Presseartikel Caritas-Ausstellung 2015 geschrieben von Friederike

Schau hin, du bist gemeint! Blickwechsel der Nächstenliebe
Den Anderen in den Blick zu nehmen und tätig zu werden, steht im Zentrum der christlichen Nächstenliebe.
Das Erzbistum Paderborn feiert das 100jährige Jubiläum des Caritasverbandes mit einer umfangreichen und
beeindruckenden Ausstellung im Paderborner Diözesanmuseum.
Links: Bill Viola, Observance (2002), Filmstill aus einem Video, Walker Art Gallery, Liverpool (Foto: Kira Perov); rechts: Albrecht Dürer, Die vier
Apostel (1526), Öl und Tempera auf Lindenholz, Alte Pinakothek München (Foto: Immanuel Giel).
VON FRIEDERIKE RÖMHILD
"Ich glaube fest daran, dass die wahre
Kraft der Menschen in ihrer kollektiven Energie liegt. Wenn wir etwas
gemeinsam angehen, können wir im
wahrsten Sinne des Wortes Berge
versetzen". Dieses Zitat stammt von
dem amerikanischen Video- und Installationskünstler Bill Viola aus New
York, der mit seinem Werk
„Observance“ (2002) in der Paderborner Ausstellung „CARITAS –
Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart“ vertreten ist.
Bill Violas Werk „Observance“ (2002),
das in der Ausstellung zu sehen ist, ist
in der Modern Art Collection der
Walker Art Gallery in Liverpool beheimatet und gehört zu einem der
wichtigsten Werke der Videokunst
der Gegenwart. Es ist Teil der dritten
Serie von „The Passions“ und ist angelehnt an Albrecht Dürers Altarflügel
Die Vier Apostel (1526) (das leider
nicht in der Ausstellung gezeigt wird).
Im Video „Observance“ zeigen Menschen unterschiedlicher Herkunft und
Sozialisation ganz intuitiv ihre Betroffenheit und Erschrockenheit, die
durch den Anblick einer Sache bzw.
eines Sachverhalts ausgelöst werden.
Einer Sache? Das lässt sich so nicht
sagen, zu vermuten ist, dass sie eher
etwas den Menschen betreffendes
sehen, dass sie erschreckt, schockiert,
verwirrt, überwältigt, schmerzt, auf
alle Fälle aufmerksam macht. Die
Heftigkeit ihrer emotionalen Mimik
und Gestik lässt ahnen, dass das, was
sie sehen sich in der Dimension von
Tod und Verlust abspielt. Wir können
nur spekulieren, denn so sind es wir
selbst, die diesen Menschen direkt
gegenüberstehen als seien es wir, die
ihrer Nächstenliebe bedürften. Zugleich sind wir es, die diese Menschen
in spiegelbildlicher Weise ansehen
und deren Emotionalität uns betroffen und empathisch macht. Auf diese
einzigartige und außergewöhnliche
Weise regt dieses Kunstwerk dazu an,
Nächstenliebe in ihrer interaktiven
Dimension zu reflektieren. Viola zeigt
mit „Observance“, dass es eine so
deutliche Trennung zwischen mir und
den anderen gar nicht gibt. Zugleich
befördert es eine offenere und intensivere Trauerkultur, in der Nächstenliebe gelebt wird, insofern man sich
vom Leid gerade nicht abwendet.
Die Paderborner Ausstellung zum
Thema Nächstenliebe überrascht
nicht nur mit diesem besonderen
Werk eines weltberühmten Künstlers,
sondern präsentiert ihren Besuchern
einige weitere hochkarätige Exponate
von der Antike bis zur aktuellen Gegenwart. Unter den rund 150 Exponaten befinden sich antike Sarkophage,
Wandmalereien aus römischen Katakomben, Buchmalerei, Manuskripte,
Bucheinbände und Schatzkunst mittelalterlicher Könige und Kaiser, Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen,
Fotografien und Videos namenhafter
Künstler wie Raffael, Lucas Cranach d.
