Düsseldorfer Terrassengespräch: Wir sind gedopt

Düsseldorfer Terrassengespräch:
Wir sind gedopt
Düsseldorf, 31. Juli 2015
Düsseldorf, Handelsblatt-Haus. Einer der bekanntesten deutschen Ökonomen ist zu Besuch für ein neues
Gesprächsformat, das „Terrassengespräch". Professor Clemens Fuest redet im Vorgespräch über seinen jetzigen Job in
Mannheim als Präsident des Forschungsinstituts ZEW und über seine neue Aufgabe in München an der Spitze des Ifo
Instituts, wo er im April 2016 auf Professor Hans-Werner Sinn folgt. An diesem Abend debattiert er mit Professor Bert
Rürup, einst neun Jahre lang Wirtschaftsweiser und heute Präsident des Handelsblatt Research Institutes. Es regnet
stark an diesem Abend, und so wird aus dem geplanten Gespräch auf der Dachterrasse ein Talk im Foyer.
Handelsblatt: Meine Herren, Europa ist anscheinend stärker, als man es in den letzten Wochen mitbekommen
hat. So fusionieren jetzt im Rüstungssektor mit Nexter und KMW ein französisches und ein deutsches
Unternehmen. Brauchen wir überhaupt so etwas Radikales wie den Grexit, den Ausstieg Griechenlands aus der
Euro-Zone, Herr Fuest?
Clemens Fuest: Ja. Einst hatte ich die Hoffnung, dass man das vermeiden kann. Heute bin ich der Meinung: Es wäre
aus wirtschaftlicher Sicht der bessere Weg. Aus dem einfachen Grund, dass das Land im Euro nur eine Chance hat,
wenn es sich entschlossen reformiert. Und wenn es sich den Preisen anpasst. Bis ins vorige Jahr war das aussichtsreich.
Nun ist in den ersten sechs Monaten die Wirtschaft so an die Wand gefahren worden, dass es nicht ohne hohen Schaden
für die Gläubiger klappt, das Land im Euro zu halten. Man könnte es aus meiner Sicht noch schaffen - wenn man eine
Regierung hätte, die Reformen durchführen würde.
Genau darüber wird derzeit geredet - über ein Reformprogramm.
Fuest: Genau, aber die Reformen werden ja nicht umgesetzt. Das Vertrauen ist nicht da, also wird man nicht viel
investieren. Man wird dem Land zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben geben. Deshalb gibt es aus meiner Sicht für
Griechenland keine gute Zukunft in der Euro-Zone.
Bert Rürup: Einen Grexit macht man, man redet nicht darüber. Je länger man darüber redet, desto mehr sind potenzielle
Investoren verunsichert. Solange die Grexit-Debatte läuft, solange wird kein Mensch dort investieren. Und insofern ist
es ziemlich unsinnig, wenn man beschlossen hat, keinen Grexit zu machen, es aber immer noch als realpolitische
Option hinzustellen. Die Grexit-Option würde sogar verhindern, dass ein Sanierungsprogramm Griechenlands innerhalb
der Währungsgemeinschaft Erfolg haben könnte. Deshalb halte ich das für unverantwortlich. Und so richtig weiß ja
kein Ökonom, ob der Grexit wirklich die bessere Lösung ist.
Wissen Sie es, Herr Fuest?
Fuest: Ich weiß es auch nicht. Aber ich glaube, das, was Sie sagen, ist etwas Europa-Typisches. Wir müssen so tun als
ob. Wir wissen selbstverständlich alle, dass der Grexit auf dem Tisch bleibt. Weil infrage steht, ob die Reformen
durchgeführt werden. Das ist ein Faktum. Da liegt ein Grund, warum dieses Land sich nicht entwickeln wird. Es hilft
nur nichts. Man wird aber auch nicht die Schulden erlassen, weil das bei den Gläubiger-Staaten nicht umsetzbar ist.
Rürup: Wir reden öffentlich, als ob eine Umschuldung substanziell etwas anderes wäre als ein Schuldenschnitt.
Natürlich ist eine Umschuldung ein Schuldenschnitt. Wenn ich die Laufzeit verlängere und die Zinsen verkürze, habe
ich doch denselben Effekt.
Zinsen, die im Fall Griechenland schon sehr tief sind. Und Laufzeiten, die schon sehr lang sind.
Fuest: Klar, wir hatten zwei Schuldenschnitte. Wir machen schon einmal einen dritten, aber das wird nicht reichen.
