Kritisieren und ehrlich sein – ein Widerspruch?

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SECHS
Wahrheit und Liebe im Zusammenspiel
Kritisieren und ehrlich sein –
ein Widerspruch?
VON MARKUS ZÜGER
Die Wahrheit präsentiert sich uns in
unterschiedlichsten Facetten. Die einen
erleben Ehrlichkeit als Bedrohung, andere vermissen die offene, wenn auch
manchmal schmerzhafte Ehrlichkeit.
Wenn die Balance zwischen Liebe und
Ehrlichkeit stimmt, kann Vertrauen
wachsen und Menschen auch in schwierigen Situationen zusammenbringen.
Entgegnung – echte Liebe liebt einfach.
Wer einen andern Menschen tief liebt,
nimmt ihn so an wie er ist. Und dieser
Mensch nimmt auch sich selber so an wie
er ist. Dies gelingt nur wenigen Menschen
wirklich. Sich ganz anzunehmen und den
andern so zu lieben wie er oder sie ist, ist
eine hohe Kunst – und oft auch wie ein
Geschenk.
Lieben bedeutet tiefe Zuneigung und
starke Wertschätzung gegenüber einem
Menschen. Echte Liebe sucht nicht die
Ehrlichkeit wächst aus dem Wortstamm
«Ehre» heraus. Es ist nicht ehrenhaft,
wenn man lügt. Es ist aber ehrenhaft,
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antenne | November 2015
wenn man ehrlich auch zu sich selber ist.
Ehrlichkeit hat also einerseits mit «nicht
lügen», also wahr sein zu tun, andererseits aber auch mit ehrlich zu sich selber
und seinen Schwächen sein. Wir reden
heute oft von Wahrnehmung. Was ich
subjektiv wahrnehme, ist für mich immer
100 Prozent wahr! Dies ist aber selten das
Gleiche, was der andere wahrnimmt. Wir
sehen also, dass sowohl echte Liebe als
auch wirkliche Ehrlichkeit hohe Werte
sind, die kaum erreichbar und von uns
Menschen nie 100 Prozent lebbar sind.
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NEUN
Postkarten. Herauszufinden, ob und wie
stark jemand wirklich lügt oder doch
Recht hat, ist oft gar nicht möglich! Ein
weiteres Beispiel zeigt dies auf: Philip
überlegt sich mehrere Male, was er seinem Chef zur einer bestimmten Sache
sagen möchte. Im Gespräch kommt ihm
dies immer wieder in den Sinn, letztlich
getraut er sich aber doch nicht, sein Anliegen wirklich vorzubringen. Er tönt es
nur an, sagt es aber nicht deutlich. Weil er
sich dies aber mehrmals überlegt hat, ist
dies in seinem Gehirn fest abgespeichert
als «Ich habe es gesagt». In Wirklichkeit
hat er es aber nicht gesagt. Zwei Tage
später, beim nächsten Gespräch mit dem
Chef, ist er deshalb absolut sicher, dass er
das so gesagt hat. Der Chef verneint das
– und der Mitarbeiter ist überzeugt, dass
sein Chef lügt, und erzählt das auch so
weiter. Einige Betroffene verlieren dadurch das Vertrauen zu ihrem Chef, obwohl er gar nichts falsch gemacht hat.
Wir lügen pro Tag rund 200 Mal
In Studien und Untersuchungen über die
Anzahl der Lügen pro Tag begegnet uns
die Zahl 200 am meisten. Wir sagen «Danke», obwohl wir etwas nicht schätzen; wir
geben auf heikle Fragen nicht wirklich
ehrliche Antworten; wir beschreiben
Dinge besser oder schlechter als sie
wirklich sind; wir sagen unserem Partner
nur teilweise, was wir über ihn denken;
wir nehmen Sachverhalte nicht wirklich so
wahr, wie sie waren und erzählen das
dann so weiter; wir loben Menschen,
obwohl wir sie gar nicht so positiv sehen
etc. etc. etc. Vielleicht ist das gar nicht so
schlimm. Es ist schlimmer, wenn wir
andere oft zu Unrecht beschuldigen und
behaupten, dass sie lügen und ihnen dann
das Vertrauen entziehen. Es ist schlim-
mer zu glauben, immer meinen ehrlich
sein zu müssen und damit Menschen
unnötig zu verletzen. Immer wieder beobachte ich, wie Menschen aus einem
innerem Druck heraus der Wahrheit gegenüber im negativen Sinne ehrlich sind
und damit sich und andere verletzen. Das
ist weder nötig noch notwendig: Es «wendet» keine «Not», im Gegenteil: Es schafft
oft Not!