Ä., Peter Paul Rubens, Pablo Picasso,
Käthe Kollwitz, Ernst Ludwig Kirchner
sowie Fotoarbeiten von Vanessa
Beecroft und Video- und Installationskunst von u.a. Bill Viola sind in der
Ausstellung versammelt. Die Exponate stammen aus Europa und den USA,
aus der Pinacoteca Vaticana in Rom
oder dem Metropolitan Museum in
New York. Die Ausstellung, die seit
dem 13. Juli und bis zum 13. Dezember 2015 im Diözesanmuseum Paderborn zu sehen ist, erinnert uns daran,
das Caritas nicht nur eine lange
Kunst- und Kulturgeschichte hat,
sondern durch den Einzelnen und die
Gesellschaft immer wieder neu erarbeitet werden musste. Und das gilt
bis heute, wollen wir in einer humanen Gesellschaft und einer Welt leben, die „bewohnbar“ ist, um es mit
Heinrich Böll zu sagen, der dies nach
dem Zweiten Weltkrieg über Literatur
und Sprache zu erreichen versuchte.
Anlass der Ausstellung ist das
100jährige Jubiläum des Caritasverbandes für das Erzbistum Paderborn.
Der Caritasverband wurde am achten
Dezember 1915 vom Bischof Karl
Joseph Schulte im Erzbistum Paderborn gegründet. Dass die Kuratoren
Prof. Dr. Christoph Stiegemann und
Dr. Christine Ruhmann mit dieser
Ausstellung ein brisantes Thema entfalten, zeigen die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Geschehnisse wie die Flüchtlingswelle,
die Griechenland-Krise oder die Konflikte in der Ukraine. Zugleich macht
sie noch einmal auf Themen aufmerksam, die hinter diesen aktuellen Ereignissen schneller in Vergessenheit
geraten wie die Obdachlosigkeit zahlreicher Menschen, die Bedeutung von
Alten- und Krankenpflege oder die
Arbeit im Hospiz. Dabei scheint der
Begriff „Nächstenliebe“ jedem vertraut, fast alle werden von „Nächstenliebe“ gehört oder selbst schon
einmal gesprochen haben, vielleicht
auch eigene Erfahrungen gesammelt
haben. Doch Nächstenliebe – was ist
das eigentlich? Und handelt es sich
dabei angesichts der Katastrophen
eher um eine Utopie oder tatsächlich
um ein gewohntes Lebensmotto des
tätigen Menschen in der Gesellschaft? Die Paderborner Ausstellung
nimmt die Geschichte und mit ihr die
Struktur, Entwicklung und Ausgestaltung des Begriffes Nächstenliebe und
seine gesellschaftspolitische und
seine individuelle, ethische und alltägliche Dimension in den Blick. Der
Schwerpunkt der chronologisch aufgebauten Ausstellung liegt auf der
christlichen Nächstenliebe, der Caritas im europäischen Raum.
Die Ausstellung zeigt die Geschichte
der Nächstenliebe, Caritas, beginnend
bei den frühen Christen im römischen
Reich. In der Antike galten alle Menschen als Kinder Gottes und waren
zur Nächstenliebe verpflichtet. Die
Idee der Nächstenliebe war in ihren
Anfängen geradezu revolutionär und
wurde zu einem Zentralbegriff des
Christentums in der Ethik der Antike.
Nächstenliebe aus christlicher Perspektive entspricht nicht einfach nur
dem Gefühl von Mitleid oder ist eine
zufällige
Eigenschaft
Einzelner.
