Schau hin, du bist gemeint! Blickwechsel der Nächstenliebe Den Anderen in den Blick zu nehmen und tätig zu werden, steht im Zentrum der christlichen Nächstenliebe. Das Erzbistum Paderborn feiert das 100jährige Jubiläum des Caritasverbandes mit einer umfangreichen und beeindruckenden Ausstellung im Paderborner Diözesanmuseum. Links: Bill Viola, Observance (2002), Filmstill aus einem Video, Walker Art Gallery, Liverpool (Foto: Kira Perov); rechts: Albrecht Dürer, Die vier Apostel (1526), Öl und Tempera auf Lindenholz, Alte Pinakothek München (Foto: Immanuel Giel). VON FRIEDERIKE RÖMHILD "Ich glaube fest daran, dass die wahre Kraft der Menschen in ihrer kollektiven Energie liegt. Wenn wir etwas gemeinsam angehen, können wir im wahrsten Sinne des Wortes Berge versetzen". Dieses Zitat stammt von dem amerikanischen Video- und Installationskünstler Bill Viola aus New York, der mit seinem Werk „Observance“ (2002) in der Paderborner Ausstellung „CARITAS – Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart“ vertreten ist. Bill Violas Werk „Observance“ (2002), das in der Ausstellung zu sehen ist, ist in der Modern Art Collection der Walker Art Gallery in Liverpool beheimatet und gehört zu einem der wichtigsten Werke der Videokunst der Gegenwart. Es ist Teil der dritten Serie von „The Passions“ und ist angelehnt an Albrecht Dürers Altarflügel Die Vier Apostel (1526) (das leider nicht in der Ausstellung gezeigt wird). Im Video „Observance“ zeigen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Sozialisation ganz intuitiv ihre Betroffenheit und Erschrockenheit, die durch den Anblick einer Sache bzw. eines Sachverhalts ausgelöst werden. Einer Sache? Das lässt sich so nicht sagen, zu vermuten ist, dass sie eher etwas den Menschen betreffendes sehen, dass sie erschreckt, schockiert, verwirrt, überwältigt, schmerzt, auf alle Fälle aufmerksam macht. Die Heftigkeit ihrer emotionalen Mimik und Gestik lässt ahnen, dass das, was sie sehen sich in der Dimension von Tod und Verlust abspielt. Wir können nur spekulieren, denn so sind es wir selbst, die diesen Menschen direkt gegenüberstehen als seien es wir, die ihrer Nächstenliebe bedürften. Zugleich sind wir es, die diese Menschen in spiegelbildlicher Weise ansehen und deren Emotionalität uns betroffen und empathisch macht. Auf diese einzigartige und außergewöhnliche Weise regt dieses Kunstwerk dazu an, Nächstenliebe in ihrer interaktiven Dimension zu reflektieren. Viola zeigt mit „Observance“, dass es eine so deutliche Trennung zwischen mir und den anderen gar nicht gibt. Zugleich befördert es eine offenere und intensivere Trauerkultur, in der Nächstenliebe gelebt wird, insofern man sich vom Leid gerade nicht abwendet. Die Paderborner Ausstellung zum Thema Nächstenliebe überrascht nicht nur mit diesem besonderen Werk eines weltberühmten Künstlers, sondern präsentiert ihren Besuchern einige weitere hochkarätige Exponate von der Antike bis zur aktuellen Gegenwart. Unter den rund 150 Exponaten befinden sich antike Sarkophage, Wandmalereien aus römischen Katakomben, Buchmalerei, Manuskripte, Bucheinbände und Schatzkunst mittelalterlicher Könige und Kaiser, Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen, Fotografien und Videos namenhafter Künstler wie Raffael, Lucas Cranach d. Ä., Peter Paul Rubens, Pablo Picasso, Käthe Kollwitz, Ernst Ludwig Kirchner sowie Fotoarbeiten von Vanessa Beecroft und Video- und Installationskunst von u.a. Bill Viola sind in der Ausstellung versammelt. Die Exponate stammen aus Europa und den USA, aus der Pinacoteca Vaticana in Rom oder dem Metropolitan Museum in New York. Die Ausstellung, die seit dem 13. Juli und bis zum 13. Dezember 2015 im Diözesanmuseum Paderborn zu sehen ist, erinnert uns daran, das Caritas nicht nur eine lange Kunst- und Kulturgeschichte hat, sondern durch den Einzelnen und die Gesellschaft immer wieder neu erarbeitet werden musste. Und das gilt bis heute, wollen wir in einer humanen Gesellschaft und einer Welt leben, die „bewohnbar“ ist, um es mit Heinrich Böll zu sagen, der dies nach dem Zweiten Weltkrieg über Literatur und Sprache zu erreichen versuchte. Anlass der Ausstellung ist das 100jährige Jubiläum des Caritasverbandes für das Erzbistum Paderborn. Der Caritasverband wurde am achten Dezember 1915 vom Bischof Karl Joseph Schulte im Erzbistum Paderborn gegründet. Dass die Kuratoren Prof. Dr. Christoph