Also Sie sagen, Griechenland müsste raus aus dem Euro-System. Und was ist Ihre Haltung dazu, Herr Rürup?
Rürup: Ich sage, man sollte Griechenland nicht herausdrängen. Vor allen Dingen jetzt nicht. Man kann ein Land nicht
mit starken Mitteln zwingen, ein Reformprogramm durchzuziehen und dann sagen: 2Du musst dann doch raus." Das ist
keine wirklich überzeugende Position. Wenn man die internationale Presse verfolgt, ist man doch ein bisschen
schockiert über Deutschland. Finanzminister Wolfgang Schäuble ist gegenwärtig der Superstar....
...in Deutschland meinen Sie.
Rürup: Ja. Weil er sich von einem früheren Verantwortungsethiker, der alles dem Ziel gemeinsames Europa und
Vergrößerung der Euro-Zone untergeordnet hat, zu einem Gesinnungsethiker gewandelt hat, indem er bestimmte
Prinzipien vorne anstellt. Die Enttäuschung bei den anderen resultiert daraus, dass dies die erste von Deutschland
geprägte Entscheidung war, bei der nicht mehr Europa rauskam, sondern weniger.
Fuest: Das ist ja auch gut so. Auch unter Freunden kann man auf Dauer, wenn Konflikte da sind, nicht so tun, als gäbe
es sie nicht. Ich fand, das hatte eine therapeutische Qualität. Wenn man sagt, lasst uns mal über den großen Elefanten
im Raum reden, dann hat dies ja auch Wirkung. Das ist jetzt in der Welt und wird nicht mehr weggehen. Es haben sich
alle furchtbar aufgeregt. Das ist ja immer so, wenn man Tabus bricht.
Rürup: Die Euro-Zone hat eine andere Qualität bekommen als vorher. Das Prinzip von Europa ist der gesichtswahrende
Grundsatz gewesen. Und der ist gebrochen worden, einmal vom Auftreten Griechenlands - und jetzt noch einmal durch
die Handlungsweise der Deutschen. Deswegen glaube ich, dass mehr als nur Griechenland beschädigt ist.
Sie meinen damit den Grundgedanken der gemeinsamen Währung?
Rürup: Natürlich war der Euro eine ökonomische Fehlkonstruktion, aber er lebte nur, weil dieses Prinzip galt. Jetzt hat
man dieses Prinzip demontiert, und deshalb ist die Gefahr eines Auseinanderbrechens sehr viel größer. Ich war 1992
einer der 62 Ökonomen, die gegen den Euro geschrieben haben, aus allen damals schon bekannten ökonomischen
Gründen. Den 1998er-Aufruf von 155 Ökonomen habe ich nicht unterschrieben. Weil mir klar war, die ökonomische
Perspektive greift viel zu kurz.
Professor Fuest wiederum selbst hat 1993 die "Bail-out"-Klausel in den Maastrichter Verträgen kritisiert - also
die Notfallklausel, dass Staaten, wenn sie verschuldet sind, von anderen nicht gerettet werden dürfen. Das
funktioniere politisch nicht, schrieb er. Jetzt rät er den Deutschen zu einem europäischen Soli, also eine Art
Zusatzsteuer für Europa. Ist das als didaktische Maßnahme zu verstehen?
Fuest: Ja genau. Das war eine Art Weckruf. Weil mich eben all diese Lügerei stört. Ich habe ja nur gefordert, wenn das
nächste Griechenland-Programm kommt, es als Transferprogramm einzuordnen. Es ist kein Kreditprogramm. Wenn
jemand schon überschuldet ist und man gibt ihm noch einen Kredit, dann ist das ein Geschenk. In der Tat will man das
als Laufzeitverlängerung verpacken.
Rürup: Als akademisches Instrument ist das schon ganz gut, aber Sie haben vorher die Abschaffung des Soli gefordert.
Das ist ein bisschen schwierig.
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Ist das der Einstieg in die Transferunion, die viele Bürger befürchten?
Rürup: Die Europäische Union war von Anfang an eine Transferunion. Wir haben hier ein Umverteilungsvolumen von
140 Milliarden Euro. Das ist das Prinzip der EU. Dass man nun auf solch eine EU eine EWU, eine Europäische
Währungsunion, setzt, die keinerlei solidarische Ausgleichselemente haben darf, ist ein Konstruktionsfehler. Natürlich
ist die Euro-Zone inzwischen auch eine Art Transferunion. Nur: Wir brauchen eine Instanz, die in diesem Bereich
intervenieren kann.
