Ansehen - Berliner Dom

Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin
Domprediger Thomas C. Müller
6. Sonntag nach Trinitatis, 12. Juli 2015, 10.00 Uhr
Predigt über Jesaja 43, 1-7
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.
Der Predigttext steht im Buch des Propheten Jesaja, im 43. Kapitel, die Verse 1 bis 7.
„Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich
nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch
Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer
gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen. Denn ich bin der HERR, dein
Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. Ich habe Ägypten für dich als Lösegeld gegeben, Kusch und Seba
an deiner statt, weil du in meinen Augen so wert geachtet und auch herrlich bist und weil ich dich lieb
habe. Ich gebe Menschen an deiner statt und Völker für dein Leben. So fürchte dich nun nicht, denn ich
bin bei dir. Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, ich will sagen
zum Norden: Gib her! und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine
Töchter vom Ende der Erde, alle, die mit meinem Namen
Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen
und zubereitet und gemacht habe.“
habe.“
Liebe Gemeinde,
Zahlen sind eine praktische Sache. Mit Zahlen kann man sich über viele Dinge einen schnellen Überblick
verschaffen. Zahlen sind genau und unbestechlich, wenn sie nicht gerade gefälscht sind. Den Zahlen ist es egal,
was sie bemessen. Sie sind nüchtern. Sie halten das ganz Drumherum auf Distanz. Nur manchmal, wenn wir uns
vorstellen, was hinter den Zahlen steht, dann kann einen der Schwindel erfassen: 59,5 Millionen Menschen auf
der Flucht. 1,3 Millionen Tote im Kongo. 300 000 Tote im jugoslawischen Bürgerkrieg. Unter diesen Zahlen
können wir uns schlechterdings nichts vorstellen. Vielleicht können wir uns ein, zwei oder auch zehn dieser
Geschichten vor Augen führen. Aber uns vorzustellen, dass jeder einzelne der 8000 Ermordeten von Srebrenica
und jeder Einzelne der 23 000 Ertrunkenen im Mittelmeer, jeder einzelne von den 10 Millionen Syrern auf der
Flucht Menschen sind, die genauso wie wir atmen, denken, Schmerz empfinden, Hoffnung haben und Liebe
ersehnen, von denen jeder einzelne leben will und nach Geborgenheit sucht - das können wir nicht.
Wenn die Ereignisse oft ohne jede Rücksicht über den Einzelnen hinweggehen: Wie könnten wir da glauben, dass
es uns anders ergehen müsste? Dass wir auf besondere Weise beschützt und behütet sind. Aber es kränkt uns
schon, wenn wir selbst erleben müssen, dass wir übersehen und vergessen werden. Und Menschen ergreift ein
Gefühl der Verlorenheit, wenn sie merken, dass ihr Ergehen ohne Interesse für den Gang der Dinge ist. Im
Angesicht der Millionen, die wie Fliegen vergehen, ist das eigentlich ein irrationales Gefühl.
Aber es gibt eben eine „abergläubische“ Hoffnung, dass es anders ist. Diese Hoffnung hat einen Ausdruck. Am
Beginn ihres Lebens bekommen Menschen keine Zahl zugeschrieben, sondern einen Namen zugesprochen. Jede
einzelne Frau und jeder einzelne Mann, jedes Kind der inzwischen über 7 Milliarden Menschen hat einen Namen.
Einen Namen: Und wenn einer damit liebevoll und warm angesprochen wird, von seiner Frau, seinen Kindern,
seinen Freunden, dann können es auch 20 Milliarden Menschen sein, sein Herz wird doch warm und er wird doch
glauben, dass sein kleines Leben etwas ist und nicht nichts. Einen Namen: und wenn eine damit respektvoll
angesprochen wird, wird sie das Gefühl haben, dass ihre Arbeit und Mühe einen Sinn hat. Es kann uns glücklich
machen, wenn wir mit unserem Namen angesprochen werden. Und es kann uns im Innersten kränken, wenn es
verächtlich geschieht. Zu existieren bedeutet, dass andere uns mit Namen rufen können. So sind wir jemand für
andere. Deswegen wird am Beginn des Lebens der Name ausgerufen, und am Ende des Lebens auch. Deshalb ist
es so traurig-finster-gottlos: ein Grab ohne Namen.
„Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht,
denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch Wasser gehst,
will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht
brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen.“
Diesem Wort kann man sich nur schwer entziehen, denn es spricht die tiefe Sehnsucht an, nicht verlassen, nicht
verloren zu sein, mit Namen, mit der ganzen Person gewusst, geliebt und bekannt zu sein. Über Täuflingen ist
1
Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin
der erste Teil des Verses ebenso oft ausgesprochen worden, wie an den Gräbern von Verstorbenen. „… weil du in
meinen Augen so wertgeachtet und auch herrlich bist und weil ich dich liebhabe.“ - Worte wie eine Krone der
göttlichen Wertschätzung gegen die rein zahlenmäßige, statistische, zeitliche, gesellschaftliche
Bedeutungslosigkeit des einzelnen Menschen. Die Worte des Propheten sind aber keine harmlose Erbaulichkeit.
Es sind durch Feuer geläuterte Worte, die über einem Volk ausgesprochen worden, das durch Feuer und Wasser
gehen musste. Das Volk Israel hatte seine Bedeutungslosigkeit im 6. Jahrhundert vor Christus eindrücklich vor
Augen gestellt bekommen. Das babylonische Großreich, die Weltmacht der damaligen Zeit, hatte den größten
Teil des Volkes verschleppt. Israel befand sich in Auflösung. Und die, die übrigblieben, sind starr und blind vor
Resignation, angesichts ihrer Ohnmacht in Exil und Gottferne. In diesem Augenblick aber meldet sich eine andere
Stimme. „Und nun spricht der Herr.“ In diesem „Und nun“ liegt die Gewissheit, dass es auf jedem Weg den
Augenblick gibt, in dem sich die Dinge wenden, in dem sich neu die Türen öffnen und spürbar wird, dass wir
nicht verloren und allein sind, sondern von Gott begleitet. Der Prophet sprach damals seinem Volk diese
Heilsworte zu, in der Hoffnung, dass sie ihren getrübten Blick überwinden können, um wahrzunehmen, dass sich
etwas tut, dass sich Kräfte der Heilung rühren und sich auch in der äußeren Realität Wege zurück in ihre Stadt
Jerusalem öffnen.
Aber er wusste wohl, wie schwer es ist, den Bick neu zu öffnen. Schmerzlichen Erfahrungen prägen uns und
manchmal führen sie zu negativen Glaubenssätzen, die unser ganzes Sein bestimmen und uns in eine
Negativspirale führen, die uns immer weiter nach unten ziehen. Wir versteifen uns zu einer Haltung der
Resignation.
Manchmal muss uns jemand an den Schultern fassen, uns ins Gesicht schauen, uns bei unserem Namen
ansprechen, damit wir aufwachen und neu sehen. Damit wir aufmerksam werden für uns selbst, dass wir leben
und nicht nur existieren, damit wir aufmerksam werden für die andere Stimme, die den Mut gibt, Feuer und
Wasser zu trotzen und das Leben zu wagen.
An diesem 6. Sonntag nach Trinitatis erinnern wir uns an die Taufe. Oft erscheint sie uns wie ein freundlichharmloses Ritual, mit dem wir einem neugeborenen Kind alles Gute wünschen: „Viel Glück auf deinem
Lebensweg….Gesundheit und Frohsinn sei auch mit dabei.“ Das ist ja auch gut und menschlich. Aber die Taufe
ist viel mehr. Sie ereignet sich vor dem Hintergrund des großen Dramas um Leben und Tod. Jedes Leben ist
gefährlichen Strömungen ausgesetzt. Und jedes Menschenkind wird Situationen erleben, die Glauben, Hoffnung,
Liebe zu verbrennen drohen. Es gibt kein Leben an diesen Erfahrungen vorbei. Das Wasser der Taufe ist kein
Wässerchen, sondern erinnert an die Chaoswasser am Anfang der Schöpfung. Es ist Symbol dafür, dass es gibt
kein Leben gibt, ohne Beschädigung, ohne Verlust, ohne Demütigungen und Kränkungen, kein Leben ohne den
Tod.
Die Taufe ist kein magischer Ritus, der vor Krankheit und Unglück verschont. Und auch für getaufte Christen gibt
es Sackgassen, Weg, die nicht weiterführen. Aber der Name, der über ihnen ausgesprochen ist, öffnet einen
inneren Weg des Vertrauens. „Fürchte dich nicht; … ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“, so
sagt Gott seinem Volk damals durch die Worte des Propheten zu. Im Namen Jesu gelten auch uns diese Wort,
denn er, der Auferstandene, der den Weg durch den Tod hindurchgegangen ist, hat sie seinen Jüngern auf seine
Weise zugesagt: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.
