorisch belastbare
Spur legen, wie sehr Spuk und Horror von
städtebaulichen Fratzen ausgeht.
Auch die von Miriam Paeslack herausgegebene, einzigartige Dokumentation früher Fotografien aus den Jahren 1850 bis 1914 ermöglicht einen differenzierten Blick auf Berlins rasante urbane Entwicklung im 19. Jahrhundert. Da
U
Neues Berlin,
so kulturlos
Keine andere Stadt wurde schneller zur Metropole.
Mit der Bauspekulation wuchs auch die Hassliebe auf
die ewig unfertige Hauptstadt Marc Reichwein
U
Berlin im 19. Jahrhundert
Neuerscheinungen zum Thema
Die städtebauliche Dynamik Berlins
lässt sich literarisch, fotografisch und
kulturessayistisch nachvollziehen:
„E. T. A. Hoffmanns Berlin“ von Michael Bienert (vbb, Berlin. 176 S., 24,99
€) legt Spuren ins frühe 19. Jahrhundert. Der Band „Berlin im 19. Jahrhundert“ von Miriam Paeslack (Schirmer/Mosel, München. 232 S., 49,80 €)
zeigt frühe Fotografien der Jahre 1850
bis 1914. „Berlin. Ein Stadtschicksal“
von Karl Scheffler (hg. von Florian
Illies. Suhrkamp, Berlin. 222 S., 21,95 €)
ist die Neuausgabe eines polemischen
Essays aus dem Jahr 1910.
wächst zum einen das repräsentative und imperiale Berlin heran, wie wir es mit Kaiserdom
und Schlossfreiheit bis heute bzw. bald wieder
kennen. Zum anderen entsteht das bürgerliche
Berlin der funktionalen Verkehrs- und Versorgungsinfrastrukturen: Bahnhöfe, Schlachthöfe,
Strafgefängnisse und Wassertürme. Am beeindruckendsten expandieren die Wohnquartiere.
Sie machen Berlin zur Vorher-nachher-Show,
wobei man mithilfe des Fotobands nicht nur
Zeuge der Expansion, sondern auch der Revision, sprich des Umbaus existierender Straßen
und Plätze wird. Wie ein erratischer Block wirkt
etwa der „Eisbock“ am Schlesischen Tor, ein
Überbleibsel aus vorhauptstädtischen Zeiten.
Karl Gutzkow bezeichnet ihn in seinem Aufsatz
„Zur Ästhetik des Hässlichen“ als „ein die Straße entstellendes“ Gebilde, das „noch immer
nicht den Mahnungen der Polizei und Stadtbehörde gewichen“ sei.
Und dabei ist Berlin sowieso schon hässlicher
als die Polizei erlaubt. Wer unterhaltsam nachlesen will, wie sehr die „Kulturlosigkeit Neu-
Berlins“ als das reine „Produkt eines Baumarktes“, sprich als Ergebnis einer ungezügelten Immobilienspekulation verdammt wurde, lese die
Polemik „Berlin. Ein Stadtschicksal“. Das erstmals 1910 erschienene Buch von Karl Scheffler
geht Berlin (neben latent rassistischen Tiraden
gegen seine „Mischbevölkerung“) vor allem architekturkritisch an. Dieses neue Berlin sei
„straßenweise auf Vorrat gebaut“ und stehe mit
seinen „repräsentativ verlogenen Stuckfassaden“ der „industriellen Massenfabrikation“ nahe. Der „großstädtisch entartete Eklektizismus“ der neuen Baukultur, der alle Fassaden
mit seiner „ornamentalen Kruste“ überzieht, ist
Scheffler ein Graus.
Wie immer ist alles eine Frage der Perspektive: Das für die neuen Wohnquartiere typische
„Etagenhaus mit seiner erlogenen Palastprächtigkeit“, das wir heute als Altbau schätzen – in
der Gründerzeit selbst war es umstritten. So
wuchtig und monströs, wie sich die „Pseudopaläste“ an die Natur heranschieben, wirken auch
sie ein wenig erratisch und exzentrisch.
ass es so etwas noch nicht
gab in der Literatur über
Berlin: eine kleine Architekturgeschichte der Stadt von
den Anfängen bis heute.
„Welt“-Redakteur Rainer Haubrich hat sie
geschrieben, in knapper, prägnanter Form.
In fünf Kapiteln erfährt der Leser, warum
Berlin aussieht, wie es aussieht. Und der
Autor lässt keinen Zweifel daran, was aus
seiner Sicht gelungen ist und was nicht:
„Glanz und Elend eines Stadtbildes“, lautet der Untertitel des Buches.
Gemäkelt wurde immer. Friedrich I. war
Berlin zu provinziell, weshalb er das
Schloss baute; Friedrich der Große wollte
das Stadtbild vereinheitlichen; Karl Friedrich Schinkel beklagte die vielen verbauten
Ecken des Zentrums und entwarf einen
„Idealplan“ zur Behebung der Malaise.
Über das wilhelminische Berlin findet man
kaum ein gutes Wort – zu Unrecht, meint
Haubrich, denn die Gründerzeitquartiere
gehörten heute zu den gefragtesten Wohnvierteln. Zu Beginn der Moderne hätten
alle maßgeblichen Kritiker eine neue Einfachheit herbeigesehnt, die Berlin von
Grund auf verändern sollte. „Sie konnten
nicht ahnen, auf welch fatale Weise ihr
Wunsch unter den Nazis und in der Nachkriegszeit in Erfüllung gehen würde.“
Wolf Jobst Siedler habe 1964 mit seinem
Buch „Die gemordete Stadt“ die treffende
Analyse geliefert: Mit den Mitteln der
Nachkriegsmoderne sei es nirgendwo gelungen, etwas so Lebenswertes zu schaffen
wie die traditionelle europäische Stadt. Die
konservative Stadtplanung nach dem Mauerfall kommt bei Haubrich also gut weg. Es
sei gelungen, eine „dritte Zerstörung“
Berlins nach Krieg und Wiederaufbau zu
verhindern: „Der internationale Architekturzirkus hatte sich die Stadt als liebste
Spielstätte für seine Sensationen ausersehen. Hätte man die illustre Schar der
Baumeister nach deren Gusto schalten und
walten lassen, Berlin sähe heute aus wie
eine Mischung aus Shanghai und Dubai.“
Das Buch setzt einen anderen Akzent als
die meisten kunsthistorischen Betrachtungen. Nicht nur das Neue jeder Epoche wird
gewürdigt, sondern auch jene Traditionen,
an denen über Jahrhunderte festgehalten
wurde. Nicht immer habe sich das jeweils
Fortschrittlichste bewährt – und die Intentionen seien nicht immer identisch
gewesen mit den Resultaten: „Manches,
was von Verbrechern gebaut wurde, gehört
zum Besten in der Stadt, während anderes,
was in bester Absicht geplant wurde, ein
Verbrechen an der Stadt war.“
Rainer Haubrich: Berlin.
Glanz und Elend eines Stadtbildes.
Nicolai, Berlin, 176 S., 19,95 €.
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