Fuest: Da ist die Frage, was Umverteilung ist. Der Internationale Währungsfonds, der Griechenland ebenfalls Geld
geliehen hat, verteilt nichts um und er erlässt auch keine Schulden. In Griechenland reden wir über ein lange
andauerndes Transferprogramm. Die Frage ist: Wer hat das Recht, das zu entscheiden? Mario Draghi, der Präsident der
Europäischen Zentralbank, hat es nicht. Wir haben das Problem, dass wir in eine Transferunion reinschlittern,
organisiert durch die EZB.
Damit spielen Sie auf die laufenden Liquiditätshilfen für die griechischen Banken an, das Ela-System. Würden
Sie sagen: Das ist Insolvenzverschleppung, was im Zusammenspiel mit der EZB in Frankfurt passiert?
Fuest: Ja, das scheint mir ziemlich klar zu sein. Die Ela ist eine Maßnahme der Liquiditätsstützung. Die Grundidee war:
Es gibt eine einzelne Bank, die ist solvent und die aus irgendeinem Grund gerade keine Liquidität bekommt - und dann
springt die EZB ein, vielleicht mit zwei Milliarden Euro. Jetzt sind wir in Griechenland bei 90 Milliarden Euro. Die
Banken sind eigentlich insolvent, die finanzieren den griechischen Staat, das ist Insolvenzverschleppung. Das ist ein
Bruch aller Regeln, die wir haben.
Rürup: Den Begriff „Insolvenzverschleppung" akzeptiere ich sogar. Aber Herr Draghi sagt, die Frage des
Zusammenhalts der Euro-Zone sei eine Aufgabe der Regierungschefs. Und jetzt verlangen Sie, Herr Fuest, dass er diese
Entscheidungskompetenz übergeht und den Geldhahn zudreht. Dadurch politisieren Sie doch gerade die EZB! Sie hat
nicht zu entscheiden, wie es mit der Euro-Zone weitergehen soll.
Fuest: Das Problem ist etwas anders gelagert. Sie sind in einem Verhandlungsspiel immer der Verlierer, wenn Sie sehr
mächtig sind. Die EZB hat enorme Macht, diese Institution kann jeden finanzieren. Und so jemand ist andererseits eben
immer ungeheuer schwach. Trotzdem hätte Draghi viel mehr Druck ausüben können.
Klaus Regling, der Chef des europäischen Rettungsfonds ESM, sagt, viele griechische Banken seien
systemrelevant. Wenn die zusammenfallen, gäbe es schwerste Erschütterungen im europäischen Bankensystem.
Fuest: So weit muss man gar nicht gehen. Die EZB hätte schon vor Monaten machen sollen, was sie jetzt gemacht hat den Zufluss einfach mal deckeln. Aber die haben ja den Ministerpräsidenten Alexis Tsipras erst stark gemacht, indem
sie ihm immer größere Kredite gegeben haben. Das hätten sie nicht tun dürfen.
Deutschland kommt aus Sicht der europäischen Partner als Supermacht daher, die vom Euro profitiert. Wird
das so bleiben? Oder wird es möglicherweise bedingt durch die Griechenland-Krise einen Negativ-Effekt geben?
Fuest: Ich glaube, da gibt es zwei Missverständnisse. Erstens ist Deutschland keine Supermacht, sondern ein
mittelgroßes Land. Es ist die größte Volkswirtschaft Europas, aber man kann nicht sagen, dass Deutschland vom Euro
profitiert. Das stimmt einfach nicht. Der Gewinn der Bundesbank war früher viel höher, als es die D-Mark gab. Das
Geld ist jetzt weg. Unser Wirtschaftsmodell soll ja angeblich sein: Wir exportieren, geben Kredite dazu und schreiben
die dann später ab. Das ist irgendwie eine Idee, die ich weiß nicht woher kommt. Aber Deutschland ist nicht der EuroGewinner. Das ist ein Mythos. Wir sind nicht am stärksten gewachsen, die Investitionen waren schwach, die
Arbeitslosigkeit war hoch. Das ist ein Märchen.
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Entschuldigung, aber wenn die EZB den Euro-Kurs politisch nach unten schleust, dann nutzt das doch der
starken deutschen Exportwirtschaft am meisten. Ihre Produkte werden immer billiger, der Exportüberschuss
wächst.
Fuest: Aber die Importe sind mit den Exporten gewachsen.