Nächstenliebe ist ein ethisches
Pflichthandeln, das mit dem göttlichen Willen übereinstimmt. Im Zentrum der Nächstenliebe stehen Gottesliebe und Selbstliebe. Nächstenliebe und Gottesliebe sind untrennbar
verbunden, weil erst in der Begegnung mit Gott der Fremde mein
Nächster wird. „Nun aber bleiben
Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei;
aber die Liebe ist die größte unter
ihnen“ (Paulus 1 Kor 13,13) – Dieser
Ausspruch stammt aus einem der
ältesten erhaltenen Briefe des Apostel Paulus an die Korinther und ist
eines der großen Highlights der Paderborner Ausstellung. Im Neuen
Testament, das die Nächstenliebe in
den Korintherbriefen ebenso wie in
der Bergpredigt, den Johannesevangelien, bei Martin Luther und Franz
von Sales diskutiert, wurde auch über
die Reichweite von Nächstenliebe
reflektiert. Unser Nächster ist jeder
Mensch, besonders der, der unsere
Hilfe konkret und ungefragt braucht.
Nächstenliebe ist nicht an das Glaubensbekenntnis gebunden, sondern
eine Praxis, ein Tun des Willen Gottes, die nicht nur den gläubigen Christen, sondern jedem Menschen gilt.
Diese Einsicht trieb auch Martin Luther in der Reformation voran, um
Nächstenliebe aus dem Leistungsprinzip zu lösen, das das Mittelalter
geprägt hatte. Das mittelalterliche
Weltgericht sendete mahnende Appelle an die Menschen, gute Werke
im Diesseits zu vollbringen, um ins
Paradies zu gelangen, für das Jenseits
sozusagen vorzusorgen. Statt zu fragen, wer ist mir der Nächste, kehrte
Jesus die Frage um: Für wen bin ich
der Nächste, wer braucht mich jetzt,
wem kann ich helfen? Wer Gott liebt,
liebt sich selbst und seinen Nächsten.
Diese Verknüpfung des Selbst mit
dem Anderen durch Gott hat auch Bill
Viola in seiner Videoinstallation
„Observance“ im Kern angesprochen.
Es ist faszinierend wie die Paderborner Ausstellung es schafft, den Faden
von der Antike bis in die Gegenwart
zu ziehen und dabei Nächstenliebe als
eine religiöse, gesellschaftliche und
individuelle Ethik ansichtig zu machen.
Bereits im Mittelalter wurde die Caritas institutionalisiert. Es entstanden
in den wachsenden Städten und in
Zeiten von Pest, Hunger und Krieg
Hospitäler sowie Armen- und Waisenhäuser. Die sich im 16. Jahrhundert entwickelnden frühstaatlichen
Versorgungseinrichtungen wurden im
18. Jahrhundert durch Bildung, Verwissenschaftlichung und Säkularisierung der Caritas und im 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung
und Massenverarmung ausgebaut
und durch staatliche und kirchliche
Initiativen immer breiter in der Gesellschaft verankert. So gelangte man
von der kirchlichen Caritas zum Sozialstaat, der feste Löhne einführte,
Kinderarbeit abschaffte, Werkswohnungen baute, Suppenküchen und
Wärmehallen einrichtete. Bis heute
sind immer mehr Einrichtungen, die
Nächstenliebe im Sinne von Barmherzigkeit praktizieren hinzugekommen:
zu denken ist an die Telefonseelsorge,
an Sterbehospize, an Behindertenwerkstätte oder an die Bahnhofsmission.
Neben den geistesgeschichtlichen
und theologischen Auslegungen von
Nächstenliebe sowie ihrem institutionellen Ausbau durch die Jahrhunderte wird die Ikonographie der Nächstenliebe, die sich in Kunst und Kultur
etabliert hat, vermittelt. Sie reicht
vom Heiligen Martin über die Personifikation der Caritas in Gestalt der
liebenden Mutter bis zum Gleichnis
vom Barmherzigen Samariter, das seit
dem Mittelalter in der Bildenden
Kunst aufgegriffen wurde. Der heilige
Samariter war ein Mann aus Samaria,
der einem von Räubern Überfallenen
half und von seiner Umwelt sowie
auch von einem Priester achtlos liegen gelassen wurde. Das Gemälde
„Der barmherzige Samariter“ (um
1883) von Franz Hodler lässt den
Betrachter nicht entkommen: der
enge Bildausschnitt und die bildfüllend dargestellten Figuren im Vordergrund monumentalisieren nicht nur
das Dargestellte, sondern holen den
Betrachter ins Bild. Die Caritas als
Mutter zeigt sich z.B. rot gekleidet,
mit einer brennenden Flamme auf
dem Kopf, ein Kind im linken Arm
stillend und zwei andere Kinder, die
rechts neben ihr stehen. Lucas Cranach d. Ä. zeigt in seinem Gemälde
„Caritas“ von 1536 die Mutter inmitten einer Kinderschar und in kaum
verhüllter Nacktheit. Auch hier lässt
sich der Bogen von Darstellungen seit
der Renaissance bis zur Gegenwart
ziehen. Vanessa Beecroft z.B. zeigt in
großformatigen Fotografien eine
weiße Frau mit blonden Haaren und
im weißen Gewand, die zwei schwarze Kinder in den Armen hält und stillt.
