Lust aufs Land? Für uns Großstädter reimt sich auf Land sehr schnell Flucht. Land – Provinz – Kleinstadt ist das, wo man weg will, dahin, wo das wilde Leben pulsiert, in die Großstadt. Wo Punk, Techno, HipHop, Hardcore, Hooligans, Skinheads und andere lebendige Szenen, Kulturen und Subkulturen blühen – je nach Geschmack, Style, politischer und musikalischer Orientierung für jeden etwas. Land bedeutet Saufen, Schützen- und Karnevalsvereine, Trachtenkapellen, Frei.Wild-Fans und Fußball, den gibt’s überall. Aber richtige Szenen? Aus zwei Punks im Dorf wird bestenfalls eine Skatrunde, wenn sie noch einen dritten Verrückten finden, aber niemals eine wirkliche Szene. Land in homöopathischer Dosierung genossen ist natürlich okay – so ab und an vermisst man ja doch ein wenig Natur, und frische Luft zieht auch der Großstädter mal gerne durch die Nase –, aber wirklich dort leben? Land ist das, wo man unverschuldet herkam, bevor das eigentliche Leben begann. Land bedeutet: Ich will hier raus! Die Landflucht der Jungen hat oft ganz prosaische Gründe: Universitäten findet man nun einmal in ländlichen Regionen eher selten (wenn man akzeptiert, dass Bielefeld etwa eine Stadt ist). Überhaupt die beruflichen Perspektiven, die Chance, beruflich vorwärtszukommen, geschweige denn, einen Beruf zu finden, den man wirklich Jahrzehnte ausüben möchte, sind auf dem Land eher dünn gesät. Und sich vielleicht mal eine Weile selbständig zu machen, von Projekt zu Projekt durchzuhangeln, um herauszufinden, wo man eigentlich hin will, oder zu versuchen, aus seiner Leidenschaft – etwa Musik oder Mode – einen Lebensunterhalt zu machen wie die zu den Techno-Hochzeiten der 1990er Jahre rund 20.000 Menschen, die mehr oder weniger allein in Berlin von Techno lebten – das klappt auf dem Land nun einmal nicht. Trotzdem wandern nicht alle Jungen ab. Viele, weil sie es sich schlicht nicht leisten können, weil sie nicht zu der von zu Hause gut bestückten Bildungs- und Kulturelite ihrer Region gehören, andere, weil sie es nicht wollen. Es ist ja auch nicht so, dass alle darunter leiden, dass jeder und jede im Dorf sie kennt und jeden ihrer Schritte begleiten. Dass Rollenveränderungen eigentlich nicht vorgesehen sind. Für viele übersetzt sich die engmaschige soziale Kontrolle in Landgemeinden mit sozialer Wärme, füreinander da sein, familiale Intimität statt gesichtsloser Anonymität. Wir erleben gerade eine Renaissance des Regionalpatriotismus auch unter Jugendlichen. ‚Heimatliebe‘ zu zeigen und auszuleben ist auch für viele Junge außerhalb von Bayern heute nicht mehr peinlich, nicht mehr ‚rechts‘ und ‚nationalistisch‘, sondern Teil ihrer Alltagskultur und Identitätssuche. Das Dorf als Hort der Sicherheit, als Ruhepol inmitten einer sich global immer schneller und unüberschaubarer – und vor allem unbeeinflussbar – verändernden Welt. „Hier ist die Welt noch in Ordnung.“ Ist sie das wirklich? Gelingt es Dörfern und Landgemeinden wirklich noch, die Welt draußen zu halten? Wollen sie das überhaupt, vor allem die Jungen, auch die, die gerne in ihrem Dorf und in ihrer Landgemeinde leben? Aktuelle Beobachtungen zeigen eher, dass Veränderungen, die „die Jugend“ in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat, zwar in den Städten sichtbarer zutage treten, aber auch auf dem Land stattfanden und weiter stattfinden. Freiwillige Feuerwehren, kirchliche und andere Jugendgruppen und verbände, sogar Karnevals- und Schützenvereine klagen vielerorts über Nachwuchsmangel. Traditionen erodieren. Auch Jugendliche, die gerne in Landgemeinden leben, schließen sich nicht mehr automatisch den Jugendgruppen und Vereinen ihrer Eltern und Großeltern an. Sondern sie prüfen kritisch: Was bringt MIR das, wenn ich mich dort engagiere? Sinn und Spaß, nicht Pflichtbewusstsein motivieren Jugendliche zu Engagement. Auf dem Land nicht anders als in der Stadt. Werde ich dort, wo ich mich einbringe, akzeptiert, so wie ich bin? Auch in meiner Andersartigkeit als Jugendliche/r, was Sprache, Mode, Musik u. a. Elemente meines Stils angeht? Kann ich von Anfang an nicht nur mitarbeiten, sondern auch mitbestimmen? Ist das Ziel unverrückbar festgeschrieben oder habe ich noch Einfluss darauf? Ist das Ziel überhaupt erreichbar, in einem absehbaren Zeitraum, nicht erst nach der Revolution oder für die nächste Generation? Ist der Weg zum Ziel spannend, aufregend, eine Herausforderung für mich? Wird dort nur geredet, geredet, geredet