Rürup: Der große Gewinner der Euro-Einführung waren natürlich die südeuropäischen Staaten. Das Zinsniveau ist
dramatisch runtergeschleust worden. Das hat dazu geführt, dass sich einige Staaten modernisiert haben, andere wie
Spanien haben Immobilienblasen aufgebaut. Aber der niedrige Euro-Kurs hilft aktuell natürlich den deutschen
exportstarken Firmen.
Fuest: Es geht für die Zukunft doch um ganz andere Fragen. Ist es klug, wenn Deutschland die Euro-Zone in die Luft
sprengt? Nein, aus vielen Gründen. Wie schöpfen wir die Potenziale aus? So, wie wir sie jetzt organisieren, bestimmt
nicht.
Sie kommen jetzt zu dem Problem, wie wir die Euro-Zone institutionell besser organisieren können, zum
Beispiel durch ein zentrales Euro-Finanzministerium mit eigenem Budget in Brüssel.
Fuest: Es gibt zwei Modelle. Das eine sieht eine Föderation vor, einen Bundesstaat mit ganz starker Verlagerung von
politischer Macht nach Brüssel. Wenn man das tut, dann kann man in der Tat eine Art Kommandowirtschaft errichten.
Die französische Nationalversammlung sagt dann beispielsweise, wir wollen den oder den Haushalt, und Brüssel sagt
dann „Nein". Das schwebt vielen Leuten vor. Ich halte das für eine Illusion. Für mich ist die eigentliche Frage: Gibt es
eine Euro-Zone, die anders aufgestellt ist? In der nationale Parlamente weiter souverän bleiben?
Und, Ihre Antwort?
Fuest: Ich glaube es gibt eine solche Lösung, es muss aber etwas Neues sein. Es muss sich um eine Einrichtung
handeln, die viel flexibler ist. Das Insolvenzrecht für Staaten ist aus meiner Sicht ein ebenso wichtiges Instrument wie
eine europäische Arbeitslosenversicherung - allerdings mit einer Direktive kombiniert, die für mehr Flexibilität auf dem
Arbeitsmarkt sorgt. Wir müssen viel flexiblere Arbeitsmärkte haben als die USA und Großbritannien, weil wir eine
Währungsunion sind. Diese Realität muss man einfach mal wahrnehmen in Europa. Dann kann das ein Erfolg werden.
Rürup: Ja, ich würde den Weg einer Bankenunion gehen. Es ist nicht das zentrale Problem, dass Staaten pleitegehen
können. Das zentrale Problem ist, wenn Banken drohen, pleitezugehen und Staaten sie retten müssen. Deshalb müssen
wir diesen Mechanismus nehmen.
Fuest: Eine Bankenunion allein reicht eben nicht.
Rürup: Sie reicht nicht, aber sie ist ein substanzieller Schritt nach vorn.
Fuest: Gut. Sie muss allerdings auch, damit sie funktioniert, eine Sicherung für Bankeneinlagen haben.
Die Bundesbank hat sich in ihrem jüngsten Monatsbericht mit der Lage in den Schwellenländern und dem
verlangsamten Wachstum dort beschäftigt. Insbesondere in China sieht sie bedenkliche Entwicklungen und zu
wenig Produktivität. Welche Auswirkungen hat der chinesische Abschwung auf die deutsche Volkswirtschaft
und deren Wachstum?
Fuest: China ist sehr wichtig. Vor zwanzig Jahren war es noch so, dass das Schwellenländerwachstum stark mit dem
US-Wachstum korrelierte. In den letzten zehn Jahren hat sich das umgedreht - es hängt jetzt sehr stark am chinesischen
Wachstum. China hat eine Investitionsquote von fast 50 Prozent und wächst mit sieben oder acht Prozent. Das Land
müsste aber viel schneller wachsen. Das heißt, es gibt gigantische Fehlinvestitionen. Und die entscheidende Frage ist:
Sind die Chinesen in der Lage, das aufzufangen? Sie haben natürlich keine Auslandsverschuldung, die können das
Problem eventuell managen. Aber gelingt ihnen das? Ich bin skeptisch. Wenn es ihnen nicht gelingt, wird es für uns
sehr gefährlich.
Rürup: Das sehe ich ähnlich. Das große Problem kommt in fünf bis zehn Jahren. Gegenwärtig läuft Deutschland gut,
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aber etwa im Jahr 2020 ist die demografische Schönwetter-Phase vorbei. Wenn das China-Problem zu einer Zeit
kommt, in der auch noch unsere Exportwerte wegbrechen, dann werden wir in der Tat massive Schwierigkeiten haben.