Wer hat nun wirklich Recht?
Wer hat Recht? Ein Zermatter sagt: «Das
Matterhorn ist ein gewaltiger Berg.» Der
Norditaliener hingegen meint: «Das Matterhorn ist ein unscheinbarer Berg in den
Alpen.» Es ist Ansichtssache. Denn das
Matterhorn präsentiert sich nicht von
allen Seiten so imposant wie auf den
Es kann aber auch sein, dass der Mitarbeiter etwas wirklich sagt, und der entsprechende Chef hört nicht wirklich hin
und nimmt es deshalb nicht wahr. Zwei
Tage später behauptet dieser Chef, dass
sein Mitarbeiter dies sicherlich nicht
gesagt hat, und er erzählt weiter, dass
sein Mitarbeiter lügt. Hier leidet dann der
Mitarbeiter unverdientermassen. Von
solchen Situationen erfahre ich als Berater in der Firmenwelt immer wieder; und
auch im persönlichen Leben beobachte
ich, wie Menschen andere des Unrechts
und der Lüge bezichtigen, obwohl das gar
nicht so war. Wahrheit wird so zur Rechthaberei und Ehrlichkeit zu falsch verstandenem Urteilen über andere mit sehr
vielen negativen und verletzenden Folgen.
Liebe überwindet Rechthaberei
Es scheint also tatsächlich oft nicht möglich zu sein, richtig zu beurteilen, wer nun
die Wahrheit gesprochen oder richtig
gehandelt hat. Solche Rechtsstreitigkeiten
führen nur zu Konflikten und zu gestörten
Beziehungen. Sie bringen Unfrieden, Streit
und letztlich Krieg. Hier dient Ehrlichkeit
und Wahrheit weder der Sache noch den
Menschen. Die Liebe wird durch «falsche»
Ehrlichkeit zerstört. Letztlich bleiben dann
weder die Wahrheit noch die Liebe übrig!
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Viele Philosophen und Ethiker sind deshalb der Meinung, dass es letztlich nicht
entscheidend ist, ob jemand lügt oder
nicht, sondern welche Motive dahinterstecken und ob Liebe mit im Spiel ist. Dieser
Einschätzung folge ich grösstenteils. Ich
bin überzeugt, dass echte Liebe nicht auf
Wahrheit und Ehrlichkeit bestehen muss.
Liebe liebt, auch wenn ihr Unrecht geschieht. Solche Menschen sind wirklich
überzeugend und überwinden das Böse!
Menschen diese Art von Liebe entdecken
und leben lernen. Diese Art von Liebe ist
totale Freiheit und macht diese Menschen
selber und ihre Umgebung tief glücklich.
Echte Liebe redet: MMMM!
MMMM bedeutet: «Man Muss Menschen
Mögen!» Dies ist eine moderne Form von
«Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst».
Wer ehrlich zu sich selber ist, weiss, wie
viele Mängel er selber hat; und deshalb
akzeptiert er solche auch bei andern
Echte Liebe schweigt – und ist Dynamik!