Stiegemann und Dr. Christine Ruhmann mit dieser Ausstellung ein brisantes Thema entfalten, zeigen die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Geschehnisse wie die Flüchtlingswelle, die Griechenland-Krise oder die Konflikte in der Ukraine. Zugleich macht sie noch einmal auf Themen aufmerksam, die hinter diesen aktuellen Ereignissen schneller in Vergessenheit geraten wie die Obdachlosigkeit zahlreicher Menschen, die Bedeutung von Alten- und Krankenpflege oder die Arbeit im Hospiz. Dabei scheint der Begriff „Nächstenliebe“ jedem vertraut, fast alle werden von „Nächstenliebe“ gehört oder selbst schon einmal gesprochen haben, vielleicht auch eigene Erfahrungen gesammelt haben. Doch Nächstenliebe – was ist das eigentlich? Und handelt es sich dabei angesichts der Katastrophen eher um eine Utopie oder tatsächlich um ein gewohntes Lebensmotto des tätigen Menschen in der Gesellschaft? Die Paderborner Ausstellung nimmt die Geschichte und mit ihr die Struktur, Entwicklung und Ausgestaltung des Begriffes Nächstenliebe und seine gesellschaftspolitische und seine individuelle, ethische und alltägliche Dimension in den Blick. Der Schwerpunkt der chronologisch aufgebauten Ausstellung liegt auf der christlichen Nächstenliebe, der Caritas im europäischen Raum. Die Ausstellung zeigt die Geschichte der Nächstenliebe, Caritas, beginnend bei den frühen Christen im römischen Reich. In der Antike galten alle Menschen als Kinder Gottes und waren zur Nächstenliebe verpflichtet. Die Idee der Nächstenliebe war in ihren Anfängen geradezu revolutionär und wurde zu einem Zentralbegriff des Christentums in der Ethik der Antike. Nächstenliebe aus christlicher Perspektive entspricht nicht einfach nur dem Gefühl von Mitleid oder ist eine zufällige Eigenschaft Einzelner. Nächstenliebe ist ein ethisches Pflichthandeln, das mit dem göttlichen Willen übereinstimmt. Im Zentrum der Nächstenliebe stehen Gottesliebe und Selbstliebe. Nächstenliebe und Gottesliebe sind untrennbar verbunden, weil erst in der Begegnung mit Gott der Fremde mein Nächster wird. „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen“ (Paulus 1 Kor 13,13) – Dieser Ausspruch stammt aus einem der ältesten erhaltenen Briefe des Apostel Paulus an die Korinther und ist eines der großen Highlights der Paderborner Ausstellung. Im Neuen Testament, das die Nächstenliebe in den Korintherbriefen ebenso wie in der Bergpredigt, den Johannesevangelien, bei Martin Luther und Franz von Sales diskutiert, wurde auch über die Reichweite von Nächstenliebe reflektiert. Unser Nächster ist jeder Mensch, besonders der, der unsere Hilfe konkret und ungefragt braucht. Nächstenliebe ist nicht an das Glaubensbekenntnis gebunden, sondern eine Praxis, ein Tun des Willen Gottes, die nicht nur den gläubigen Christen, sondern jedem Menschen gilt. Diese Einsicht trieb auch Martin Luther in der Reformation voran, um Nächstenliebe aus dem Leistungsprinzip zu lösen, das das Mittelalter geprägt hatte. Das mittelalterliche Weltgericht sendete mahnende Appelle an die Menschen, gute Werke im Diesseits zu vollbringen, um ins Paradies zu gelangen, für das Jenseits sozusagen vorzusorgen. Statt zu fragen, wer ist mir der Nächste, kehrte Jesus die Frage um: Für wen bin ich der Nächste, wer braucht mich jetzt, wem kann ich helfen? Wer Gott liebt, liebt sich selbst und seinen Nächsten. Diese Verknüpfung des Selbst mit dem Anderen durch Gott hat auch Bill Viola in seiner Videoinstallation „Observance“ im Kern angesprochen. Es ist faszinierend wie die Paderborner Ausstellung es schafft, den Faden von der Antike bis in die Gegenwart zu ziehen und dabei Nächstenliebe als eine religiöse, gesellschaftliche und individuelle Ethik ansichtig zu machen. Bereits im Mittelalter wurde die Caritas institutionalisiert. Es entstanden in den wachsenden Städten und in Zeiten von Pest, Hunger und Krieg Hospitäler sowie Armen- und Waisenhäuser. Die sich im 16. Jahrhundert entwickelnden frühstaatlichen Versorgungseinrichtungen wurden im 18. Jahrhundert durch Bildung, Verwissenschaftlichung und Säkularisierung der Caritas und im 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung und Massenverarmung ausgebaut und durch staatliche und kirchliche Initiativen immer breiter in der Gesellschaft verankert. So gelangte man von der kirchlichen Caritas zum Sozialstaat, der feste Löhne einführte, Kinderarbeit