Die Ausstellung wird von zahlreichen
Veranstaltungen begleitet wie etwa
einer Lesung mit Texten zur Ausstellung der Gruppe „(k)EIN Kommentar“
(20. September, 15 Uhr), dem Poetryslam „Der Nächste bitte!“ (15. Oktober, 19 Uhr), den Erfahrungsberichten
von Flüchtlingen (26. November, 19:
30 Uhr) oder einer Podiumsdiskussion
zum Thema „Die Welt iSst nicht gerecht“ in Zusammenarbeit mit der
Welthungerhilfe, in der u.a. über
Nahrungsmittelverschwendung
reflektiert wird (16. Oktober, 19 Uhr).
Musikalische Interpretationen der
Ausstellungen werden in der Langen
Museumsnacht (22. August, 19 Uhr)
und beim Nikolausfest (6. Dezember,
15 Uhr) dargeboten. Eine Vortragsreihe mit anerkannten Fachleuten
wird in der theologischen Fakultät
Zusammenhänge wie diejenigen von
Kunst und Ethik diskutieren oder die
Geschichte und Darstellung der Heili-
gen Elisabeth fokussieren. Das Bildungshaus Liborianum veranstaltet
einen Bildungstag am 17. Oktober
2015 (www.liborianum.de). Die Teilnehmer erhalten eine Einführung in
das Thema und eine Führung durch
die Ausstellung. Die Leitfrage der
ideengeschichtlichen Einführung lautet: „Was hat das Christentum Gutes
gebracht? Die soziale und kulturelle
Kraft der Nächstenliebe.“ In einer
biblischen Grundlegung der Nächstenliebe wird ihre Entfaltung im Laufe
der Zeit reflektiert. Auch das museumspädagogische Angebot für Kinder
und Jugendliche sowie Schulklassen
ist breit gefächert von Zeichen- und
Malkursen bis zu Workshops für kreatives Schreiben.
Das Diözesanmuseum setzt mit dieser
Ausstellung das erfolgreiche Programm großer historischer Schauen
zu historischen und religiösen Themenkomplexen fort, die 1999 mit der
Ausstellung „799 – Kunst und Kultur
der Karolingerzeit“ begonnen haben.
Es folgten 2006 „Canossa 1077 – Erschütterung der Welt“, 2011/12
„Franziskus – Licht aus Assisi“ und
2013 CREDO – Christianisierung Europas im Mittelalter“. Wir dürfen
gespannt sein, sowohl auf die aktuelle Ausstellung „CARITAS – Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur
Gegenwart“ sowie auf das, was noch
kommen mag. Informationen zur
Ausstellung und zum Begleitprogramm geben die Tourist Information
(http://www.paderborn.de/freizeit/t
ouristisches_angebot/), das Diözesanmuseum
Paderborn
(http://www.dioezesanmuseumpaderborn.de/) und die Caritas
(www.caritas-ausstellung.de).
„CARITAS – Nächstenliebe von den frühen
Christen bis zur Gegenwart“, im Diözesanmuseum in Paderborn, bis zum 13. Dezember 2015, der umfangreiche Katalog zur
Ausstellung kostet im Museum 39,90€.