Menschen. Vor einigen Wochen habe ich
Menschen, die sich und andere echt lieben, mich deshalb entschieden, meine Unvollhaben es nicht mehr nötig «Recht zu hakommenheit, Unzuverlässigkeit, Unfähigben». Sie lieben einfach – und sie lieben
keit Verantwortung zu übernehmen zu
auch, wenn der andere scheinbar lügt oder akzeptieren – und dies gleich auch bei
zumindest nicht die ganze Wahrheit sagt.
anderen zu tun. Ich kann ja diese MenDiese Art von Liebe bleibt ehrlich, aber nur schen – und oft mich selber – nicht verändort, wo es dem Gegendern. Wenn ich sie akzepüber nützt oder ihn weitiere wie sie sind, und
Es geht nicht mehr
terbringt. In andern Situdiese Menschen wie auch
darum, Recht zu haben,
ationen schweigt diese
mich liebe, komme ich
Art von Liebe, weil es
wie in eine neue Sphäre
sondern darum, das
eben mehr als um Wahrvon Leben hinein; ein
heit oder Ehrlichkeit geht. Richtige zu tun.
Leben in Ehrlichkeit und
Liebe, das frei und froh
Mein Freund Theo hat mir dies vorgelebt:
macht! Mit diesem Fundament von Liebe
Als wir vor rund 30 Jahren auf dem Lago
darf ich ehrlich sein zu andern. Auf dem
Maggiore in einem Ruderboot unterwegs
Boden dieser Liebe ist Ehrlichkeit und
waren, erzählte ich ihm, wie mir bewusst
Wahrheit möglich und auch hilfreich.
geworden sei, wie egoistisch ich tief innen Rückmeldungen und Kritik von solchen
bin. Da schaute er mich liebevoll an und
Menschen nimmt man gerne an, denn
sagte bestätigend: «Schön, dass Du das
man merkt, dass sie aus gesundem Leben
nun gemerkt hast.» Daraufhin fragte ich
und einem konstruktiven Miteinander
ihn, warum er mir das nicht früher schon
geboren wurden.
gesagt habe. Er meinte: «Schau Markus,
die Liebe Gottes ist wie das Wasser auf
Ehrlichkeit liebt
dem Lago Maggiore; sie trägt uns und hält Wer diese Art von Ehrlichkeit sich und
uns in Liebe aus. So möchte ich auch
andern gegenüber lernt, der ist auf dem
leben; und deshalb habe ich Dir dies nicht Weg, wirklich zu lieben und echte Wahrgesagt. Ich habe einfach gebetet, dass Du heit kennenzulernen: Wahrheit, die Leben
das selber merkst.» Das hat mich tief
ermöglicht; und nicht Wahrheit, die Recht
berührt und enorm gestärkt!
haben will. Ich denke, dass Jesus in etwa
das gemeint hat, als er sagte: «Ich bin der
Menschen, die so leben und lieben, maWeg, die Wahrheit und das Leben.»
chen ihre Liebe nicht abhängig vom andern oder dessen Verhalten. Diese Art zu
Es geht nicht mehr darum, Recht zu halieben ist Dynamik pur, verändert ganz
ben, sondern darum, das Richtige zu tun.
Vieles zum Positiven und überwindet das
Recht zu haben ist oft sehr verletzend und
Böse. Diese Art von Lieben beinhaltet eine für andere demütigend, das Richtige zu
Kraft, die fast nicht zu überwinden ist. Sie tun ist lebensspendend und befreiend. Es
ist vergleichbar mit der Auferstehungsist ja nicht meine Verantwortung, den
kraft von Jesus Christus, die den Tod
andern zu verändern oder umzuerziehen.
überwunden hat. Es braucht lange, bis
Menschen sind so wie sie sind; und ich
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möchte noch mehr lernen, die andern so
anzunehmen wie sie sind, ohne sie verändern zu wollen.
Egoistische Liebe zerstört
In vielen Beziehungen lieben die Partner
sich nicht wirklich, sie lieben nur das
Wunschbild des andern. Sobald sich der
andere anders verhält als wir es uns wünschen und wie wir es uns vorstellen, geht
die Liebe verloren. Wirkliche Liebe nimmt
sich und den andern so an wie er/sie eben
ist. Liebe will nicht verändern: Liebe will
nur zeigen, dass sie da ist – und sie liebt.
Sie liebt auch dann, wenn der andere sich
unmöglich benimmt. Dies hat uns Jesus
Christus wie kaum ein anderer vorgelebt.
«Du hast schon Recht, aber meine Meinung gefällt mir besser!»