abschaffte, Werkswohnungen baute, Suppenküchen und Wärmehallen einrichtete. Bis heute sind immer mehr Einrichtungen, die Nächstenliebe im Sinne von Barmherzigkeit praktizieren hinzugekommen: zu denken ist an die Telefonseelsorge, an Sterbehospize, an Behindertenwerkstätte oder an die Bahnhofsmission. Neben den geistesgeschichtlichen und theologischen Auslegungen von Nächstenliebe sowie ihrem institutionellen Ausbau durch die Jahrhunderte wird die Ikonographie der Nächstenliebe, die sich in Kunst und Kultur etabliert hat, vermittelt. Sie reicht vom Heiligen Martin über die Personifikation der Caritas in Gestalt der liebenden Mutter bis zum Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, das seit dem Mittelalter in der Bildenden Kunst aufgegriffen wurde. Der heilige Samariter war ein Mann aus Samaria, der einem von Räubern Überfallenen half und von seiner Umwelt sowie auch von einem Priester achtlos liegen gelassen wurde. Das Gemälde „Der barmherzige Samariter“ (um 1883) von Franz Hodler lässt den Betrachter nicht entkommen: der enge Bildausschnitt und die bildfüllend dargestellten Figuren im Vordergrund monumentalisieren nicht nur das Dargestellte, sondern holen den Betrachter ins Bild. Die Caritas als Mutter zeigt sich z.B. rot gekleidet, mit einer brennenden Flamme auf dem Kopf, ein Kind im linken Arm stillend und zwei andere Kinder, die rechts neben ihr stehen. Lucas Cranach d. Ä. zeigt in seinem Gemälde „Caritas“ von 1536 die Mutter inmitten einer Kinderschar und in kaum verhüllter Nacktheit. Auch hier lässt sich der Bogen von Darstellungen seit der Renaissance bis zur Gegenwart ziehen. Vanessa Beecroft z.B. zeigt in großformatigen Fotografien eine weiße Frau mit blonden Haaren und im weißen Gewand, die zwei schwarze Kinder in den Armen hält und stillt. Die Ausstellung wird von zahlreichen Veranstaltungen begleitet wie etwa einer Lesung mit Texten zur Ausstellung der Gruppe „(k)EIN Kommentar“ (20. September, 15 Uhr), dem Poetryslam „Der Nächste bitte!“ (15. Oktober, 19 Uhr), den Erfahrungsberichten von Flüchtlingen (26. November, 19: 30 Uhr) oder einer Podiumsdiskussion zum Thema „Die Welt iSst nicht gerecht“ in Zusammenarbeit mit der Welthungerhilfe, in der u.a. über Nahrungsmittelverschwendung reflektiert wird (16. Oktober, 19 Uhr). Musikalische Interpretationen der Ausstellungen werden in der Langen Museumsnacht (22. August, 19 Uhr) und beim Nikolausfest (6. Dezember, 15 Uhr) dargeboten. Eine Vortragsreihe mit anerkannten Fachleuten wird in der theologischen Fakultät Zusammenhänge wie diejenigen von Kunst und Ethik diskutieren oder die Geschichte und Darstellung der Heili- gen Elisabeth fokussieren. Das Bildungshaus Liborianum veranstaltet einen Bildungstag am 17. Oktober 2015 (www.liborianum.de). Die Teilnehmer erhalten eine Einführung in das Thema und eine Führung durch die Ausstellung. Die Leitfrage der ideengeschichtlichen Einführung lautet: „Was hat das Christentum Gutes gebracht? Die soziale und kulturelle Kraft der Nächstenliebe.“ In einer biblischen Grundlegung der Nächstenliebe wird ihre Entfaltung im Laufe der Zeit reflektiert. Auch das museumspädagogische Angebot für Kinder und Jugendliche sowie Schulklassen ist breit gefächert von Zeichen- und Malkursen bis zu Workshops für kreatives Schreiben. Das Diözesanmuseum setzt mit dieser Ausstellung das erfolgreiche Programm großer historischer Schauen zu historischen und religiösen Themenkomplexen fort, die 1999 mit der Ausstellung „799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit“ begonnen haben. Es folgten 2006 „Canossa 1077 – Erschütterung der Welt“, 2011/12 „Franziskus – Licht aus Assisi“ und 2013 CREDO – Christianisierung Europas im Mittelalter“. Wir dürfen gespannt sein, sowohl auf die aktuelle Ausstellung „CARITAS – Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart“ sowie auf das, was noch kommen mag. Informationen zur Ausstellung und zum Begleitprogramm geben die Tourist Information (http://www.paderborn.de/freizeit/t ouristisches_angebot/), das Diözesanmuseum Paderborn (http://www.dioezesanmuseumpaderborn.de/) und die Caritas (www.caritas-ausstellung.de). „CARITAS – Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart“, im Diözesanmuseum in Paderborn, bis zum 13. Dezember 2015, der umfangreiche Katalog zur Ausstellung kostet im Museum 39,90€.
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