oder auch gehandelt? Sind die Menschen, mit denen ich mich engagiere, nett, cool, interessant? Kann ich mir vorstellen, mit ihnen nicht nur im Verein etc. zusammenzukommen, sondern auch ganz privat eine Party zu feiern und mehr? Finde ich bei meinem Engagement vielleicht sogar nicht nur neue Freunde, sondern auch eine feste Beziehung? Spaß und Sinn müssen eine Einheit bilden, will man Jugendliche motivieren, sich zu engagieren, sich an eine Gruppe zu binden, sei es auch nur auf Zeit. Das bedeutet: wirkliche Partizipation, die Möglichkeit eines Engagements auf Zeit, Ganzheitlichkeit (Kopf und Körper werden beansprucht), möglichst flache Hierarchien, kreative Herausforderungen, Respekt. Mit anderen Worten: Im Vergleich zwischen traditionellen Vereinen, Jugendverbänden und anderen Großorganisationen wie Kirchen oder Parteien mit ihren patriarchalen, jugendfeindlichen Strukturen, nicht zu hinterfragenden Autoritäten und sinnentleerten Alt-Männer-Ritualen und den informellen jugendkulturellen Szenen ergibt das einen eindeutigen Punktsieg für Letztere. In den Jugendkulturen fanden sich schon immer überwiegend jene zusammen, die mit den engmaschig normierten Strukturen und nicht hinterfragbaren Regeln der formellen Engagementangebote nicht klarkamen, die selbst jederzeit die Entscheidungsfreiheit behalten wollten, ob, wann, wie und mit welchen Menschen sie sich in ihrer Freizeit amüsieren und engagieren wollten. Sicher hat auch die PunkSzene „Gesetze“, doch die sind nirgendwo schriftlich fixiert, jede einzelne Punk-Clique und jede/r einzelne ihrer Angehörigen entscheidet selbst, welche Regeln er oder sie befolgen möchte und welche eben nicht; sicher gibt es Leute, deren Meinung mehr Gewicht hat als die anderer, aber die haben es sich durch langjährige Zugehörigkeit, Witz, verbale und nonverbale Schlagfertigkeit und vor allem eigenes kreatives Engagement verdient und nicht, weil sie formal gewählt oder von oben ernannt wurden (was nicht bedeutet, dass unter den Gewählten oder von oben ernannten Repräsentanten formaler Organisationen nicht auch Engagierte und Kreative sein können). Selbstverständlich prägen die (großstädtischen) Jugendkulturen auch Jugendliche auf dem Land. Wie sollte es auch anders sein, ist doch das world wide web längst die wichtigste Quelle und das größte Transportmittel zur Verbreitung von Jugendkulturen. Was für (eher) großstädtische Jugendkulturen schon immer galt, überträgt sich nun auf die Vereine und Organisationen auch in den Landgemeinden. Die Jugendlichen dort fordern dies explizit eher selten – sie stimmen eher mit den Füßen ab und bleiben den Angeboten, die sich ihnen nicht zumindest ein wenig anpassen, einfach fern. Landgemeinden und dort beheimatete Organisationen werden sich den Bedürfnissen der jugendkulturell geprägten Jugendlichen anpassen müssen, wollen sie nicht zur jugendfreien Zone werden. Das bedeutet neue Herausforderungen auch für die Jugendarbeit auf dem Lande – nicht zuletzt, damit aus dem „Ich bin dann mal weg“ vieler Jugendlicher vielleicht ein „Ich bleib erst mal hier“ wird. Klaus Farin, geboren 1958 in Gelsenkirchen, lebt seit 1980 – Punk sei Dank – in Berlin. Nach Tätigkeiten als Schülerzeitungsredakteur und Fanzine-Macher, Konzertveranstalter und -Security, Buchhändler und Journalist für Presse, Hörfunk und Fernsehen nun freier Autor sowie Lehrbeauftragter und Vortragsreisender in Schulen und Hochschulen, Jugendklubs und Justizvollzugsanstalten, Akademien und Unternehmen. Diverse Veröffentlichungen über Skinheads, Fußballfans, Neonazis, Gothics, Karl May und andere [zuletzt: Die Autonomen (2015); Frei.Wild. Südtirols konservative Antifaschisten (2015)]. Von 1998 bis 2011 war Klaus Farin Leiter des auch von ihm ins Leben gerufenen Archiv der Jugendkulturen (www.jugendkulturen.de). Heute ist er Vorsitzender der Stiftung Respekt – Die Stiftung zur Förderung von jugendkultureller Vielfalt und Toleranz, Forschung und Bildung (www.respekt-stiftung.de) und im Vorstand von Aktion Courage e. V., dem Träger des Projektes „Schule ohne Rassismus“ (www.schule-ohne-rassismus.org) sowie im Beirat der Zukunftsakademie NRW (www.zaknrw.de). Das Motto seiner Arbeit: „Wer sich auf die Realität einlässt, muss die beruhigende Eindeutigkeit aufgeben.“ Kontakt: Respekt! – Die Stiftung, Fidicinstraße 3, 10965 Berlin; E-Mail: [email protected]; Homepage: http://klausfarin.de/.
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