Solche entschärfend-lustigen Sätze zeigen auf, worum es gehen muss. Ehrlichkeit ohne zu lügen ist erstrebenswert,
aber kaum von jemandem wirklich lebbar
– Ehrlichkeit gepaart mit Liebe ist dagegen hilfreich und lebensfördernd. In
Streitgesprächen oder Konflikten ist es oft
hilfreich zuerst aufzuzeigen, warum eigentlich beide Parteien aus ihrer Sicht
Recht haben. Nicht ohne Grund sind sie ja
von ihrer jeweiligen Ansicht überzeugt. Es
bringt danach viel mehr herauszufinden,
welche Lösung nun beiden hilft oder die
Bedürfnisse von beiden Parteien so gut
ZUR PERSON
Markus Züger ist Unternehmensberater
und Coach. Er leitet die C-Leaders und
die School for Leadership.
www.c-leaders.ch
www.zueger-beratung.ch
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wie möglich befriedigt statt herauszufinden, wer nun mit seiner – meist einseitigen – Meinung oder Lösung Recht hat.
Ehrlichkeit ohne Liebe tötet
Wer die Ehrlichkeit und seine Ansicht von
Gerechtigkeit und Recht vertritt, ist oft für
andere kaum auszuhalten. Er hebt seine
Sicht der Wahrheit (seine subjektive Wahrnehmung) über die Sicht der andern und
verletzt sehr. Oft sehen wir bei anderen
besser als bei uns selber, was nicht
stimmt. Dies zeigt ja auch der Spruch
«Nimm zuerst den Balken aus Deinem
Auge, bevor Du den Splitter im Auge Deine
Gegenübers entfernen versuchst.» Es ist
oft ehrlicher und sicherlich liebevoller,
solche Dinge nicht anzusprechen; oder nur
dann, wenn es der andere will oder wirklich braucht. Und wenn wir den Eindruck
haben, dem andern etwas sagen zu müssen, dann ist es sinnvoll, dies als «meine
Sichtweise» zu bringen. Wir sagen es dann
bescheidener; mit Blick auch auf unsere
Unvollkommenheit. Wir sagen es möglichst konstruktiv. Statt «Du bist immer
so hart!» könnten wir sagen: «Ich würde
es schätzen, wenn Du die Dinge etwas
liebevoller sagen würdest.» oder «Wenn
Du Dinge in diesem Ton sagst, fühle ich
mich angegriffen. Ich wäre froh, wenn Du
dies etwas angepasster sagen könntest.»
Schonungslose Fairness
Wenn ich diesen Weg der Bescheidenheit, der echten Liebe und des «NichtRecht-haben-Wollens» gehe, dann kann
ich mir immer mehr zutrauen, ganz
ehrlich zu sein. Wenn der Boden meines
Redens von dieser Liebe geprägt ist,
dann darf ich Kritisches beim Andern
ansprechen; dort, wo es hilfreich und
nötig ist. Ich muss den andern dann nicht
mehr «schonen», sondern ich darf fröhlich, offen und fair sagen, was ich wahrnehme. Dies hilft im konstruktiven Sinne, ehrlicher zu sein und trotzdem in
Liebe zu bleiben.
Wer einen gesunden Selbstwert hat, liebt
ehrlich
Dabei hilft es, den eigenen Selbstwert und
die eigene Identität zu stärken. Menschen
mit gutem Selbstwert haben es nicht nötig
Recht zu haben und auf der Wahrheit herumzureiten; sie wissen wer sie sind. So
können sie einfach lieben ohne Recht
haben zu müssen und können andere
annehmen, auch wenn diese unvollkommen sind. Ein gesunder Selbstwert kann
gestärkt werden durch das Wissen, wer
wir in den Augen unseres Schöpfers sind:
Wir sind wertvolle und geliebte Söhne und
Töchter unseres Gottes! Das stärkt die
eigene Identität enorm und macht uns auch
unabhängiger von Erfolg, Sicherheit und
Anerkennung durch andere. Das erlebe ich
immer mehr. Und es macht echt frei und
gibt enorme Kraft zu lieben! Das wünsche
ich Ihnen von Herzen.
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