Zurzeit surft die deutsche Politik auf einer Wohlfühlwelle - das heißt, sie wird immer kurzfristiger. Gegenwärtig geht es
uns gut, aber das wird bald zu Ende sein.
Was sind Ihre Folgerungen?
Rürup: Sicher, China ist unglaublich wichtig. Was wir aber immer übersehen: Von deutschen Exporten gehen zwar 6,4
Prozent nach China, aber nach Österreich immerhin 4,6 Prozent. Das heißt, man unterschätzt stets, wie groß die
Bedeutung der Euro-Länder ist. Deswegen ist es gerade auch im deutschen Interesse, dass sich die Euro-Zone halten
wird. Und deswegen wird uns dieses Zerbröseln nicht heute, aber 2020 auf die Füße fallen.
Fuest: Wenn es in China eine Krise geben sollte, dann werden wir das schnell merken. Zwar gehen nur sechs Prozent
direkt nach China, aber es gibt viele indirekte Verbindungen. Eine schwere Krise in der Volksrepublik führt zu großen
Problemen bei uns. Aber ich bin eigentlich Optimist. Und ich glaube, wir werden damit fertig. Und auch mit
Griechenland.
Wie wird es Deutschland ergehen, wenn die Automobilindustrie den Anschluss an die digitale Welt verliert?
Wenn also Tesla mit E-Autos oder Google mit selbstfahrenden Autos Erfolg hat?
Fuest: Klar ist, wir haben ein Klumpenrisiko in der Autoindustrie. Ich habe jedoch großes Vertrauen in BMW und die
anderen, die sind schon anpassungsfähig. Aber wenn es mal nicht mehr so läuft, und China ist ein großer Markt, dann
haben wir ein echtes Problem.
Rürup: Die deutsche Automobilindustrie verkauft ja nicht nur Mobilität. Sie verkauft nicht zuletzt Status. Bei den
Amerikanern sind die Waffen das Potenzmittel - bei uns sind das die PS-starken Autos. Wenn es demnächst das
selbstfahrende Auto gibt, wird das Fahrvergnügen sekundär. Je mehr das Auto zu einem Mobilitätsinstrument wird,
desto problematischer wird es für unsere im Premiumsegment erfolgreiche deutsche Autoindustrie. Ich habe schon drei
Untergänge der Automobilwirtschaft miterlebt. Sie hat es schon dreimal geschafft, an die Weltspitze zurückzukommen.
Aber das ist eine wirkliche Herausforderung.
Welche Auswirkung hat die Politik von Kreml-Chef Wladimir Putin auf Deutschland? Ist die Verstimmung in
der Ostpolitik nicht gravierender als das griechische Problem?
Rürup: Das Problem ist deutlich größer, weil auch das geopolitische Gewicht ein anderes ist. Das heißt, aus einem
Konflikt zu Russland kann eine geopolitische Krise entstehen. Wenn die sich verschärft, haben wir ein massives
Problem. Wir dürfen die Problematik von Russland nicht auf die ökonomischen Beziehungen reduzieren. Russland
halte ich für sehr, sehr viel bedeutender als Griechenland, dessen Ökonomie ein bisschen kleiner ist als die des
Bundeslandes Hessen. Das darf man nicht vergessen.
Wie wird das Jahr 2016 für die deutsche Wirtschaft? Bleibt es beim Boom, so wie er zu beobachten ist?
Fuest: Meines Erachtens wird sich der Boom sogar noch verstärken. Wir sind durch niedrigen Euro, billiges Geld und
Unsicherheit im Rest Europas gedopt. Und das läuft ein Jahr, zwei Jahre bestimmt noch weiter.
Rürup: Das wird noch bis zur nächsten Bundestagswahl halten.
Die Wiederwahl von Angela Merkel ist also gesichert?
Rürup: Die Wirtschaft wird auch 2017 in guter Form sein.
Müsste man bei der Aufnahme von weiteren Ländern in die EU erst einmal auf Pause drücken? 28 Staaten sind
schon schwer zu koordinieren.
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Rürup: Ich glaube, die Erweiterung ist nicht das große Problem. Die Staaten, die wir lange nach Griechenland
aufgenommen haben, Estland, Lettland, Litauen, sind absolute Musterökonomien. Staaten, die den Kurs von
Finanzminister Wolfgang Schäuble beinhart verteidigt haben. Ich würde das vom Staat abhängig machen, und nicht von
der Erweiterung apriori.