Liebe Gemeinde, die Taufe eröffnet einen lebenslangen inneren Weg. Da, wo die Lebenswege eng werden, will
diese Zusage etwas öffnen. Das Gefährlichste ist oft nicht das Äußere, sondern dass wir innerlich aufgeben, selbst
wenn wir äußerlich weiterleben. Von Martin Luther wird erzählt, dass er in Zeiten der Anfechtung mit Kreide in
großen Buchstaben auf den Tisch geschrieben hat: Ich bin getauft. Die Taufe ist die Zusage und die Realität, dass
es einen Weg gibt, selbst wenn ich ihn nicht sehe und kenne. Weil Gott mitgeht. Wo sich im Vertrauen darauf
ein kleiner Spalt in mir öffnet, da öffnet sich auch außerhalb von uns etwas. Das ist die Erfahrung vieler. Ein Weg
wird sichtbar, wo ich in mir einen Vertrauensweg beschreite. Dieser Weg ist genauso breit, wie mein Vertrauen.
Mit jedem neuen Schritt des Vertrauens kommt eine nächste Wegstrecke in Sicht. Diese Zusage ist nicht bloß ein
bisschen Poesie und Kalenderspruchweisheit, sondern sie besitzt durch die Taufe sakramentalen Kraft und
Wirklichkeit. So wahr das Wasser der Taufe dich berührt hat und der Name Gottes über dir ausgerufen wurde
und du einen Namen vor Gott bekommen hast, gilt es dir: Ich bin bei dir. Ich gehe mit und führe zum Ziel.
„So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir. Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen
her sammeln, ich will sagen zum Norden: Gib her! und zum Süden: Halte nicht zurück!“
Wir Christen haben allen Grund dazu, uns wieder an die Bedeutung der Taufe zu erinnern und sie viel stärker als
Ausdruck unserer Identität ins Spiel zu bringen. Einer Identität, die sich nicht aus Furcht und Angst heraus
begründet, sondern aus Vertrauen. Furcht ist nichts, wofür wir uns schämen müssten. Aber wir sind dafür
2
Oberpfarr - und Domkirche zu Berlin
verantwortlich, wie wir auf die Furcht reagieren, wie wir mit ihr umgehen. Ob sie uns eng macht, aggressiv,
hasserfüllt, oder ob sie uns antworten lässt mit dem Wagnis des Vertrauens und dem Mut, ins Freie zu treten, in
einen weiten Horizont, der auch den Osten, den Westen, den Süden und Norden mit einbezieht. In diesen Zeiten
der Unsicherheit erleben wir, wie Menschen sich wieder durch Abgrenzung ihre Identität schaffen möchten. Sie
grenzen sich über ihre nationale Zugehörigkeit von anderen ab. Selbst der Glaube ist oft nur Mittel zur
Abgrenzung. Eines der absurdesten Symbole ist in letzter Zeit das in die Luft gereckte Kreuz in den Farben der
Deutschlandfahne. Man wollte das „Christliche Abendland“ damit verteidigen und verrät es genau damit.
Die Taufe im Zeichen des Kreuzes führt über die Grenzen der Hautfarbe, der Nationalität, der Sprache hinweg
zusammen. Und sie respektiert und achtet die, die auf andere Weise sich unter den Namen Gottes versammeln.
„Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, alle, die mit meinem Namen genannt
sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.“
Die Worte des Propheten wurden in der Zeit gesprochen, als viele Angehörige des Volkes in den Weiten des
Nirgendwo gestrandet waren. Verschollen ihr Schicksal, ihre Leben. Aber das Verschwinden der Namen ist nicht
das Ende der Wege Gottes. Das Ziel ist nicht erreicht, bevor nicht jeder einzelne Name ins Leben gerufen wird. In
den Tagen, da die Zahlen der Toten von allen Enden der Erde an uns vorbeirauschen und von der
Bedeutungslosigkeit vieler menschlicher Schicksale erzählen, wollen wir daran festhalten: die vielen
Menschensöhne und Töchter, die im Wasser versenkt und vom Feuer verbrannt wurden: Gott wird sie wieder
beim Namen rufen, denn er hat sie zu seiner Ehre geschaffen und er wird sie aus der äußersten Ferne
zurückholen. Ihr Weg ist nicht zu Ende.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne Christus Jesus.
Amen.
3