Fuest: Da gibt es gewisse Anforderungen. Wenn die Kandidaten die erfüllen, können sie gerne kommen. Gerade die
EU-Erweiterung ist wirklich kein sehr großes Problem.
Es wird auch von einem Brexit geredet, vom Auszug Großbritanniens aus der EU. Andererseits gibt es ebenfalls
die Idee, dass Deutschland die Euro-Zone verlässt und damit die Probleme gelöst werden. Was halten Sie von
solchen Vorschlägen?
Fuest: Deutschland ist mitten in Europa und wir haben einfach ganz massive Interessen an der EU. Anders als die
Briten, die können es sich viel besser leisten, auszutreten. Deshalb ist ein Austritt aus der Währungsunion für
Deutschland keine Frage. Ich glaube aber auch nicht, dass die Briten das machen. Im Moment sind 65 Prozent gegen
einen Austritt. Ehrlich gesagt, ist es auch nicht so wichtig, ob die Briten austreten. Die wollen ja eine Freihandelszone
mit den USA - und wenn sie nicht mehr in der EU sind, können sie dann in dieser Frage nicht mehr mitreden.
Rürup: Wenn in Großbritannien abgestimmt wird, ist das Ergebnis immer überraschend vernünftig. Je eher diese Frage
gestellt wird, desto besser. Denn je eher wissen wir, dass Großbritannien in der EU bleiben wird.
Wie weit kann man sich in Zukunft auf vereinbarte Regeln in der Euro-Zone noch verlassen?
Fuest: Es ist nicht so ganz klar, was die Regeln genau bestimmen. Viele sind auslegungsfähig. Die „Bail-out"-Regel ist
ja so ausgelegt worden, dass man zwar nicht für einen anderen Staat haftet, es aber nicht verboten ist, einem Staat
Kredite zu geben. Das sind erstaunliche Auslegungen von Regeln. Ich glaube, die Regeln werden gebeugt. Und das
wird so weitergehen und sich verstärken. Das ist ein großes Integrationshindernis. Das untergräbt das Vertrauen in die
Zukunft und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Das die größte Bedrohung für die Euro-Zone.
Rürup: Wir hatten einmal einen einfachen Stabilitätspakt. Der ist jetzt übermodifiziert worden, den versteht keiner. Sie
können alles herauslesen.
Was heißt das konkret?
Rürup: Man muss sehen, dass es zwei Politik-Stile in Europa gibt: den deutschen und den romanischen. Wir Deutschen
lieben Regeln. Wir machen für möglichst viele Fälle Regeln, ein Franzose bekommt Pickel, wenn er das Wort Regel
hört. Dort gilt das Primat des Politischen. Wenn wir einmal die Geschichte der EU und der Währungsunion betrachten,
sind alle Verträge immer ein Kompromiss zwischen deutscher Regelorientierung und französischem Elan. Und das
muss nicht das Schlechteste sein. Regelbindungen sind aber nur gut, solange die Bedingungen, unter denen sie
konstruiert wurden, im Anwendungsfall gelten. Das ist nicht immer der Fall. Deswegen ist diese Mischung nicht das
Schlechteste. Ein deutsches Europa wird es nicht geben. Wenn Sie das nicht akzeptieren, diese Mischung aus
Regelorientierung und einem Teil situativer Auslegung, können Sie Europa vergessen. Denn das ist genau der Geist von
Europa.
Regelwerk plus politische Handlung, ist das der Geist von Europa?
Fuest: Ich glaube, dass der Geist von Europa die Verträge sind. Auch in Frankreich setzt man übrigens auf das Recht.
Wir haben uns in Europa Regeln gegeben, die wir nicht einhalten wollen. Wir waren nicht richtig vorbereitet auf das,
was uns da erwartet hat. Und um sich darauf vorzubereiten, muss man eine gewisse unangenehme Wahrheit
akzeptieren. Und darin ist weder die französische, noch die deutsche Politik gut. Das ist meine Sorge - dieses "pretend",
also dieses So-tun-als-ob. Eigentlich ist der Geist Europas aufklärerisch. Die europäische Tradition ist weniger auf
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Herrschaft und Wahrheit manipulieren konzentriert, als die vieler anderer Kulturen. Trotzdem haben wir dieses
Problem. Ich würde mir wünschen, dass wir ein bisschen mehr auf Regeln setzen.
Moderation: Hans-Jürgen Jakobs, Dokumentation: Kathrin Witsch.
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